Lieber Helmut!
Zunächst mal vielen Dank für die viele Arbeit, die Du Dir machst.
Fremd sein, das heißt: Auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, keine Geborgenheit in einer Gemeinschaft mit anderen zu finden, kein existentielles Zuhause haben. Wenn dieses Fremd-sein als existentielle Befindlichkeit während der Winterreise erhalten bleibt, dann wird dieser Mensch bei allen Versuchen, sich zu artikulieren, zum Monolog verurteilt sein.
Damit gehe ich nicht ganz konform. Ob ich fremd bin oder nicht, hängt von meinem Ort ab. Ich denke an eine Parole der 1990er Jahre: "Alle Menschen sind Ausländer - fast überall!" Auch als Fremder kann ich Geborgenheit in einer Gemeinschaft mit anderen haben (z. B. als Gastarbeiter mit anderen Menschen gleicher Herkunft), auch als Fremder kann ich ein existienzielles Zuhause haben (eventuell andernorts). Ich bin auch als Fremder nicht unbedingt auf mich selbst zurückgeworfen oder zum Monolog verurteilt. Pardon: Daher finde ich deine Schlussfolgerung offen gesagt weltfremd. Sieh dich in der nächsten Großstadt um, ob die "Fremden" zum Monolog verurteilt sind! - Was Du meinst, ist etwas, was gewichtiger ist als nur "fremd sein". - Vielleicht meinst Du so etwas wie "entwurzelt"?
Der Wanderer der Winterreise ist als Fremder an den Ort seiner Liebschaft eingezogen, und er ist entweder ein Fremder geblieben (zumindest für die meisten Bewohner des Ortes) oder er ist wieder fremd geworden. Die Überhöhungen mit der Geworfenheit, der Nichtgeborgenheit, dem Ahasver-Schicksal sind beim ersten Wort noch nicht erkennbar. Eventuell im Rückblick, wenn man den ganzen Zyklus vor Augen hat - aber dann müsste man ja ganz anders argumentieren als nur mit dem ersten Wort "fremd".
Diese Welt ist in die weiße Farbe des Todes getaucht.
In unserem Kulturkreis ist eher schwarz die Farbe des Todes (außer bei Blumen). Sind Brautkleider denn Todeskleider? Im Orient würde Deine Behauptung eher zutreffen.
Diese Welt ist in die weiße Farbe des Todes getaucht. Der Wanderer muss in der Dunkelheit "sich selbst den Weg weisen".
Es fällt mir schwer, "Dunkelheit" und "weiß" gleichzeitig auf dem Weg des Wanderers zu sehen. Entweder ist es dunkel, und der Schnee bestenfalls ein mattes Grau, oder man sieht weiß. Dann ist es aber nicht (vollkommen) dunkel.
Zwei Drittel der Lieder der Winterreise stehen in Moll. Das letze Lied, "Der Leiermann" steht in a-Moll, - und steht damit in der Quintenbeziehung zunm ersten. Der zyklische, in sich geschlossene Charakter der Winterreise ist zum Beispiel hieran erkennbar.
Die - zutreffenden! - Beobachtungen in den ersten beiden Sätzen sind für sich alleine genommen viel zu schwach, um einen zyklischen Charakter nachweisen zu können. Schubert selbst nannte die "Winterreise" einen Zyklus, da gibt es nichts mehr zu beweisen. Man müsste nun fragen, was Schubert unter einem Zyklus versteht. (Anders herum gefragt: Wenn in einer anderen Serie zwei Drittel aller Lieder in Dur wären und das erste in C-Dur, das letzte in G-Dur, wäre das denn auch hinreichend für den Nachweis des Zykluscharakters? - Zum Beispiel träfen alle Voraussetzungen auf die 32 Klaviersonaten Beethovens zu - 23 in Dur, 9 in moll, erste in f-moll, letzte in C-Dur. Oberdrein ist der erste Ton der ersten Sonate gleich dem letzten Ton der letzten Sonate, ich meine, Du hättest ein ähnliches Argument bei der Winterreise ins Spiel gebracht ... )
Wandern kann man auch dieses Lied nicht: Weder auf die Viertel noch auf die Achtel des Liedes. Mit den Vierteln läuft man zu langsam, mit den Achteln zu schnell. Und das ist der entscheidende Sachverhalt für das Verständnis all dessen, was in diesem Zyklus nachfolgt:
Ich meine, dass man es auf Viertel sehr wohl wandern kann - in einem depressiven Tempo, welches mir nicht ganz fehl am Platze scheint. Jedenfalls wäre eine solche Schrittfrequenz plausibel.
Ich glaube aber, dass jetzt deutlich geworden ist, was ich meinte, als ich in meinen sechs Thesen zur Winterreise von einem in seiner Grundstruktur monologischen Prozess sprach, als der sich die Abfolge der Lieder darstellt. Sie sind Stationen einer Wanderung im seelischen Innenraum eines verlorenen Menschen.
Eigentlich hast Du nur etwas zum ersten Lied gesagt. Wie soll daraus die Prozessstruktur des gesamten Zyklus deutlch werden? Ich habe es jedenfalls nicht verstanden, aber vielleicht liegt das an mir. Ich habe auch nicht verstanden, was Deine Argumente für "Stationen einer Wanderung im seelischen Innenraum eines verlorenen Menschen" sind.
Abermals danke ich Dir für Deine Geduld, Deine Thesen argumentativ zu untermauern.