Lieber Helmut!
Dieses Lied ist geprägt von dem Nebeneinander zweier Welten, zwischen denen keinerlei Kommunikation stattfindet. Die musikalische Struktur des Liedes spricht das völlig klar aus: Einundsechzig mal der mechanisch heruntergeleierte leere Quintenbass A - E auf der einen Seite, auf der anderen eine melodische Phrase, die, kaum variiert, mit fast tonloser Montonie wiederholt wird. Nur an einer Stelle kommt das im Notenbild zusammen, aber da holperts rhythmisch derart, dass von einem echte Zusammenkommen gar nicht die Rede sein kann. Diese Musik ist einer erschreckenden Weise leer. Sie ist ein kompositorisch genialer Entwurf von Hoffnungslosigkeit.
Nun, Rituale, also sich regelmäßig wiederholende Vorgänge sind therapeutisch sehr wohl zur Behandlung von Depressionen geeignet. Jeden Morgen zur selben Uhrzeit aufstehen - das ist schon etwas.
Als Ritual werden monotone Quinten angeboten. Langweilig, leer, gewiss, aber der Wendepunkt dieser Wanderung! Nach verschiedensten Fantasien - mit ebenso verschiedener Musik - bekommt der Wanderer nun wieder festen Boden unter die Füße. Und wenn es nur leere Quinten sind. Das ist also nicht unbedingt ein Entwurf von Hoffnungslosigkeit. - Wäre es ein Symbol für Hoffnungslosigkeit, so müsste am Schluss konsequenterweise eine offene Quinte stehen bleiben - gerade das ist aber nicht der Fall.
Und worin sollte die Zukunft des Wanderers denn eigentlich bestehen? Die Lieder, zu denen der Wanderer vom Leiermann begleitet werden soll, sind doch gar keine realen Lieder. Sie spielen sich im Kopf, in der Seele dieses Menschen ab. Es sind Monologe des äußersten Schmerzes. Das Spiel der Leier dazu wird von diesem Menschen als eine Akzentuierung seines Schmerzes, als höhnische akustische Bestätigung der Hoffnungslosigkeit seiner Lage gesehen.
Oh, jetzt bitte nicht die Diskussionsebene wechseln! Wir haben nicht darüber geredet, worin die Zukunft bestehen soll und ob das realistisch ist! Wir haben darüber geredet, ob Hoffnung besteht. Für das Vorhandensein von Hoffnung bedarf es nicht der Greifbarkeit einer realen Zukunft. Es genügt die Möglichkeit, die Vision einer Zukunft. Und die besteht: " ... willst Du mit mir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?". Auch, wenn die Frage ohne Antwort bleibt, drückt sie eine sich dem Fragenden eröffnende Zukunftsmöglichkeit aus. Was sonst wäre Hoffnung?
Die Frage, die da vom Wanderer gestellt wird, ist ein monologisch rhetorischer Akt der Selbstpeinigung. Ein solcher Akt ist auf keine Antwort ausgerichtet, denn er richtet sich gegen den Fragenden selbst.
Kannst Du den ersten Satz beweisen?
Die Vorstellung, dass die beiden als Musikanten durch die Lande ziehen, kann doch wohl nicht ernsthaft aus dem ganzen Zyklus als Zukunftsperspektive extrapoliert werden.
Wie oben gesagt - bei der Frage, ob Hoffnung vorliegt, geht es nicht darum, wie realistisch die Extrapolation einer Zukunftsperspektive ist. Es geht lediglich darum, ob der Wanderer eine mögliche Zukunft sieht. Es geht um Wahrnehmung, nicht um Realität.
Es gibt für den Wanderer keine Zukunft. Er ist am Ende. Er weiß es und spricht es auch aus. Er ist "am Ende mit allen Träumen", und der letzte Vers der NEBENSONNEN lautet: "Im Dunkel wird mir wohler sein". Da steht ein Indikativ, kein Konjunktiv. Es heißt "wird", - nicht "würde"!
Es ist "Im Wirtshaus" und angesichts der "Nebensonnen" gewiss so, dass er noch keine Zukunft sieht. Aber das letzte Lied ist eventuell die Peripetie des Dramas. Hier begegnet der Wanderer zum ersten Male seit der Vorgeschichte des ersten Liedes wieder einem Menschen (wenn wir das Posthorn nicht pars pro toto für den Postillon nehmen). Darum finde ich es überhaupt nicht abwegig, dass diese Begegnung zu einer Neubewertung seiner Situation führt.
Jedenfalls ist die Musik eine andere als in den anderen Liedern! Das ist ja ein Hinweis darauf, dass mit dem letzten Lied etwas Neues beginnt, jedenfalls ist diese Folgerung ungleich zwangloser als diejenige, dass auf das letzte Lied wiederum das erste folgen müsse (was sich am besten inhaltlich begründen ließe - "Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn" - die Winterreise mit Drehleierbegleitung ist dann sozusagen der AUSGEFÜHRTE zweite Teil: Wanderer und Drehleier im Duett, und die Winterreise wird dann zur Rückschau - aber das nur nebenbei). - In der Musik des letzten Liedes ist der Stillstand, das Innehalten, die Monotonie komponiert. Aus diesem Stillstand erwächst neue geistige Bewegung: Das Finden einer Zukunftsmöglichkeit!
Um es kurz zu machen: Das Ende der Winterreise ist nicht unbedingt tragisch. Selbst, wenn der Leiermann - offenbar ein Outlaw wie der Wanderer selbst - auf Dauer wohl kein angemessener Wanderskamerad sein sollte.