Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • Lieber Zweiterbass,


    ich habe die Winterreise mit Prey/Sawallisch nun nochmal gehört (beim Joggen via MP3 ... :) ) und habe keine Intonationsschwächen bemerkt. Ganz selten - insbesondere beim Konsonanten "l" - gleitet Prey auf dem Konsonanten von einem Ton auf den anderen. Das würde ich aber nicht als Intonationsschwäche bezeichnen.

  • Die Winterreise regt zu manchen Experimenten an. Durch eine Rezension im Deutschlandfunk erfuhr ich von einer Aufnahme


    mit einer mir bisher unbekannten Sängerin (Natasa Mirkovic-De Ro) in Begleitung einer Drehleier - zu Schuberts Zeit ein


    Instrument der Bettler und Bauern - gedreht und gezupft von Matthias Loibner.


    Es ist eine Aufnahme mit einem eigenartigen Reiz. Die Sängerin entspricht nicht den herkömmlichen Kategorien von


    schulmäßigem Kunstgesang, sondern ihre "Äußerungen" sind näher beim Sprechen.


    Hörproben können bei jpc abgerufen werden.


    Die CD ist erschienen beim Label RAUMKLANG im Vertrieb von Harmonia Mundi.


    Einen schönen Sonntag noch
    und freundliche Grüße


    Portator

  • Zitat Portator:


    "Die Winterreise regt zu manchen Experimenten an."


    Ja ja, so ist es! Wahrlich!


    Ich warte schon seit einiger Zeit auf eine Fassung mit Alphorn. Der Grund:


    Die existentielle Leere der Welt, in der sich der Wanderer in seiner grenzenlosen Verlassenheit bewegt und bewegen muss, würde durch den hohlen Kang eines Alphorns mit äußerster Intensität dem Hörer vermittelt. Man stelle sich vor, wie das klingt, wenn der Einsame in diesen hohlen Alphornsound hineinsingt und erleben muss, wie seine Stimme in der Leere des Raums verhallt.


    Der Reizeffekt wäre enorm! Das würde regelrecht unter die Haut gehen! Wirkungsvoller noch als bei der Drehleier, wo ja noch ein gewisser soundmäßiger "Einbettungseffekt" gegeben ist, der eine existentielle Geborgenheit suggeriert, die bei dem einsamen Wanderer doch schon längst verlorengegangen ist.


    Jedenfalls ist klar: Mit Alphorn, - das wäre, was das "Feeling" anbelangt, das sich beim Hören der Winterreise dann einstellt, garantiert noch effektiver als die Begleitung des Sängers mit der Drehleier. Die Aufnahmen mit der von Schubert vorgesehenen Klavierbegleitung wirken ja allmählich langweilig. Man kennt jeden Ton, weiß schon, wann z.B. in der "Wetterfahne" diese leeren Oktaven ohne jede harmonische Ausfüllung auftauchen, und wendet sich ab.


    (Nichts für ungut, lieber Portator. Das hier richtete sich, wie Du leicht erkennen kannst, nicht gegen Dich!)

  • Lieber Zweiterbass,


    ich habe die Winterreise mit Prey/Sawallisch nun nochmal gehört (beim Joggen via MP3 ... ) und habe keine Intonationsschwächen bemerkt. Ganz selten - insbesondere beim Konsonanten "l" - gleitet Prey auf dem Konsonanten von einem Ton auf den anderen. Das würde ich aber nicht als Intonationsschwäche bezeichnen.


    Lieber Wolfram,


    ich (mein Sohn schon) verwende keinen MP3. Ich kann also aus eigener Erfahrung nicht sagen ob man beim Joggen intensiv hören kann - rein gefühlsmässig würde ich es für mich verneinen.


    Wenn Du Dir die Mühe machen willst, am CD-player die Prey-Aufnahme mit z. B. FiDi oder die vorgestellte Gitarrenbearbeitung (Schnipsel bei JPC) - ich meine nur den Sänger, der m. E. eine sehr gute Stimme und Intonation hat, Interpretation? - zu vergleichen, dann gib' mir doch bitte Bescheid; ich würde Dir nach meinem Gehör einige Stellen bei Prey benennen, die ich ??? höre. Ich würde das aber nur machen, wenn für Dich die Sache nach Deinem obigen Zitat nicht abgeschlossen ist.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    Ich kann also aus eigener Erfahrung nicht sagen ob man beim Joggen intensiv hören kann - rein gefühlsmässig würde ich es für mich verneinen.

    Lieber zweiterbass,
    es drängt mich, dazu etwas zu sagen:
    Ich habe eine große Winterreise-Sammlung, und ich treibe seit vielen Jahren intensiv Sport und habe einen ipod ...
    Beim Sport klassische Musik - nein, danke, das kann ich nicht ...


    Natürlich habe ich auch die von Dir vorgestellte Winterreise mit Scot Weir und andere Lieder-CD´s von ihm. Ich wohne ja in einer Festspielstadt, deshalb ist mir Prof. Scot Weir schon seit Jahren ein Begriff. Seit 1995 hat er eine Professur für Gesang in Berlin (Hochschule Hanns Eisler).
    Über diese Aufnahme Weir/Folkwang Gitarren Duo hatte ich schon vor Monaten mit dem Puristen Helmut Hofmann diskutiert; der wahrscheinlich in diesem Punkt auch recht hat. Andererseits ist Prof. Weir auch ein ernst zu nehmender Künstler, aber vielleicht haben Amerikaner eine etwas andere Sicht auf die Dinge ...

  • Lieber hart, lieber Zweiterbass,


    ich hatte ja mit dieser geradezu Pawlowschen Reaktion gerechnet: Winterreise hören und dabei Joggen - also nein, wie unappetitlich, das tut man doch nicht ... :hello:


    Nun ist Joggen nicht gleich Joggen - bei hartem Intervalltraining mit einem Puls jenseits von 90% des persönlichen Maximalpulses höre ich auch keine Musik mehr. Bei langen, langsamen Läufen, die über zwei Stunden und mehr gehen und bei einem Puls von ca. 70% sehr gemütlich gelaufen werden - das soll unter anderem die Fettverbrennung trainieren und die Energiebereitstellung für lange Distanzen auf eine breitere Basis stellen - höre ich sehr wohl Musik aller Gattungen. Auch Bachs Passionen samt WK, auch Motetten von Schütz, auch den Ring (abschnittsweise), auch Werke des 20. Jhds. Jedenfalls meine ich, bei diesen Läufen entspannter Art sehr wohl in der Lage zu sein, mich auf ein isoliertes Detail konzentrieren zu können, zum Beispiel darauf, ob Prey nun intonationsrein singt oder nicht.


    Ich gebe Euch aber durchaus recht: Mit dem Hören auf dem Sofa ist es natürlich nicht zu vergleichen - alleine schon, weil man draußen zwangsweise einer gewissen Geräuschkulisse ausgesetzt ist, die das Hörvergnügen stellenweise arg trübt. Darum höre ich vor allem Werke, die ich ganz gut kenne, um die "Aussetzer" verschmerzen zu können.


    Lieber Zweiterbass - dann lass mich doch bitte mal die Stellen wissen, bei denen Deiner Meinung nach Prey technisch anfechtbar singt. Ich bin gespannt und freue mich drauf! Ich habe die Einspielung mit Wolfgang Sawallisch aus dem Jahre 1971.

  • 2. Die Interpretation des Tenors "Scot Weir" finde ich etwas eintönig.


    ich meine nur den Sänger, der m. E. eine sehr gute Stimme und Intonation hat, Interpretation?


    Hallo,


    nach mehrmaligem Anhören der CD muß/will ich meine Meinung revidieren - seine Interpretation ist nicht eintönig - im Gegenteil!
    Ich glaube auch zu wissen, was meine vorschnelle Meinung verursacht hat: Die für mein "Ohr" ungewohnte Gitarrenbegleitung, die m. E. viel zu wenig in der Anschlagsart (gebrochene Anschläge) wechselt und oft (zu oft?) nahe am Steg gespielt wird - was darin begründet sein kann, dem Klang der Klavierbegleitung möglichst nahe zu kommen, aber eben eine andere Wirkung erreicht. Nun habe ich mich an den anderen Klang etwas gewöhnt und kann die Interpretation des Sängers besser vom allgemeinen Klangeindruck trennen; ich verspreche künftig Besserung!


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Als ich im Thread "15 Jahre "Winterreise" und "Die schöne Müllerin" auf die Aufnahme mit Scot Weir hinwies, antwortete Helmut:


    Zitat Helmut:
    "Die Winterreise mit Gitarre statt Klavier, - das ist ein schlechter Witz!
    Und da sind wir bei meinem Problem.
    Wir beschäftigen uns hier in erster Linie mit vordergründigen Effekten, mit Oberflächenreizen von Liedaufnahmen.
    Wir begründen gar nicht, von der musikalischen Struktur des Liedes her, warum eine Interpretation nach unserer Meinung besonders gelungen und deshalb(!) empfehlenswert ist.

    Wir teilen nur unser Entzücken darüber mit. Und schon hat einer angebissen und fragt, ob er das Zauberding vielleicht kaufen soll."

    Wie sich die Zeiten ändern! Meine Empfehlung: Mal in diesem Thread stöbern. Höchst interessant.
    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Bei der "Winterreise"-Aufnahme mit dem amerikanischen Tenor Scot Weir und dem deutschen Folkwang-Gitarrenduo, die 1995 beim Label Signum erschien, schätze ich den silbernen Klang der Gitarrenbegleitung. Die beiden Instrumentalisten spielen die Begleitung in der Originaltonart und kein Ton der Klavierbegleitung geht verloren, da neben den klassischen sechssaitigen Gitarren noch zwei elfsaitige Altgitarren zum Einsatz kommen.


    Die CD mit dem Folkwang-Gitarrenduo ist auf meinem Merkzettel bei JPC - das will ich mir genauer anhören, bevor ich mir eine Meinung bilde - ich komme darauf zurück.


    Ich will Dreierlei unterscheiden:
    1. Es handelt sich um eine Bearbeitung für 2 Gitarren. Mein Eindruck ist, dass man möglichst nahe am Klavieroriginal bleiben wollte und das ist m. E. von den Interpretationsmöglichkeiten und daraus folgend vom Klangbild daneben gegangen - es wäre besser gewesen, man hätte die Möglichkeiten und Eigenarten der Gitarre genutzt, damit einen subtileren Klang erreicht und eben die Besonderheit der Bearbeitung betont. Authentisch die Winterreise mit Gitarre, geht nicht!


    nach mehrmaligem Anhören der CD muß/will ich meine Meinung revidieren - seine Interpretation ist nicht eintönig - im Gegenteil!
    Ich glaube auch zu wissen, was meine vorschnelle Meinung verursacht hat: Die für mein "Ohr" ungewohnte Gitarrenbegleitung, die m. E. viel zu wenig in der Anschlagsart (gebrochene Anschläge) wechselt und oft (zu oft?) nahe am Steg gespielt wird - was darin begründet sein kann, dem Klang der Klavierbegleitung möglichst nahe zu kommen, aber eben eine andere Wirkung erreicht. Nun habe ich mich an den anderen Klang etwas gewöhnt und kann die Interpretation des Sängers besser vom allgemeinen Klangeindruck trennen;


    Wie sich die Zeiten ändern! Meine Empfehlung: Mal in diesem Thread stöbern. Höchst interessant.


    Hallo Bernward,
    wo bitte ändern sich die Zeiten? Es ist wirklich interessant "komplett" nachzustöbern.

    Ich unterscheide
    die Interpretation insgesamt
    die Interpretation der Klavier- oder sonstigen Begleitung
    die Interpretation des Sängers
    die stimmliche Qualität des Sängers


    Meine Meinung zur Interpretation der Bearbeitung mit Gitarrenbegleitung und damit der Interpretation zu dieser Winterreise insgesamt und die stimmliche Qualität des Sängers hat sich nicht verändert. Nur meine Meinung zur Interpretation des Sängers habe ich revidiert und - hoffentlich nachvollziehbar - erklärt, warum meine 1. Meinung = Fehlmeinung zustande kam.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Lieber Zweiterbass


    Danke für deine differenzierte Würdigung der Aufnahme mit Scott Weir und dem Folkwang Gitarrenduo. Dein Hinweis auf die Spielweise am Steg zu spielen, um dem Klavierklang nahe zu kommen, ist mir als des Gitarren-Spielens-Unkundiger wertvoll.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Das Thema der Legitimität von Bearbeitungen hätte einen eigenen Thread verdient. Aber am konkreten Beispiel lässt es sich nunmal besser diskutieren, darum bleibe ich mal in diesem Thread.


    Streng genommen müssten wir bereits von einer Bearbeitung reden, wenn ein Bariton, ein Bass-Bariton oder ein Bass die Winterreise singen. Erst recht natürlich dann, wenn Frauenstimmen sich des Zyklus' annehmen. Schubert hatte den Zyklus ja für einen Tenor mit den hellen Farben dieser Stimme geschrieben. Man könnte nun anführen, dass viele Musikfreunde einen Bariton oder Bass bei diesem Werk vorziehen. Aber ich meine, dies ist eher ein Beweis dafür, dass das Stimmfach sehr wohl eine Rolle spielt - und nicht etwa für das Gegenteil. - Aber auch ein Steinway entspricht nicht dem Klang, den Schubert bei der Komposition im Ohr hatte. Auch das ist schon Bearbeitung. Manche Dinge gehen besser auf dem Steinway, andere Qualitäten gehen verloren.


    [Geht man noch eine Abstraktionsebene höher, so ist festzustellen, dass bereits die Instrumentierung des Werkes für Tenor und Hammerklavier eine Instrumentierung eines höheren Einfalls darstellt, der eben mit diesem Instrumentarium ausgedrückt werden soll. ("Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption" - Walter Benjamin). Aber so weit möchte ich noch nicht gehen, bereits den konventionellen Werkbegriff zu den Bearbeitungen, jedenfalls: Instantiierungen zu zählen.]


    Bearbeitungen waren zu allen Zeiten gang und gäbe. Noten von Barockopern, zumal in der Frühzeit der Gattung, waren Skizzen, die bei Bedarf an die verfügbaren Möglichkeiten angepasst wurden. Ich denke auch an die Bearbeitung von Kantatensätzen für Orgel solo von J. S. Bach. Oder umgekehrt: die Bearbeitung des Präludiums der Partita Nr. 3 E-Dur, im Original für Violine solo, zu einem Satz für konzertierende Orgel mit Streichern, Oboen, Trompeten, Pauken und B. c. in der Kantate 21. Oder Haydns Bearbeitungen seiner Sinfonien für Flöte, Cello und Klavier. Oder Beethovens Bearbeitung einer Klaviersonate für Streichquartett. Oder oder oder.


    Dass Schubert Gitarren-affin war, steht wohl außer Frage. Die Frage der Legitimität ist nicht so einfach zu beantworten. Ich meine, es wären zwei Dinge zu beantworten:


    1) Welche Aspekte des Werkes gewinnen durch die Bearbeitung? Was ist in Originalbesetzung in Gefahr, nicht hinreichend zur Geltung zu kommen?
    Hier muss es einen klar erkennbaren Gewinn geben, um die Bearbeitung aus künstlerischer Sicht zu rechtfertigen. - Dass es aus praktischer Sicht andere Argumente geben kann, ist mir klar - die Winterreise wäre ein gewaltiger Beitrag zur Literatur für zwei Gitarren.


    2) Welche Aspekte des Werkes verlieren durch die Bearbeitung? Was ist in Originalbesetzung besser, einfacher mitzuteilen als in der Bearbeitung?
    Die Verluste bei der Bearbeitung müssen sich in engen Grenzen halten. Beethovens Neunte für Piccolo und kleine Trommel - das geht wohl nicht. Immerhin: Liszt hat sie für Klavier bearbeitet.


    Es ist klar, dass es keine eindeutigen Antworten geben kann.

  • Die Zulässigkeit der Bearbeitung von Werken - unter Beachtung des Urheberrechtsschutzes - steht außer Frage; nur ist es eben dann eine Bearbeitung (nicht mehr das Originalwerk) und wann diese anfängt ist oben angerissen worden.


    Ich schätze Bearbeitungen von speziellen Bach'schen Werken - keine wortgebundene Musik - z. B. Stokowski oder moderne Gitarrenbearbeitungen mit ihrer ganz eigenen Anschlagtechnik geben einen neuen Klangeindruck; aber es sollte sich um Musik ohne musikfremden Inhalt handeln, andernfalls wird's sofort problematisch.
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Dieser Thread trägt den Titel: "Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise".


    Ich überspringe jetzt mal den Beitrag, in dem sich der Satz findet (Zitat Wolfram): "Nun ist Joggen nicht gleich Joggen - bei hartem Intervalltraining mit einem Puls jenseits von 90% des persönlichen Maximalpulses höre ich auch keine Musik mehr", denn der spricht auf dem Hintergrund des Mottos dieses Threads für sich selbst.


    Darf man mal daran erinnern, dass die "Winterreise" aus einem "Zyklus schauerlicher Lieder" besteht und nicht aus einem Panoptikum von Sängerinnen und Sängern unter bunten Cd-Covers. Von Drehleiern, Gitarren und anderen wunderlichen Begleitinstrumenten gar nicht zu reden, gegen die der friedliche Schubert vermutlich einen Hammer eingesetzt hätte, wäre ihm die Winterreise damit präsentiert worden.


    In einer deutschen Tageszeitung las ich am Sonntag in einem Aufsatz von Alfred Brendel über Franz Liszt folgendes:


    "Nun, im Alter, ist Liszt dem originalen Schubert in seiner depressivsten Form nahe gerückt. Gesänge wie "Der Doppelgänger", "Der Leiermann" oder "Die Stadt" führen dicht an Stücke wie "Unstern" oder "Mosonyi" heran. Die Verbindung von Kürze und Monumentalität, von Rezitativischem und Lapidarem, von Monotonie und Verfeinerung ist ihnen gemeinsam". (FAS, 19.2.2011)


    Wie gesagt: So etwas liest man in einer Tageszeitung.


    In einem Forum, das sich dem Kunstlied verschrieben hat, stößt man in einem Thread, dessen Thema eines der bedeutendsten Werke der Liedliteratur ist, auf die Feststellung, dass Joggen nicht gleich Joggen sei, gefolgt von endlosen Auslassungen über irgendeinen Menschen namens Scot Weir und seine zwei Gitarren.


    Und man beginnt sich seines Forums zu schämen!

  • Meine Meinung zur Interpretation der Bearbeitung mit Gitarrenbegleitung und damit der Interpretation zu dieser Winterreise insgesamt und die stimmliche Qualität des Sängers hat sich nicht verändert.

    Hallo Zweierbass,


    das habe ich auch nicht behauptet, sondern nur ein Zitat von Helmut aus dem Thread "15 Jahre Winterreise und ..." angeführt.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Tja, lieber Helmut, so ist die Welt. Andererseits: Gerade weil die Winterreise grundlegende Fragen der menschlichen Natur berührt, sind die Assoziationsmöglichkeiten so vielfältig und decken sicher noch viel mehr als Joggen und Gitarren ab. - Wer die Größe und Tiefe des Werkes preist, muss notgedrungen die vielen Anknüpfungspunkte in Kauf nehmen.


    Zitat

    gegen die der friedliche Schubert vermutlich einen Hammer eingesetzt hätte,


    Woher willst Du das denn wissen?


    Sollte ich Deine kunstreligiösen Vorstellungen verletzt haben, so bitte ich vielmals um Vergebung. - Für mich ist Musik eine so alltägliche Sache, dass sie auch beim Joggen dazu gehört. Das schließt ja nicht aus, das ich mich bei anderen Gelegenheiten auch mal bemühe, mich ganz "der Welt abhanden gekommen" in die Musik zu versenken. Alles zu seiner Zeit. Mal gibt es die kaum nebenbei gehörte Messe, mal das voll religiöser Inbrunst vollzogene Hochamt. Das Ritual hat auch seinen eigenen Wert, auch jenseits von Deinen Intensitäts- und Ausschließlichkeitsansprüchen.


    Das "Nebenbeihören" ist ja bekanntlich historisch verbürgt. Neben die "historisch informierte Aufführungspraxis" könnte also auch die "historisch informierte Rezeptionspraxis" treten. :D


    Zitat

    Darf man mal daran erinnern, dass die "Winterreise" aus einem "Zyklus schauerlicher Lieder" besteht


    Ja und? Andere Leute verhungern oder erfrieren tatsächlich, nicht nur fiktiv, während Du die fiktionale Winterreise hörst. Würde ich Dein Argument darauf anwenden wollen ...


    Zitat

    Und man beginnt sich seines Forums zu schämen!


    Schäm Dich, für was Du willst - wer will es Dir verbieten, wenn es Dir so gefällt? Nur: Bedenke, dass andere sich eventuell für Dich schämen könnten. Auch in "Deinem" Forum.

  • Zitat Wolfram:


    : "Bedenke, dass andere sich eventuell für Dich schämen könnten. Auch in "Deinem" Forum".


    Dann möge man mir sagen, aus welchen Gründen man sich hier meiner schämen muss.


    Ich würde selbstverständlich daraus die Konsequenzen ziehen und auf berechtigte Kritik in sachlicher Weise reagieren.


    Im übrigen: Mit "meinem" Forum meinte ich unseres. Man möge mir doch bitte diese Identifikation mit dem Tamino-Forum gönnen.


    Aber das alles ist hier nicht der Punkt. Meine Kritik zielte auf die zur Zeit mangelhafte Berücksichtigung der Fragestellung des Threads.


    Und die ist ja nun schwerlich zu übersehen.

  • Dann möge man mir sagen, wessen man sich meiner schämen muss.

    Das würde ich auch gern wissen. Der Gedankenaustausch ist höchst interessant und für mich auch sehr informativ. Ich denke, hier braucht sich niemand zu schämen und am allerwenigsten der Threadstarter. Die Gedanken sind frei und so möge es bitte auch bleiben. Auch und gerade wenn unterschiedliche Meinungen darüber bestehen, ob Schubert, der selbst Gitarre gespielt haben soll, wirklich den "Hammer" genommen hätte.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Helmut,


    Zitat

    Dann möge man mir sagen, wessen man sich meiner schämen muss.


    wenn ich Deine literarischen Ansprüche zugrunde lege, so stelle ich fest, dass das Gefühl der Scham für mich nicht mit dem Imperativ des "Müssens" einher gehen kann. Man schämt sich - oder man schämt sich nicht. Das liegt außerhalb von dem, was von außen als Pflicht befohlen werden kann. "Müssen" und "schämen" sind für meine Begriffe also inkompatibel.


    Ich habe auch nicht gesagt, dass sich jemand schämen müsse. Ich habe lediglich gesagt, dass sich eventuell andere Deiner schämen könnten. Wenn Du fragst, warum man sich Deiner schämen könnte, so muss ich - derselben Logik wie oben folgend - sagen, dass dies von der Person des sich Schämenden abhängt.


    Auf mich wirkte Dein tabuisierender Umgang mit den Begriffen"Gitarre" und "Joggen" im Kontext der Winterreise belustigend, und ich fragte mich einen Moment, ob Dein Beitrag ironisch gemeint war (à la "der erste Vorsitzende des Franz-Schubert-Verehrungs-Vereins Unterhohenkleinneustadt-Oberdorf 1928 e. V. würde jetzt sagen: ..."). Da Komik und Scham nicht unbedingt weit entfernt sind, könnte ich mir auch vorstellen, dass sich jemand dafür schämen könnte.

  • Zitat

    ... über irgendeinen Menschen namens Scot Weir und seine zwei Gitarren.

    Dezenter Hinweis: Herr Professor Scot Weir ist kein dahergelaufener Straßenmusikant, sondern ein Künstler, der schon einiges geleistet hat!

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  • Ich möchte auf eine These des Berliner Musikwissenschaftlers Elmar Budde zurückgreifen, die ich schon einmal hier zur Diskussion gestellt hatte, ohne dass eine solche freilich zustandekam. Aber vielleicht wird ja jetzt etwas daraus.


    Diese These hat ganz unmittelbar mit dem Thema und der Fragestellung dieses Threads zu tun. Trifft sie nämlich zu, dann müsste es nicht heißen "Zyklus der Verzweiflung", sondern "Zyklus der Hoffnungslosigkeit". Und das wäre ja nun eine menschlich viel tiefer reichende Qualifizierung dieses großartigen Werkes.


    Ich stelle mir vor und wünsche mir sehr, dass alle an diesem Gespräch teilnehmen, deren Interesse sich primär auf diesen Liederzyklus selbst, und erst in zweiter Reihe auf seine Interpretation richtet. Man könnte von dieser Fragestellung aus seinen Blick auf jedes einzelne Lied richten und gemeinsam über dessen Aussage im Kontext des ganzen Zyklus nachdenken.


    Elmar Budde geht, - das muss vorangestellt werden - davon aus, dass die vorliegende Fassung des ersten Liedes ("GUTE NACHT") von Schubert noch einmal umgeschrieben wurde, nachdem er die zweite Hälfte des Zyklus komponiert hatte. Dafür gibt es Indizien, auf die hier jetzt nicht näher eingegangen werden soll. Dieses Lied ist übrigens aus meiner Sicht das bedeutendste des ganzen Zyklus und würde allein schon eine Diskussion lohnen.


    Ich gebe diese These von Elmar Budde mal in eigenen Worten wieder, weil sie als Zitat zu umfangreich wäre. Er geht davon aus, dass die Frage, die der Wanderer im letzten Lied ("DER LEIERMANN") stellt, eigentlich sinnlos ist, weil der Leiermann schon längst seine Leier dreht, als die Frage gestellt wird, und das Instrument völlig ungerührt weiterspielt. Dennoch sei diese Frage im Zyklus aber beantwortet. Und zwar schon lange: Mit dem ersten Lied nämlich, mit GUTE NACHT!


    Die beiden letzten Töne, die der Wanderer im "Leiermann" singt, hat Schubert wie einen Schrei komponiert. Es ist ein "g" und ein "fis". Das ist eine fallende kleine Sekunde. In der Musikliteratur ist sie eine musikalische Figur, die Leid und die Trauer darüber zum Ausdruck bringt. Mit einer solchen kleinen Sekunde beginnt aber auch das Lied "GUTE NACHT". Auf den Worten "Femd bin ich" liegen in der Gesangsmelodie die Töne "f"- "d" - "e".


    Und nun die These: Wenn Schubert den gesamten Zyklus mit einer melodischen Figur - eben dieser fallenden kleinen Sekunde! - eröffnet, die auch das letzte Lied des Zyklus beschließt, dann ...


    Ja, - dann liegt die Antwort auf die Frage des einsamen Wanderers am Schluss ("Soll ich mit dir gehn...") bereits am Anfang des Zyklus fest.


    Und das heißt:


    Die "Winterreise" ist ein Zyklus, der sich um sich selber dreht. Sie handelt von einer Wanderung, die zwar einen Anfang hat, aber kein Ziel. Eine Wanderung, die sich sinnlos im Kreise und um sich selber dreht, weil die Ziellosigkeit schon im Anfang der Wanderung feststeht. Dieser Zyklus ist ohne Perspektive, ohne Hoffnung.


    Soweit diese These.


    Und nun meine ich - und halte das für überaus diskussionswürdig:


    Wir erwarten von Kunst und Musik eigentlich doch so etwas wie eine Perspektive über die Alltäglichkeit unseres Daseins hinaus. Wenn wir Musik hören, dann leben wir - bewusst oder unbewusst - ein wenig von der Botschaft, wie sie etwa von Beethovens Neunter ausgeht. Diese meinen wir ja auch in Werken zu hören, die gar nicht so pathetisch aufgeladen sind wie dieses Werk Beethovens: In Schuberts B-Dur Klaviersonate etwa.


    Die Winterreise enthält dergleichen nicht. Sie ist der Inbegriff der Trostlosigkeit. Die Hoffnungslosigkeit, die sie als Botschaft an uns enthält, überschreitet eigentlich das Menschenmögliche.

  • Lieber Helmut,


    natürlich kann man alle Forianer bitten, in einem Thread, der einem Werk gewidmet ist, vorübergehend nur einen einzigen Aspekt (und sei er hochspekulativ) des Werkes zu diskutieren. Noch schöner fände ich es, solche Diskussionen in einem eigenen Thread zu führen.


    Sei's drum. In meiner Ausgabe (Bärenreiter/Henle, Urtext, mittlere Stimme) steht für das letzte Lied als Originaltonart a-moll. Das heißt: Die letzten beiden Töne, die der Wanderer singt, müssten "f"-"e" sein, "e" als V. Stufe in a-moll. - Du aber schreibst von "g"-"fis", da bitte ich um Deine Aufklärung.


    Die Anfangstöne des ersten Liedes sind dann "f"-"e"-"d" (in d-moll), da stimme ich mit Dir überein.


    Um die These zu diskutieren, müsste man folgendes wissen:


    - Was sind die Indizien, aufgrund derer man annehmen darf, dass Schubert das erste Lied noch einmal umgestaltet hat, nachdem er die zweite Hälfte komponiert hatte? Ohne diese Indizien würde sich die These als Zirkelschluss entlarven.


    - Sind ähnliche Zirkelbezüge aus anderen Werken Schuberts bekannt? Die Zahlenmystik Bachs überzeugt mich nur deswegen, weil die Beispiele Legion sind. Ansonsten müsste man ja nur lange genug suchen, um irgend etwas zu finden, was man der Musik nachträglich unterlegen kann.


    Ferner bitte ich Dich um abgrenzende Definitionen von "Verzweiflung" und "Hoffnungslosigkeit", damit auch klar ist, dass da ein Unterschied besteht (das ist das kleinere Problem), und wie Du ihn verstehst (das ist das größere).


    Ich fände die These überzeugender, wenn das letzte Lied in A-Dur (statt a-moll) enden würde. Dann könnte man tatsächlich das d-moll des ersten Liedes anschließen.

  • Lieber Wolfram,


    mit meiner Antwort auf Deinen Beitrag, die ich sehr gerne (!) gebe, gehe ich in der Reihenfolge der von Dir vorgegebenen Gesichtspunkte vor:


    1. Ich hatte vor, einen Thread zu starten mit dem Titel: "Die Lieder der Winterreise in Einzelbetrachtung" (oder so ähnlich). Diesen Gedanken habe ich aber verworfen, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, ich würde ein Konkurrenzunternehmen zu dem bereits bestehenden Thread ins Forum stellen. Ich war mir auch nicht sicher, wieviele dabei mitmachen würden. Und überhaupt fehlte mir der Mumm!


    2. Ich habe hier ein Faksimile der Orignalhandschrift vor mir. Da steht im Manuskript des Liedes "DER LEIERMANN" (der Titel in deutscher Schrift und unterstrichen) oben rechts mit dickem Bleistift angemerkt "in a-mol" (mit nur einem "l"!). Die beiden letzten Töne, die der Sänger singt, sind bei mir hier ein hohes "g" und ein "fis" (Lei-er drehn). Aber es geht ja eigentlich darum, dass eine fallende Sekunde vorliegt. Und die steht natürlich auch in jeder Transkription.


    3. Dass Schubert das Lied "GUTE NACHT" noch einmal neu geschrieben hat, lässt sich natürlich nicht beweisen. Es gibt aber auffällige Indizien dafür. Im Manuskript der Winterreisie sind die ersten drei Seiten herausgerissen, und auf einer neuen Lage Notenpapier wurde die endgültige Fassung von GUTE NACHT in Reinschrift wieder eingefügt. Literatur: "Franz Schubert. Die Winterreise. The autograph score. With an introduction by Susan Youens, New York 1989, S. VII-XVII. Mir fiel das übrigens schon selber auf, bevor ich diese These von Elmar Budde gelesen hatte. Hier in meinem Manuskript-Faksimile wirken die ersten drei (beidseitig beschriebenen) Blätter auffällig ordentlich. Dann aber, schon mit der "WETTERFAHNE", sehen die Manuskriptblätter zum Teil ziemlich wüst aus: Mit vielen Streichungen in Linienform und mit Kreuzen, Drunter- und Drüberschreiberei, Verbesserungen usw. , z.T. nur schwer zu lesen. Aber wenn man´s genau nimmt: Schubert konnte auch einen anderen Grund für die Neufassung des Manuskripts der ersten drei Seiten gehabt haben als, den, den Budde annimmt.


    4. Ich kenne keine ähnlichen "Zirkelbezüge" bei Schubert, bin aber absolut kein Experte. Nur dies gilt als gesichert in der Schubertforschung: Er hat die Wahl der Tonarten ganz bewusst vorgenommen und die einzelnen Lieder unter diesem Aspekt aufeinander abgestimmt. Das erste Lied steht in d-Moll. Es ist die Tonart, in der Schubert alle Werke komponiert hat, die etwas mit Tod und Leid zu tun haben, siehe etwa: Der Tod und das Mädchen. Eigentlich ist dieser Sekundschritt bei "Fremd bin ich..." eine musikalische Schlussfigur und keine, die gewöhnlich für den Anfang eines Musikstücks verwendet wird. Auch das ist bemerkenswert!


    5. Hoffnungslosigkeit ist - aus meiner Sicht - für einen Menschen deshalb die gravierendere existentielle Befindlichkeit als "Verzweiflung", weil sie ihm alle Zukunftsperspektiven raubt. Der Philosoph Ernst Bloch hat darüber ein dickes Werk verfasst ("Das Prinzip Hoffnung"). InVerzweiflung verfällt ein hoffnungsloser Mensch schon gar nicht mehr. Verzweiflung stellt sich - wieder aus meiner Sicht! - gerade deshalb ein, weil es noch eine Zukunftshoffnung gibt, aber im Augenblick kein Weg in diese Zukunft zu erkennen ist. Ein verzweifelter Mensch kämpft, in seine augenblickliche Lebenssituation verstrickt, noch um seine Existenz, ein hoffnungsloser nicht mehr. So habe ich das gesehen, gebe aber zu, dass man darüber noch gründlicher nachdenken müsste.


    Zum Schluss dieses:


    Ich möchte mich für meinen Beitrag Nr. 404 entschuldigen. Zwar habe ich mich tatsächlich geärgert, aber diesen Ärger hätte ich, wie sich das gehört, für mich behalten müssen und hätte ihn nicht hier ins Forum stellen dürfen. Unbeherrschtheit sollte man sich ja eigentlich überhaupt nicht leisten, aber in meinem Alter ist sie peinlich und unverzeihlich!

  • 2. Ich habe hier ein Faksimile der Orignalhandschrift vor mir. Da steht im Manuskript des Liedes "DER LEIERMANN" (der Titel in deutscher Schrift und unterstrichen) oben rechts mit dickem Bleistift angemerkt "in a-mol" (mit nur einem "l"!). Die beiden letzten Töne, die der Sänger singt, sind bei mir hier ein hohes "g" und ein "fis" (Lei-er drehn). Aber es geht ja eigentlich darum, dass eine fallende Sekunde vorliegt. Und die steht natürlich auch in jeder Transkription.


    Nun, mir war wichtig, dass genau die letzten Töne (der Singstimme) im letzten Lied dieselben sind wie die ersten Töne des ersten Liedes. Das funktioniert natürlich nur in a-moll und kann die These dann überzeugender stützen.


    4. Ich kenne keine ähnlichen "Zirkelbezüge" bei Schubert, bin aber absolut kein Experte. Nur dies gilt als gesichert in der Schubertforschung: Er hat die Wahl der Tonarten ganz bewusst vorgenommen und die einzelnen Lieder unter diesem Aspekt aufeinander abgestimmt. Das erste Lied steht in d-Moll. Es ist die Tonart, in der Schubert alle Werke komponiert hat, die etwas mit Tod und Leid zu tun haben, siehe etwa: Der Tod und das Mädchen. Eigentlich ist dieser Sekundschritt bei "Fremd bin ich..." eine musikalische Schlussfigur und keine, die gewöhnlich für den Anfang eines Musikstücks verwendet wird. Auch das ist bemerkenswert!


    Ich kenne diese Wendung in Dur z. B. in "Va, pensiero, ..." (Nabucco, Verdi), im Big-Ben-Motiv und in "Wo die Nordseewellen rauschen an den Strand". In Moll begegnet es uns z. B. im Finalsatz von Beethovens "Pathétique" (mit einem g als erster Auftaktnote), im ersten Thema des Hauptsatzes von Beethovens Neunter (nach den fallenden Quinten/Quarten) und im Schmiede- oder im Schmelzlied des Siegfried (bin nicht ganz sicher, habe es nicht genau im Ohr und die Noten hier im Moment nicht greifbar). Weiteres Nachdenken würde wahrscheinlich noch etliche andere Stellen liefern.


    5. Hoffnungslosigkeit ist - aus meiner Sicht - für einen Menschen deshalb die gravierendere existentielle Befindlichkeit als "Verzweiflung", weil sie ihm alle Zukunftsperspektiven raubt. Der Philosoph Ernst Bloch hat darüber ein dickes Werk verfasst ("Das Prinzip Hoffnung"). InVerzweiflung verfällt ein hoffnungsloser Mensch schon gar nicht mehr. Verzweiflung stellt sich - wieder aus meiner Sicht! - gerade deshalb ein, weil es noch eine Zukunftshoffnung gibt, aber im Augenblick kein Weg in diese Zukunft zu erkennen ist. Ein verzweifelter Mensch kämpft, in seine augenblickliche Lebenssituation verstrickt, noch um seine Existenz, ein hoffnungsloser nicht mehr. So habe ich das gesehen, gebe aber zu, dass man darüber noch gründlicher nachdenken müsste.


    Kierkegaard sagte: "Verzweiflung ist eine Sünde, weil der Verzweifelte die Hoffnung auf das Selbst, auf Gott und die eigene Erlösung aufgibt". Für diesen Philosophen zieht Verzweiflung also automatisch die Hoffnungslosigkeit nach sich. (Den umgekehrten Schluss könnte ich daraus nicht ableiten.)


    Ich möchte mich für meinen Beitrag Nr. 404 entschuldigen. Zwar habe ich mich tatsächlich geärgert, aber diesen Ärger hätte ich, wie sich das gehört, für mich behalten müssen und hätte ihn nicht hier ins Forum stellen dürfen. Unbeherrschtheit sollte man sich ja eigentlich überhaupt nicht leisten, aber in meinem Alter ist sie peinlich und unverzeihlich!


    Wir alle sind Gefangene unserer selbst. Kein Grund zum Verzweifeln - denn es gibt immer Hoffnung! :hello:

  • Tja, lieber Helmut, so ist die Welt. Andererseits: Gerade weil die Winterreise grundlegende Fragen der menschlichen Natur berührt, sind die Assoziationsmöglichkeiten so vielfältig und decken sicher noch viel mehr als Joggen und Gitarren ab.


    Unter diesem Gesichtspunkt würde ich daher die Winterreise für "Singstimme und 2 Gitarren" als Bearbeitung bezeichnen - hätte sie Schubert selbst für Gitarre eingerichtet, wäre das keine Bearbeitung, sondern eine 2. Fassung, neben dem Original ( die "Bilder einer Ausstellung" laufen ja neben dem Original für Klavier auch unter der Bezeichnung "Orchesterfassung von Ravel"). Unter Bearbeitung verstehe ich (die Meisten?) die Veränderung einer Originalkompositon durch einen Dritten; der ursprüngliche Komponist kann sein Werk verwenden wie er will, für andere Instrumente einrichten, in einem neuen Werk z. T. oder ganz wieder verwenden usw.

    Dezenter Hinweis: Herr Professor Scot Weir ist kein dahergelaufener Straßenmusikant, sondern ein Künstler, der schon einiges geleistet hat!


    Dazu habe ich meine ausführliche, berichtigte Meinung gepostet.

    Ferner bitte ich Dich um abgrenzende Definitionen von "Verzweiflung" und "Hoffnungslosigkeit", damit auch klar ist, dass da ein Unterschied besteht (das ist das kleinere Problem), und wie Du ihn verstehst (das ist das größere).


    Ein Gedanke dazu: Die Verzweiflung eines Schwerkranken kann (muß nicht) in der Hoffnungslosigkeit - das körperliche Weiterleben betreffend - eines Sterbenden enden, was für mich eine Steigerung bedeutet.
    Auf die Winterreise angewendet: Der an der Liebe und dem Verhalten seiner Umwelt verzweifelte "Wanderer" schließt sich dem sich der Hoffnungslosigkeit bereits ergeben habenden "Leierkastenmann" an, das ist seine Welt (siehe dazu diverse Beiträge in diesem Thread).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat Wolfram:


    "Kierkegaard sagte: "Verzweiflung ist eine Sünde, weil der Verzweifelte die Hoffnung auf das Selbst, auf Gott und die eigene Erlösung aufgibt".


    Diese Sicht Kierkegaards ist mir bekannt. Sie ist eine durch und durch christlich geprägte. Man kann sie in dieser Form übernehmen, wenn man die Prämisse übernimmt: Verzweiflung ist eine Haltung, die den Zweifel an der von Gott durch den Kreuzestod Christi dem Menschen geschenkte Hoffung auf Erlösung beinhaltet, - also Sünde! Luther hätte das übrigens nicht in dieser Radikalität gesehen (Das nur nebenbei!).


    Verzweiflung muss aus meiner Sicht nicht zwangsläufig in die Hoffnungslosigkeit münden. Das tut sie dann, wenn das Individuum völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist und keinerlei Zukunftsperspektive mehr entwickeln kann, die es aus dieser Zurückgeworfenheit auf sich selbst zu erlösen vermag.


    Wie das beim Wanderer der "Winterreise" der Fall ist. Er ist "zu Ende mit allen Träumen". Träume sind hier existentielle Zukunftsentwürfe.

  • Lieber Helmut!


    Zitat

    Diese Sicht Kierkegaards ist mir bekannt.


    Jaja.


    Ich meine, dass es zwischen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit keine Implikation ("aus V folgt H" oder umgekehrt) oder Vergleichbarkeit gibt (das eine ist schlimmer als das andere). Ich behaupte, V und H haben kein gemeinsames tertium comparationis.


    Der Verzweifelte ist seiner Sicherheiten verlustig gegangen, ihm bleiben nur noch die Zweifel - verZWEIFELt. Das ist eine Zustandsbeschreibung, die zunächst voll und ganz auf die Gegenwart bezogen ist und keinen direkten Bezug zur Zukunft hat. - Pseudophilosophisch abgehoben formuliert: Der Verzweifelte hat keine sichere Antwort auf die Frage "Wer bin ich?".


    Der Hoffnungslose hingegen ist seiner Zukunft verlustig gegangen. - Pseudophilosophisch abgehoben formuliert: Er kann die Zeitgebundenheit seiner Existenz nicht positiv assoziieren. Er hat keine gute Antwort auf die Frage "Wo gehe ich hin?".


    Ich möchte nicht entscheiden, was die

    Zitat

    gravierendere existenzielle Befindlichkeit


    ist. Dazu sind die Begriffe zu verschieden.


    Der Winterreisende singt allerdings entweder von seiner Vergangenheit, oder er sieht in Naturphänomenen der Gegenwart (z. B. Wind und Wetterfahne, zu Eis gefrorene Tränen, der mit harter Rinde überzogene Fluss, Nebensonnen) ein Abbild seines Seelenzustandes. Die Zukunft kommt erst im letzten Lied zur Sprache ("willst Du mit mir gehn?") - aber sie existiert. Also möchte ich die Hoffnungslosigkeit abstreiten. Es gibt eine Zukunft für den Winterreisenden. In der Gegenwart ist er allerdings verzweifelt - an Ereignissen der Vergangenheit.


    (Ja, von Zukunft ist schon früher die Rede - Nr. 22 "Im Dunkeln wird mir wohler sein", auch andere Stellen, diese sind m. E. allerdings eher aus der Depression der Gegenwart zu verstehen.)


    Daher plädiere ich sehr wohl für "Zyklus der Verzweiflung" und lehne "Zyklus der Hoffnungslosigkeit" vorsichtig ab. - Bei der "Schönen Müllerin" können wir gerne nochmal diskutieren, ob es da eine Zukunft gibt ...

  • Zitat Wolfram:


    "Die Zukunft kommt erst im letzten Lied zur Sprache ("willst Du mit mir gehn?") - aber sie existiert. Also möchte ich die Hoffnungslosigkeit abstreiten. Es gibt eine Zukunft für den Winterreisenden. In der Gegenwart ist er allerdings verzweifelt - an Ereignissen der Vergangenheit."


    Das ist eine Deutung der "Winterreise", die mich tatsächlich verblüfft. Aus meiner Sicht ist sie unzutreffend. Aber ich betone: Aus meiner! Gar gern würde ich die Meinung anderer dazu hören. Man müsste dazu allerdings ein wenig näher auf "DER LEIERMANN" eingehen.


    Dieses Lied ist geprägt von dem Nebeneinander zweier Welten, zwischen denen keinerlei Kommunikation stattfindet. Die musikalische Struktur des Liedes spricht das völlig klar aus: Einundsechzig mal der mechanisch heruntergeleierte leere Quintenbass A - E auf der einen Seite, auf der anderen eine melodische Phrase, die, kaum variiert, mit fast tonloser Montonie wiederholt wird. Nur an einer Stelle kommt das im Notenbild zusammen, aber da holperts rhythmisch derart, dass von einem echte Zusammenkommen gar nicht die Rede sein kann. Diese Musik ist einer erschreckenden Weise leer. Sie ist ein kompositorisch genialer Entwurf von Hoffnungslosigkeit.


    Der Wanderer erhält auf seine Frage keine Antwort. Die kann er auch gar nicht bekommen, denn seine Frage ist gar nicht an den Leiermann gerichtet. Sie ist in sich hineingesprochen. Dieser wunderliche Alte ist ja gar nicht ansprechbar: Er leiert wie mechanisch vor sich hin, auf dem Eise hin und her wankend, beinahe schon eingefroren. Ein Wesen von erschreckender Fremdheit und Unerreichbarkeit. Dass keine Antwort gegeben wird, liegt also völlig in der Logik der Situation und der Eigenart der beiden Gestalten, die da in winterlicher Eislandschaft herumstehen.


    Und worin sollte die Zukunft des Wanderers denn eigentlich bestehen? Die Lieder, zu denen der Wanderer vom Leiermann begleitet werden soll, sind doch gar keine realen Lieder. Sie spielen sich im Kopf, in der Seele dieses Menschen ab. Es sind Monologe des äußersten Schmerzes. Das Spiel der Leier dazu wird von diesem Menschen als eine Akzentuierung seines Schmerzes, als höhnische akustische Bestätigung der Hoffnungslosigkeit seiner Lage gesehen.


    Die Frage, die da vom Wanderer gestellt wird, ist ein monologisch rhetorischer Akt der Selbstpeinigung. Ein solcher Akt ist auf keine Antwort ausgerichtet, denn er richtet sich gegen den Fragenden selbst.


    Die Vorstellung, dass die beiden als Musikanten durch die Lande ziehen, kann doch wohl nicht ernsthaft aus dem ganzen Zyklus als Zukunftsperspektive extrapoliert werden.


    Es gibt für den Wanderer keine Zukunft. Er ist am Ende. Er weiß es und spricht es auch aus. Er ist "am Ende mit allen Träumen", und der letzte Vers der NEBENSONNEN lautet: "Im Dunkel wird mir wohler sein". Da steht ein Indikativ, kein Konjunktiv. Es heißt "wird", - nicht "würde"!


    "Im Dunkel" eine Zukunft?


  • Lieber Wolfram,


    dass bei meinem Beitrag die persönliche Anrede fehlt, erklärt sich daraus, dass ich mich ganz bewusst auf die Ebene der Sachdiskussion begeben wollte. Also bitte nicht als unfreundlichen Akt verstehen!


    Was die Definition und die inhaltliche Bestimmung der Begriffe "Verzweiflung" und "Hoffnungslosigkeit" anbelangt, sind wir uns ja wohl einig. Nicht hingegen in der Deutung der Winterreise, wie Du sie mit Blick auf die potentielle Zukunft des Protagonisten vorgelegt hast.


    Aber das ist ja ein hervorragender und höchst erfreulicher Diskussionsansatz.

  • Ich meine, dass es zwischen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit keine Implikation ("aus V folgt H" oder umgekehrt) oder Vergleichbarkeit gibt (das eine ist schlimmer als das andere). Ich behaupte, V und H haben kein gemeinsames tertium comparationis.


    Hallo Wolfram,


    ich sehe das mehr "praktisch" und verweise auf den vorletzten Absatz in meinem Beitrag Nr.415 - und religiöse Aspekte würde ich gerne drausen lassen, weil sie einen halbwegs tragbaren Konsens unmöglich machen.

    Der Hoffnungslose hingegen ist seiner Zukunft verlustig gegangen. - Pseudophilosophisch abgehoben formuliert: Er kann die Zeitgebundenheit seiner Existenz nicht positiv assoziieren. Er hat keine gute Antwort auf die Frage "Wo gehe ich hin?".


    Und wenn ich mir die Strophen 1 - 3 des "Leiermannes" ansehe, dann steht er völlig außerhalb der menschlichen Gemeinschaft und in Strophe 4 ist die von im gezogene Folge dieser Tatsache zu sehen. Hat er damit aus aktueller Einsicht eine "gute Antwort auf seine zeitgebundene Existenz"? Eher wohl nicht! Also ist er ein "Hoffnungsloser".

    Daher plädiere ich sehr wohl für "Zyklus der Verzweiflung" und lehne "Zyklus der Hoffnungslosigkeit" vorsichtig ab.


    Der Wanderer schließt sich einem Hoffnungslosen an, weil er aus seiner Einschätzung erkennt, das ist seine Welt; folglich ist (m. E.) auch der Wanderer ein Hoffnungsloser.-----(Menschen gehen mit ihrer Hoffnungslosigkeit sehr unterschiedlich um, der Eine "läßt es gehen, alles wie es will", der Andere zieht einen - voreiligen?! - Schlußstrich - "..." ist die endgültige Lösung eines zeitlich befristeten Problems.)
    Was nicht ausschließt, dass im Zeitablauf von außen kommende Faktoren, soweit sie ihn erreichen, aus einem hoffnungslosen einen wieder lebensbejahenden Menschen machen.


    Viele Grüße
    zweiterbass
    Nachsatz: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis des Beitrages von Helmut, 23.02. 11 Uhr 05 verfasst.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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