Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • D'accord, damit kann ich leben, mir hat Baldwins Klavierpart als Partner von Gèrard Souzay in Schuberts "Schöner Müllerin" auch ganz ausgezeichnet gefallen. Wie er die Winterreise spielt, weiß ich nicht, da ich mich nach einigen Hörproben entschlossen habe, die Winterreise mit Souzay nicht zu kaufen, da mir seine Interpretation der Winterreise nicht dem Anspruch des Textes angemessen schien.
    Und um eine Winterreise wirklich gut zu finden, müssen m.E. schon beide Künstler eine Leistung auf Top-Niveau abliefern. So gut, wie mir Souzay mit seiner Werkauffassung der Schönen Müllerin gefallen hat, war das eben bei der Winterreise nicht der Fall.
    Deswegen habe ich da das Duo Bär/Parssons gewählt, da mir da die Voraussetzungen zutreffend schienen, auch weil ich Parssons als Partner Thomas Hampsons schon kannte und Moore sowieso.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo Willi,


    hier die Liste:


    Winterreise - GA


    Thomas Hampson, Wolfgang Sawallisch
    FiDi, Gerald, Moore
    Andreas Schmidt, Rudolf Jansen
    Hans Hotter, Gerald Moore
    Hermann Prey, Karl Engel
    Eberhard Büchner, Norman Shetler
    FiDi, Daniel Barenboim
    Peter Anders, G. Weissenborn
    Robert Holl, Konrad Richter
    Hermann Prey, Philippe Bianconi
    Hermann Prey, Wolfgang Sawallisch
    FiDi, Murray Perahia


    Christa Ludwig, James Levine
    Bernd Weikl, Helmut Deutsch
    FiDi, Jörg Demus
    FiDi, Gerald Moore
    Hermann Prey, Gerald Moore
    Olaf Bär, GeoffreyParsons
    Wolfgang Holzmair, I. Cooper
    Gerard Souzay, Baldwin Dalton
    Robert Holl, Naum Grubert
    Siegfried Lorenz, Norman Shetler
    Christoph Pregardien, Andreas Staier
    Hans-P. Blochwitz, Hans Zender
    Matthias Goerne, G. Johnson
    Jan-Hendrik Rootering, H. Lechler
    Josef Greindl, Hertha Klust
    Hans Hotter, Michael Raucheisen
    Kurt Moll, CordGarben
    Peter Anders, M. Raucheisen Myto
    Peter Anders, M. Raucheisen DGG
    Thomas Quasthoff, Charles Spencer
    FiDi, Ian Bostridge, Graham Johnson
    Peter Pears, Benjamin Britten
    Christoph Pregardien, Hans Zender
    Hermann Prey, Irwin Gage
    Peter Anders, Günter Weissenborn ,Gebhardt
    FiDi, Alfred, Brendel
    Dietrich Henschel, Irwin Gage
    Prey, Hermann, SWR
    Olaf Bär, Geoffrey Parsons
    FiDi, Gerald Moore
    Matthias Goerne, Alfred Brendel
    Gerhaher, Huber
    Christian Elsner
    Julius Patzak, Michael Raucheisen
    Christine Schäfer, Eric Schneider
    Christoph Pregardien, normand forget
    Florian Prey, Rico Gulda
    Ridderbusch, Karl
    Hollweg, Werner
    Güra, Werner. Chr. Berner
    Scot Weir, Folkwang Gitarren Duo
    Michael Volle, Urs Liska



    LG, Bernward 5.56 Uhr mogens gerne


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • .


    Eine wirklich beeindruckende Liste, lieber Bernward!


    Ich selbst rechne mich bei der Winterreise noch immer zu den Höranfängern - Fischer-Dieskau konnte ich Anfang der neunziger noch live erleben.


    Im Player habe ich gerade zum ersten Mal diese Aufnahme:


    Franz Schubert (1797-1828 )
    Winterreise D. 911


    Künstler: Laszlo Polgar, Jan Schultz
    Label: Hun , DDD, 97


    LG, Elisabeth

  • Liebe Elisabeth,


    ich war bei der Winterreise nur dreimal live dabei:


    Fischer-Dieskau und Jörg Demus Opernhaus Hannover Vormittagsmatinee
    Herman Prey im Stadeum in Stade
    Dietrich Henschel Kleiner Sendesaal Hannover


    Im Opernhaus saß ich in der ersten Reihe mit Partitur von Schott - Herausgeber Dieskau - sollte die anderen
    beeindrucken. War aber völliger Quatsch. Beim Umdrehen der Blätter haben die mich schief angesehen. Nach Ende
    des Vortrages, Dieskaus Hemdkragen war durchgeschwitzt, Totenstille. Urplötzlich ein Jubel. Standing Ovationen
    wie ich es im Hannoverschen Opernhaus nie erlebt habe. Leider keine Autogramme. Bis heute unvergessen! Live ist life.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Bernwards Liste ist wirklich beeindruckend, wie Elisabeth feststellt.


    Man hat es ja im Grunde immer gewusst, dass die Winterreise eine magische Anziehungskraft auf Liedinterpreten hat und haben muss, und ist dann doch verblüfft, wenn man´s vor Augen hat.


    Allerdings wirft eine solche Liste auch einige Fragen auf.


    Man kann verstehen, dass die Winterreise für einen Sänger eine Herausforderung darstellt, - ähnlich wie etwa die Hammerklaviersonate für einen Pianisten. Fischer-Dieskau hat, wenn ich es richtig sehe, das Werk elf Mal eingesungen, und er hat einmal bekannt, dass er jedes Mal Neues darin entdeckt hätte. Ähnlich hat sich Alfred Brendel über seine Aufnahmen der Beethoven-Klaviersonaten geäußert.


    Für mich als Hörer stellt sich allerdings die Frage, ob dieses "Neue" so gravierend ist, dass ich diese Neu-Interpretation wirklich brauche. Die Aufnahmen von Fischer-Dieskau kenne ich alle, greife aber, wenn ich ein bestimmtes Lied noch einmal hören will, regelmäßig zur Aufnahme mit Alfred Brendel. Das genügt mir. Im Traum käme ich nicht auf die Idee, die fünfzig Aufnahmen der Winterreise, die mir meine Datei auf dem Bildschirm als mir gehörig eben angezeigt hat, auch nur ausschnittsweise anzuhören.


    Wozu? Um zu hören, dass der eine "Die Post" ein wenig flotter singt als der andere, und dass der dritte Interpret den Gegensatz zwischen der ersten und der zweiten Strophe im "Frühlingstraum" krasser herausarbeitet als der vierte? Um diesen Gegensatz weiß ich doch! Muss ich das, schärfer oder weniger markant herausgearbeitet, noch einmal extra hören?

  • Lieber Helmut Hofmann,


    natürlich muss ich dazu etwas posten, denn meine Winterreise-Liste ist länger ...
    Wir haben diese Sammelleidenschaft schon einmal besprochen - Wenn man gründlich darüber nachdenkt, ist im Prinzip ist Deine Ansicht richtig!

  • Da erhebt sich aber für mich die Frage, wozu man sich dann 50 oder mehr "Winterreisen" in den CD-Schrank stellt. Ich besitze privat eine einzige und kenne eine weitere aus der CD-Sammlung meiner Schule (mit José van Dam, die übrigens in der "großen" Liste nicht aufgeführt ist), und wenn ich diese beiden miteinander vergleiche, weiß ich, dass ich mit meiner privaten Aufnahme (FiDi die erste oder zweite, weiß ich jetzt nicht genau) sehr gut leben kann. Also warum noch mehr kaufen, wenn ich sowieso keine Motivation (und vor allem Zeit!!) habe, großartige Interpretationsvergleiche anzustellen? Zumal meine "Lagerkapazität" einigermaßen beschränkt ist und eine Ansammlung einer solchen Anzahl allein eines einzigen Werks den Familienfrieden erheblich stören würde (schließlich besitze ich ja noch ein paar hundert andere Werke)...
    Nix für ungut, der harry

  • Lieber harry,


    die Erklärung dafür, warum ein Mensch mehr als 50 Winterreise-Aufnahmen in seinem Schrank stehen hat, obwohl er doch der Meinung ist, dass einige wenige genügen, ist ganz einfach: Wenn man, wie ich, sich weit über vierzig Jahre lang mit dem Lied beschäftigt, sammelt sich so etwas einfach an, ohne dass man das gezielt anstrebt.


    Ich bin, wie Du oben sehen kannst, absolut kein Freund solcher endlosen Vergleiche zwischen diesem oder jenem Sänger, möchte Dir aber darin widersprechen, dass man mit einer einzigen oder auch zwei Aufnahmen der Winterreise auskommen kann. Dieses Werk ist so großartig und so reich an Möglichkeiten der Interpretation, dass man schon die Erfahrung machen kann, dass man, weil man den "falschen" Interpreten erwischte, bestimmte "Töne" eines Liedes gar nicht gehört hat. Will sagen: das, was es zu sagen hat.


    Man kann die Winterreise als Interpret sehr "sachlich", ja sogar "kühl" singen, man kann aber auch sehr viel Gefühl in die Interpretation legen bis zu dem Extrem der Larmoyanz. Man kann sie auch in unterschiedlichem Tempo singen, siehe als Extrembeispiel René Kollo. In all diesen Fällen offenbart die Winterreise ganz spezifische Seiten dessen, was Schubert mit seinem Werk aussagen wollte.


    Ich habe das selbst einmal am eigenen Leibe erlebt, als ich zu Beginn meiner Ehe einen regelrechten Streit mit meiner Frau ausgefochten habe, ob denn Hermann Prey die Winterreise besser singe als Dietrich Fischer-Dieskau. Ich war war damals noch ein Anfänger in Sachen Liedverständnis und kämpfte in voller Überzeugung für meinen Favoriten Hermann Prey, weil da mehr mitfühlendes und mitleidendes Singen zu hören war.


    Dass die Winterreise ihre Großartigkeit und die Fülle ihrer Aussagen eher preisgibt, wenn sie mit der distanzierten, genauestens die musikalische Faktur beachtenden "Sachlichkeit" eines Fischer-Dieskau gesungen wird, das habe ich erst einige Jahre später begriffen.


    ( Ich glaube, Liedfreund hart wird an diesem "Geständnis" seine Freude haben. )

  • ( Ich glaube, Liedfreund hart wird an diesem "Geständnis" seine Freude haben. )


    Es ist doch gut so, wenn man eine gefestigte Meinung hat (die ja einmal unter irgendwelchen Umständen "erarbeitet" wurde). Aber man muss sich dann nicht unbedingt lebenslang daran festbeißen. Ich könnte einige Beispiele nennen, aber in diesem Thread geht es ja um die Winterreise und die Vielfalt der Interpretationen.


    Als "Winterreise-Spezialist" war ich vor Jahren hochinteressiert, als Zenders komponierte Interpretation auftauchte. Hörte mich in die CD´s von Hans Peter Blochwitz und Christoph Prégardien ein, danach lauschte ich dem Werk im Konzertsaal.


    Dieser Tage hörte ich nun "Das Wirtshaus" - zufällig, aus dem Zusammenhang gerissen, in der Zender-Fassung - für mich war in diesem Augenblick völlig klar, dass es des Getöses nicht bedarf und hörte mir zur Bestätigung Goernes " Wirtshaus" an, mit Klavierbegleitung ...

  • Lieber hart,


    es bilden sich im Laufe eines Lebens gewisse Grundhaltungen in bezug auf das Lied heraus. Sie sind gewachsen, heißt: sie sind das Ergebnis langer Hörerfahrungen (im Konzertsaal und vom Tonträger) und des Nachendenkens darüber. Mit "Festbeißen" hat das nichts zu tun, auch nichts - wie bei mir naheliegend sein könnte - mit der Gefährdung durch Altersstarrsinn.


    In Sachen Lied bin ich ein Purist. Jede Form von Experimenten damit - Orchestrierungen, Einsatz anderer Instrumente als das Klavier und was es sonst noch so alles gibt- lehne ich ab. Ich bin überzeugt, gute Gründe dafür zu haben.


    Was Zender und die Winterreise betrifft: Ich habe die Doppel-CD bei mir herumstehen. Allerdings kenne ich nur zehn Minuten davon. Danach habe ich abgeschaltet, - aus den genannten Gründen.


    Nachher werde ich mich aber dem von Dir beschriebenen Experiment unterziehen. Ich werde "Das Wirtshaus " hören, bei Zender und in der Interpretation von Goerne. Morgen werde ich Bericht erstatten.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Liebe Freunde,


    ich mach hier mal den Advocatus diaboli. Das ganze hab ich vor Wochen, kurz nach dem Absturz, als ein Posting nicht mehr möglich war, abgespeichert. Den genauen Bezug (Stichwort Larmoyanz) finde ich auf die Schnelle nicht mehr - Bitte um Pardon.


    Larmoyanz ist nicht gleichbedeutend mit Süßlichkeit, Sentimentalität, Melodramatik


    Im Fall der Winterreise beginnt sie strukturell schon dort, wo die Ursache der großen Fremdheit, das wankelmütige "Mädchen", so unterbelichtet ihr Negativ-Cliché-Dasein fristet, daß sie mehr als Projektion des in sich vergrabenen Wanderers wirkt denn als sich versagendes individuelles Du.


    Der fehlende Außenbezug täuscht auch eine Winterlandschaft mehr vor, als tatsächlich in Freie zu führen. Die Einsamkeit ist so übersteigert, daß man innerhalb der Metaphorik im Kreise läuft.


    "Da glaubt ich schon ein Greis zu sein und hab mich sehr gefreuet" - die unfreiwillige Komik z.B. dieser Verse ("Wie weit noch bis zur Bahre") wird auch in der Vertonung nicht ganz eliminiert.


    Wenn man dem Liebesschmerz das Individuelle raubt, stößt man nicht zum Wesen der Sache vor, sondern verrät diese Sache. Ich erinnere nur an den Petrarcismus, wo man die Liebe in all ihren Stadien quasi "an sich" ausagiert, als reiche ein verklärtes Ideal von Hoher Frouwe zur Auslösung eines Liebesthaters in vitro völlig aus.


    Auch in der Winterreise grenzt das Mißverhältnis zwischen Anlaß (Andeutungen über eine unglückliche Liebschaft) und Auswirkung ans Groteske. Eine verlorene Liebe ohne Geliebte ist aber kein Erlebnis; daher muß ein Surrogat dafür konstruiert werden. Auf mich hat die Winterreise immer wie ein Konstrukt gewirkt - abscheulich morbid und einseitig, so wie Hofmannsthal zu recht den Malte Laurids Brigge titulierte.


    Zwischen allen Krähen, Irrlichtern und Grabsteinen möchte man dem wandernden Jüngling zurufen: "Das geht schon vorüber!" Oder, wie die reizende Zerbinetta angesichts der "Verstiegenheit" des jungen Komponisten: "Kindskopf!", oder wie Heine in der Dichterliebe: "Es ist eine alte Geschichte ..."


    Gewiß vollbringt Schuberts Musik an Müllers Gedichten manches Wunder - aber das Leben, zu dem sie die Verse erweckt, kann die Tendenz der Poesie zur Rhetorik nicht ganz auffangen.


    :hello:



    P.S.: Wie glücklich bin ich, daß unser Forum wieder erstanden ist!!

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ach, farinelli!


    Mag ja sein, dass es Freude macht, den advocatus diaboli zu spielen. Ich kann´s nicht nachvollziehen. In diesem Falle nicht, - und überhaupt nicht!


    Darf ich Dich bitten, Dir, wie ich das eben gerade getan habe, noch einmal, meinetwegen zum x-ten Mal, das Lied "Das Wirtshaus" anzuhören?
    Das ist wohl keine ganz große Poesie. Aber ob es eine schlechte ist, das wäre zu überprüfen.


    Wie auch immer! Die Frage ist doch: Was macht Schubert daraus? Und mit welchen kompositorischen Mitteln ist ihm das gelungen?


    Über diese Frage lohnt es nachzudenken!


    Also bitte! Eine sorgfältige und gründliche Betrachtung und Analyse eines einzigen Liedes.

  • Hallo Helmut,


    habe mir soeben mehrmals angehört:
    Auf einen Totenacker
    Hat mich mein Weg gebracht;
    Allhier will ich einkehren,
    Hab ich bei mir gedacht.


    Ihr grünen Totenkränze
    Könnt wohl die Zeichen sein,
    Die müde Wand'rer laden
    Ins kühle Wirtshaus ein.


    Sind denn in diesem Hause
    Die Kammern all' besetzt?
    Bin matt zum Niedersinken,
    Bin tödlich schwer verletzt.


    O unbarmherz'ge Schenke,
    Doch weisest du mich ab?
    Nun weiter denn, nur weiter,
    Mein treuer Wanderstab!


    Schwierig zu singen, ich hab es auch mit Partitur versucht, nie die richtige Grundstimmung gefunden. Man kann es nicht einfach nur singen, ich denke, man muss es singend interpretieren, um das auch wirklich auszudrücken, was Schubert gemeint hat. Rein vom Text her hab ich allerdings ein Problem. Es beginnt mit Totenacker und grünen Kränzen ( wahrscheinlich der Friedhof, an dem er vorbeikommt).
    Im Wirtshaus in der Nähe wird er abgewiesen und wandert mit seinem Wanderstab weiter, ganz vereinfacht ausgedrückt. Eine Interpretation von Dir zu diesem Lied wäre sehr hilfreich - vom Friedhof zum Wirtshaus zum Weiterwandern obwohl matt und tödlich schwer verletzt. Also aus dem Zyklus der Verzweiflung das Lied der Verzweiflung ?


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Bernward,


    um dem Verständnisproblem auf die Sprünge zu helfen:


    Das Wirtshaus liegt nicht "in der Nähe" des Friedhofs - es ist der Friedhof, als eine sarkatische Metapher für die Übernachtungsgäste dort. - Den Sarkasmus übergeht Schubert übrigens völlig (und das reicht bis zur Pointe der ja "belegten" Gräber).


    Über das Wie der Interpreation will ich hier auf Fischer-Dieskau (1952) verweisen: Er singt es leise, in einer von Anfang an todtraurigen Haltung, der alles Tröstliche gläsern abgerungen wird - ein Minimum an Mimik, ein verzagter, resignierender Blick ins offene Grab. (Man höre etwa die Abtönung der Stimmfarbe bei "Allhier will ich einkehren ...")


    Bloß bei "bin matt zum Niedersinken" schärft der Sänger den Ausdruck zu einem angedeuteten Aufseufzen der fast brechenden Stimme (später hat Dieskau diesen Naturalismus vermieden). Entsprechend heroisch, aus der bleiernen Lähmung heraus, die Selbstermahnung: "Nun weiter denn, nur weiter ..."


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Bernward,


    Du hattest mich angesprochen, und farinelli hat dankenswerterweise die Frage nach dem "Friedhof" geklärt.


    Unabhängig davon scheint mir einnmal ein gemeinsames Nachdenken über den zentralen Gehalt dieses Werkes, ausgehend von der textlichen Basis, erforderlich zu sein. Die Wertung dieses Gehalts, wie farinelli sie in seinem vorletzten beitrag hier vorgenommen hat, kann ich in dieser Form gedanklich nicht nachvollziehen.


    Das Argument: "eine verlorene Liebe ohne Geliebte ist aber kein Erlebnis, daher muss ein Surrogat dafür konstruiert werden", - es scheint mir am Kern dessen, was Schubert mit die Zyklus sagen möchte, vorbei zu gehen. Die "Unterbelichtung" des Anlasses dieser "Winterreise" ist gewollt. Die Frau wird bei dem, was sich da ereignet, nicht gebraucht. Sie ist kein Thema und verschwindet mit den Liedern "Die Wetterfahne" ("ein treues Frauenbild") und "Erstarrung" ("Fließt auch ihr Bild dahin") ins gedankliche und seelische Abseits.


    Das, was hier erlitten wird, ist mit dem ermunternden Zuruf: "Das geht schon vorüber" nicht aus der Welt zu schaffen. Das ist ja das Schreckliche und Erschreckende an diesem Werk.

  • Lieber hart,


    das Hintereinander-Hören des "Wirtshauses" in der "Fassung Zender/ Blochwitz" und der Interpretation durch M. Goerne und A. Brendel war für mich wie eine punktuelle und schlagschlichtartige Bestätigung meiner Grundüberzeugung, dass man Sololieder mit KLavierbegleitung nicht orschestrieren sollte.


    Und es war eine Art Schlüsselerlebnis über die Winterreise (auf das ich noch einmal eingehen werde).


    Auf einen Punkt gebracht: Hier eine Art Trauermarsch mit allem was dazugehört: Bläser, dumpfe Pauken, Beckenschläge. Der Sänger singt ein ziemlich indifferenzierter Form und mit leichter Wehleidigkeit.


    Und dann das Erstaunliche (aber eigentlich nicht Verwunderliche!):


    Obwohl bei Goerne/Brendel viel weniger Töne zu hören sind, hört man ungleich mehr als bei Zender: Man hört die Stille des Leidens, das ins Vewstummen abzugleiten droht und sich zuletzt doch noch einmal trotzig aufbäumt.


    Dieses Lied ist eines der zentralen Lieder der Winterreise, weil sich hier ihr Aussagekern sozusagen situativ verdichtet: In der Begegnung mit dem "Totenacker".


    Aber darauf möchte ich noch einmal ausführlicher zurückkommen.

  • Helmut und farinelli herzlichen Dank.


    Nun bin ich ein Stück schlauer geworden. Vielleicht git es ja ein Buch, in dem die einzelnen Lieder interpretiert werden. Ich würde es mir gern zulegen. Und noch eine Frage zu Fischer-Dieskau, den ich ja persönlich mit Jörg Demus am Flügel im Hannoverschen Opernhaus erlebt habe. Handelt es sich bei der 52er Aufnahme um die vom WDR mit Reutter oder um eine Aufnahme mit Gerald Moore bei EMI. Für den Fall, dass es die WRD-Aufnahme ist, werde ich sie mir noch zulegen, die fehlt mir noch.


    Freundliche Grüße aus Burgdorf, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Bernward,


    es gibt etwas, das Dir weiterhelfen kann. In der Reihe "dtv" erstens von Gerald Moore "Schuberts Liederzyklen" (Band 1360) und zweitens von DFD "Auf den Spuren der Schubertlieder" (Band 1178).


    Liebe Grüße vom


    Operngernhörer

  • Angeblich orientiert sich die Klavierbegleitung beim Friedhofswirtshaus an dem damals oft bei Trauerfeiern verwendeten Harmonium. Das las ich irgendwo, vielleicht sogar im Forum. Es hat m.E. mehr von einem Choral oder einer Prozession als von einem Marsch ungeachtet einer schreitenden Bewegung. Man sehe den Unterschied zu Beethovens op.26, Chopins op. 35 oder Schuberts Militärmärschen.
    Jedenfalls kann man den Effekt auf einigen zeitgenössischen Klavieren wohl noch deutlicher machen als mit dem modernen Klavier.


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich skizziere mein Verständnis der "Winterreise" und bitte, dies als Beitrag zu einer Diskussion zu nehmen.


    Das Thema der Winterreise ist nicht das ziellose Herumirren in winterlicher Landschaft aus enttäuschter Liebe. Der zentrale Inhalt des Werkes ist die musikalische Gestaltung einer existentiellen Grenzerfahrung.


    Ich verwende diesen Begriff im Sinne der Existenzphilosophie von Karl Jaspers: In "Grenssituationen" begegnet der Mensch der unüberholbaren Endlichkeit seiner Existenz und erfährt dabei eine fundamentale Erschütterung seines bisherigen Lebens.


    Das Schlüsselwort des Liederzyklus wird gleich am Anfang geliefert. "Fremd" ("bin ich eingezogen"). Die Erfahrung, von der das lyrische Ich im ersten Lied berichtet, ist die eines Fremdlings in einer bürgerlichen Welt, die sich ihm als Ehe in der Geborgenheit eines Hauses darstellte. Nicht um enttäuschte Liebe geht es also, sondern um das Scheitern der Hoffnungen auf die existentielle Sicherheit und Geborgenheit eines bürgerlichen Lebens.


    Das lyrische Ich sieht sich in diesem Augenblick in die Heimatlosigkeit verstoßen. Die Rolle der Frau in diesem Zyklus ist allein auf diesen Akt beschränkt. Das zweite Lied ("Die Wetterfahne") beschreibt in eindrucksvollen Bildern genau diese Erfahrung des Ausgestoßenseins aus der bürgerlichen Existenzform. Diese wird jetzt in ihrer Fragwürdigkeit gesehen: Auf dem Dach des Hauses das Symbol der wetterwendischen Metallfahne, und drinnen keine "Treue" (Bindung, Halt, Geborgenheit), sondern die Orientierung an rein materiellen Werten ("Ihr Kind ist eine reiche Braut"):


    Nicht-aufgenommen-Werden in diese Welt bedeutet Wanderschaft. Diese Wanderschaft ereignet sich in der Gegenwelt, der Antithese zur bürgerlich-häuslichen Geborgenheit: In der eisig-winterlichen, menschenfeindlichen Natur. Das Wort "Winter" im Namen dieses Liederzyklus ist also als Metapher zu verstehen. Es geht Müller und Schubert also nicht(!) um die Beschreibung einer realen Winterlandschaft, sondern um die Schilderung von Stationen einer existenziellen Grenzerfahrung in der Begegnung mit Eis und Schnee, das heißt letzten Endes: mit dem Tod.


    Alle Bilder, die in der Folge der Lieder in lyrischer und musikalischer Sprache entworfen werden, sind also eigentlich Chiffren. Sie handeln von der Begegnung mit dem Tod in Form einer winterlich erstarrten Natur (Lied 4: "Erstarrung"). Tränen können nicht mehr rinnen, weil sie zu Eis geworden sind, der Fluss kann unter seiner Eisdecke nicht mehr rauschen, der Baum ist im Begriff, das letzte Blatt abzuwerfen. Es ist eigentlich auch schon tot.


    Begleiter des Wanderers ist die Krähe, der Vogel des Todes, und am Himmel steht eine Sonne, die nicht mehr wärmen und Leben spenden kann. Wie ein Schemen taucht am Rande des Wegs noch einmal die Verheißung von Geborgenheit in einer bäuerlichen Welt auf. Aber im nächtlichen Dorf rasseln die Hunde mit ihren Ketten und die Bewohner sind in teilnahmslosen tiefen Schlaf versunken.


    Die Kulmination dieser existentiellen Grenzerfahrung ereignet sich, als der Wanderer auf einen "Totenacker" gerät. Müller nennt ihn nicht "Friedhof", weil das Wort "Friede" nicht mehr zur Lebenswelt dieses Wanderers gehört. Der Tod ist sein Wandergeselle. Die lyrischen Bilder dieses Liedes ("Das Wirtshaus") sind von einer erschreckenden Direktheit in ihrer Wirkung. Ein seltsam matter, müder Ton beherrscht die Verse und auch Schuberts Musik. Der Wanderer weiß ja längst, dass er Geborgenheit nicht mehr finden kann. Die Assoziation "Wirtshaus - Totenacker" stellt sich nicht als Schreckenserlebnis ein, sondern entspringt einer abgrundtiefen Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit.


    Fast möchte der Wanderer das stumme Angebot dieser Herberge annehmen, aber sie ist besetzt. Er wird selbst an diesem Ort noch abgewiesen, und es bleibt ihm nichts anderes, als sich noch einmal aufzuraffen: "Nur weiter denn, nur weiter ...!" Wohin? Zum Leiermann.


    Schubert hatte persönlich allen Grund, seine "Winterreise" einen "Zyklus schauerlicher Lieder" zu nennen. Diese Lieder sind - wie auch das Lied "Der Wanderer"! - Ausdruck seiner ganz eigenen existentiellen Grundbefindlichkeit.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Liebe Freunde,


    ich hatte es mal polemisch versucht, wohl wissend, daß man sich damit hier im Forum keine Freunde macht , es sei denn, man bezieht sich auf Frau Netrebko.


    Eine instruktive Werkeinführung aus Interpretensicht (mit vielen Notenbeispielen) bietet übrigens auch Hermann Prey in "Premierenfieber" (die Winterreisepassagen machen gut ein Drittel des auch sonst sehr lesenwerten Buchs aus).


    Mein Unbehagen oder Zwiespalt bzg. der Winterreise hätte auch anders seinen Ausdruck finden können. Früher einmal hätte ich "verbenjamint" mutmaßlich auf den Allegoriecharakter in Müllers Bilderwelt hingewiesen, also gerade das Konstruierte, Diskurshafte gelobt, das bloß zum Schein Subjektivität, persönliche Stimmungen ausbreitet.


    Die "Unterbelichtung" des Anlasses dieser "Winterreise" ist gewollt. Die Frau wird bei dem, was sich da ereignet, nicht gebraucht.


    Ich hätte nie gedacht, daß Helmut Hofmann mir zumindest in diesem Punkt nicht vehement widerspräche. - Ich möchte auch den Ausnahmerang von Schuberts Zyklus gar nicht in Frage stellen; und eine bloße Textkritik hilft hier (ähnlich wie beim Libretto) kaum weiter.


    Ich kann versuchen, es am Lied Nr. 2 - Die Wetterfahne - zu exemplifizieren. Da wird nicht poetisch ein Bild gefunden; sondern es wird ein Emblem bewußt und expressis verbis ("des Hauses aufgestecktes Schild") konstruiert und entwickelt - das ganze aber aus einem Habitus des Affekts heraus, nämlich des Ressentiments, ja der Wut. - Schubert findet Töne sowohl für den Affekt wie auch für die Naturalisktik des Requisits und seiner Szenerie (klirrende Wetterfahne im stürmischen Wind); aber den inneren Widerspruch zwischen einem verletzten Gefühl und einer allzu kalkulierten Metapher kann er nicht auflösen.


    De facto ist das Lied eine einzige Übertreibung; eine Mischung aus Toccata und groteskem Geschwindwalzer, geradezu bösartig. - Ähnlich exzentrisch erscheint mir auch der jew. belebte Mittelabschnitt im "Frühlingstraum". Scheinbar wechselt hier Müller das Metrum (vom Daktylus zum Jambus) - "Doch als die Hähne krähten" usw. - Schubert greift diesen metrischen Wechsel auf und akzentuiert ihn aufs schärfste, auf brutal zu nennende Weise (um die verzagte Wiederaufnahme des wiegenden Daktylus der jew. Schlußstrophe um so wirkungsvoller dagegen abzusetzen). Als spüre Schubert, daß hier des Affektgewitters zu viel gewagt sei, läßt er die beiden Schlußzeilen der 2. und 5. Strophe wiederholen, in einer leiseren Beleuchtung (man höre z.B. Fischer-Dieskau beim "Da war es kalt und finster" vokal regelrecht zusammenschauern).


    Daß die Hähne krähen, reicht Müller nicht; es müssen noch die Raben vom Dach krächzen. Zuviel des Guten wie die Eisblumen, die wiederum allzu absichtsvoll dem ersehnten Frühling entgegen-gebildet sind. - Die Heftigkeit der sich entladenden Affekte, auch dynamisch, kommt völlig unerwartet und muß sich im Biedermeier wie der Pierrot lunaire angehört haben.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das, was farinelli am Beispiel der Lieder "Die Wetterfahne" und "Frühlingstraum" als "eine einzige Übertreibung" bezeichnet, ist, so wie ich das sehe, musikalischer Ausdruck jener fundamentalen Erschütterungen, die die existentiellen Grenzerfahrungen in diesem Wanderer auslösen.


    Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine obige Interpretation des Zyklus in seiner Gesamtaussage.


    Warum reichen Müller die Hähne nicht, und es müssen auch noch die Raben dazukommen?


    Antwort: Das Bild bekommt auf diese Weise eine deutliche stärkere evokative Kraft. Ich bitte zu beachten: Die Raben "schreien". Sie "krächzen" nicht, wie farinelli meint.


    Ich glaube, und bin überzeugt: Wilhelm Müller ist als Poet gar nicht so schlecht!

  • Auf Helmut Hofmanns Beitrag: "Winterreise" - Stationen einer existentiellen Grenzerfahrung möchte ich später zurückkommen ...


    Aber zu farinellis magentagefärbtem Einwand fällt mir ganz spontan auf, dass vom Vater überhaupt keine Rede ist. Der Mann repräsentierte doch in jener Zeit die Familie als Familienoberhaupt weit mehr als das heutzutage der Fall ist. Der Vater als "Chef des Hauses" hat sich in der ganzen Story mit keiner Silbe geäußert; was mag wohl der Grund gewesen sein? Es darf spekuliert werden ...

  • Lieber Helmut Hofmann,


    ich paraphrasiere bloß; es wird schwer halten, einen schreienden von einem krächzenden Raben zu unterscheiden (Krächzen ist das Produzieren rauher Laute, bei Papageien- und Rabenvögeln). - Aber das ist nicht wichtig. Entscheidend ist Deine These:


    Alle Bilder, die in der Folge der Lieder in lyrischer und musikalischer Sprache entworfen werden, sind also eigentlich Chiffren. Sie handeln von der Begegnung mit dem Tod in Form einer winterlich erstarrten Natur


    Man könnte also hier so etwas wie ein Gegenstück (sehr avant la lettre) der Paradis artificiels erblicken; ein geschlossenes Gefüge von Bildern, die bloß scheinbar ins Innige, Volkstümlich-Landschaftliche verweisen (der romantische Wandertopos ist ebenso Finte wie die erotische Motivation der wankelmütigen "Dorf"-Schönen, die Brunnen-Linde genauso fingiert wie der Kirchhof oder die "Post"-Kutsche, die man verlustlos ins Heutig-Hiesige übersetzen könnte, als Mobiltelefon und eMail-Briefkasten).


    Also eine Art "enfer artificel", ein Irrgarten schwarzer Romantik-Embleme, den Schubert simulacrenhaft naturalistisch in Töne setzt, obwohl diese Reise eher ein Trip ist denn eine brave Gesellen-Waltz. Die mit Händen zu greifende Konkretion gerade der aggressiven Affekte ("So hätt er nimmer suchen wollen/ Im Haus ein treues Frauenbild"; "Mein Herz ist wie erstorben,/ Kalt starrt ihr Bild darin"; "; "Obs unter seiner Rinde/ Wohl auch so reißend schwillt?"; "Ich möcht nicht wieder Atem holen/ Bis ich nicht mehr die Türme seh"; "Nun sitz ich hier alleine ..."; "Als noch die Stürme tobten ..."; "Mein Herz sieht an dem Himmel/ Gemalt sein eignes Bild") verweist deutlich genug auf das bloß Stillgestellte, nicht Abgetötete, das drohend Reversible in der Ohnmacht und Wut, die durch den resignativen Zug (bis hin zum bitteren Leiermann-Kehraus) bloß ausbalanciert werden.


    Gäbe es diese "Lebenszeichen" beim Wandergesellen nicht, könnte ich Lieder wie die Krähe, das Irrlicht, den greisen Kopf oder die gefrornen Tränen (ob ihrer manierierten Gesuchtheit) nur schwer ertragen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es scheint so, als würdest Du, lieber farinelli, meine Deutung der Winterreise im wesentlichen akzeptieren. Ich hatte einen Einspruch im Grundsätzlichen zwar nicht erwartet, wohl aber ein Fragezeichen hinter einem Interpretationsansatz, der ja eigentlich recht modern ist. Die "Grenzssituation" ist ein philosophischer Terminus, der im Denkansatz der Existenzphilosopohie geboren wurde, und es muss dann natürlich geprüft werden, wie weit er als Interpretationsansatz in eine Zeit transferierbar ist, die so noch nicht gedacht hat.


    Ich bin diesbezüglich deshalb ein wenig kühn, weil ich am Beispiel der Hölderlin-Deutungen, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert praktiziert wurden, erlebt habe, was ein solch moderner Ansatz zum Verständnis eines Dichters beitragen kann.


    Mir scheint, dass meine Deutung allein schon dadurch berechtigt ist, weil es diese Form der existentiellen Betroffenheit ja offensichtlich bei Schubert selbst gegeben hat. Von Mayrhofer wiissen wir, dass die düstere Grundstimmung der Winterreise durchaus der Lebenshaltung Schuberts in den letzten Jahrebn enstprochen hat. Er selbst hat ja seinen durchaus skeptischen Freunden gegenüber betont, dass ihm dieser "Kreis schauerlicher Lieder" mehr als all seine anderen gefalle. Das ist ein Indiz, das man durchaus in die Deutung der Winterreise mit einbeziehen darf.


    Ganz besonders wichtig war mir, dass man die einzelnen Lieder und die ihnen zugrundenliegenden lyrischen Texte in ihrem Charakter als Chiffren begreift. Ich glaube, dass man ihnen nur so wirklich gerecht wird. Man kann nur so wirklich verstehen, warum Müller/Schubert ganz bewusst symbolgeladene Elemente der bäuerlichen Welt benutzten, um sie auf eine z.T. schroffe Weise zu verfremden. Das schönste Beispiel dafür ist die liebe, friedliche "Dorflinde", die zum Baum wird, der zum Sich-Erhängen einlädt.

  • Man kann, wie ich schon darstellte, das Lied "Das Wirtshaus" als Höhepunkt in der Reihe der existentiellen Grenzerfahrungen sehen, aus denen der Liederzyklus in seiner Gesamtheit besteht. Es steht in der Tonart F-Dur und ist, als einziges der Lieder, mit dem Tempoangabe "Sehr langsam" versehen.


    Das Klaviervorspiel, ruhige Legato-Klänge, setzt im Pianissimo ein. Es löst beim Hörer die Assoziation einer Prozession aus. Der Musikwissenschaftler Georgiades stieß bei seinen Analysen auf Entsprechungen zwischen der Gesangsmelodie dieses Liedes und dem "Kyrie" aus dem gregorianischen Requiem. Er stellt fest: "Die F-Tonart ist hier nicht das uns gewohnte Dur. Sie spiegelt das Abgeklärte, ... Friedliche , ...Ergeben-Weihevolle."


    Das Erstaunliche an diesem Lied ist u.a., dass der Grundton im Vordersatz nicht vorkommt. Darin unterscheidet es sich von den meisten anderen Schubertliedern. Dreiklangbrechungen fehlen, und die Terz dominiert. All diese Merkmale der musikalischen Faktur lassen die melodische Linie feierlich wirken, wie schwebend.


    Die Akkorde im Klaviersatz tragen die Singstimme in einem ernst wirkenden Pavanen-Rhythmus. Über dem ganzen Lied liegt eine Müdigkeit, die wohl in diesem Zusammenspiel zwischen Singstimme und Klavier ihre Wurzeln hat. Die Singstimme bleibt über weite Passagen im Pianissimo. Erst bei der Schlusszeile macht Schubert zwei Crescendo-Angaben und greift damit den Gehalt des letzten Verses auf. Der melismenartige hohe Bogen in der melodischen Lieder über "nur weiter" macht dieses letzte Sich-Aufbäumen des Wanderers gegen das endgültige Niedersinken hörbar.


    Schubert greift damit den Grundton auf, der auch die Verse Müllers prägt. Sie sind ungewöhnlich lang: Ein sechshebiger Jambus, mit einer Zäsur in der Mitte, erweckt den Eindruck eines ruhigen, wenn nicht sogar matten Dahinschreitens, dem weitgehend die Kraft fehlen zu scheint.


    Diese Eigenart des lyrischen Textes hat Schubert in seiner Musik voll aufgegriffen. Das geschieht nicht nur mit dem choralartigen akkordischen Satz, sondern auch mit häufigen Abweichungen von der Haupttonart, die Dur-Klänge immer wieder in den Mollbereich zu drücken scheinen.

  • Ich habe den Begriff "Chiffre" verwendet, und jetzt - ein wenig spät! - denke ich, dass ich denjenigen, die sich mit Lyrik vielleicht nicht so auskennen, kurz erläutern muss, was unter diesem Begriff zu verstehen ist.


    Bitte das nicht als Belehrung auffassen! Ich fühle mich als jemand, der eine Schuld einzulösen hat.


    In der Lyrik versteht man unter Chiffre ein Wort oder ein Bild, das im Zusammenhang des Textes gleichsam zeichenartig über sich hinaus in einen allgemeinen Bereich weist.


    Hier in der Winterreise wäre das zum Beispiel das Bild des zugefrorenen Flusses, bei dem das fließende Wasser von einer harten, starren Rinde überdeckt ist, deren Anblick den Wanderer erschrecken lässt.


    Dieses Bild weist über sich hinaus auf die seelische Eiseskälte, in der das lyrische Ich sich bewegt und die ihm wie der Vorbote des Todes vorkommt. Die vielen Einzelszenen, die in den Liedern der Winterreise geschildert werden, haben für mich Chiffrencharakter in diesem Sinne.


    Man muss das nicht so sehen. Ich muss zugeben, dass ich hier einen Begriff aus der modernen Lyrik auf die Gedichte des Wilhelm Müller übertragen habe. Allerdings glaube ich, dass dies zulässig ist.


    Ich werde auf die Eigenart der Lyrik Wilhelm Müllers in der "Winterreise" im Thread "Sprache und Musik in der Lyrik" näher eingehen. Da gehört dieses Thema nämlich hin.

  • Lieber Hart,


    bedanke Dich bei Helmut, der ja einen sehr progressiven Standpunkt einnimmt (was ich aus vollem Herzen begrüße). Ich meinte es aber, unklar wie ich mich zumeist ausdrücke, gar nicht als Verfremdung, sondern wollte sagen:


    "Die Post" bietet gar keine Posthornromantik im Sinne Eichendorffs oder Spitzwegs, sondern bloß das zusammengeschnurrte Bild unserer kommunikativen Einsamkeit als verlassener Liebender, für uns heutige das Tages-Vakuum angesichts eines schweigenden Telefons (weil wir nicht mehr angerufen werden). Je unzuverlässiger die Geliebte, desto mehr wissen wir die Zuverlässigkeit der Mittel, dennoch zu ihr zu gelangen, zu schätzen (Trambahnfahrplan, Telefon, Postboten). Entscheidend ist, daß die Post - als ritualisierte Instituition - sogar leer die Hoffnung von Tag zu Tag weiterspinnen hilft. Entsprechend stilisiert das Gedicht quasi den unmittelbaren Verkehr des Posthorns mit dem "hoch aufschlagenden" ungeduldigen Herzen (und Schubert versucht, Posthornruf und Herzklopfen in ein Motiv zu bannen).


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Jetzt kann ich nicht anders, - nach dieser gescheiten Deutung des Liedes "Die Post" durch farinelli:


    Ich muss empfehlen, sich die Vertonung dieses Gedichts von Müller durch Conradin Kreutzer anzuhören.


    Die ist nicht "schlechter" als die Schuberts, aber sie ist in ihrer musikalischen Faktur gänzlich anders angelegt, weil es Kreutzer nicht um innerseelische Vorgänge geht (wie Schubert), sondern um die musikalische Beschreibung der Ankunft der Post und ihrer Bedeutung im menschlichen Leben ganz allgemein.


    Warum ich das muss?


    Weil meine Lieblingspredigt hier ist: Wie der Komponist ein Gedicht liest und welche Haltung er dazu einnimmt, das ist entscheidend für das, was als Lied "hinten herauskommt". Klingt banal, ich weiß, aber es ist immer wieder aufs Neue interessant, wenn ´man´s erlebt. So wie hier bei der "Post" von Schubert und Kreutzer.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose