Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • Hallo,
    um nicht unhöflich zu erscheinen:
    Ich kann mich in diesem Thread mit Beiträgen - ich welcher gewollten bzw. angekommenen Art auch immer - erst dann wieder beteiligen, wenn ich in dem von mir erneut angestoßenen Thread "Schumann op. 39" zu Ende gekommen bin.
    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hier jedoch kam in unterschiedlicher Abstufungen ein feines, aber durchaus scharfes Florett unter Verwendung eines elaborierten Sprachcodes zum Einsatz, wodurch - ich muss es zu meiner Schande gestehen- mir das Lesen dieses vom Thema zwangsläufig abgleitenden Schlagabtausches (z.B. die Assoziation von "Herrn H." zum Brechtschen "Herrn K." drängt sich mir förmlich auf) durchaus so eine Art von literarischem Kunstgenuss bescherte....


    Manches davon könnte vielleicht sogar einen gewissen literarischen Wert in der Form haben, dass man diese Dialoge durch gezielte Auswahl leicht aufbereitet, mit Schauspielern besetzt und in teilszenischen Lesungen aufführt, übrigens unabhängig davon, ob die Autoren selbst diesen speziellen Aspekt ihrer Beiträge (an)erkennen.
    Zwischendurch kämen dann kurze Einspieler der Winterreise...
    So würde die eigentliche Kontroverse über die Art und Weise einer Werkdiskussion zum Kunstlied selbst noch zu einem Kunst-Stück erhoben....jedenfalls ahne ich da ein leichtes (tragikomisches) Potential...
    Anschliessend könnte man es auf dem ZDF-Theaterkanal oder Arte-HD zu später Stunde für das arme Häuflein interessierter Menschen senden....


    Lieber Glockenton,


    manmal wünschte ich mir, man könne einen Thread verzweigen, um off-topic-Themen zwar an Ort und Stelle zu diskutieren, aber gleichzeitig den Lesefluss nicht zu stören. - Vielleicht beim nächsten Upgrade der Forensoftware! - Ansonsten bitte ich, diejenigen Teile der Diskussion, die nicht unmittelbar mit der Winterreise zu tun haben, nicht ernster zu nehmen, als sie gedacht waren.


    Schiller und Schubert mag nicht die glücklichste Kombination sein, dennoch sei Schiller zitiert: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." - Um keine Fußnote zu vergessen: entnommen aus "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)".


    Ich möchte noch anmerken, dass ich die Assoziation mit dem Brechtschen Herrn Keuner verstehe. Aber auch Kafkas Herr K. hat etwas.

  • Zitat

    Zitat von Bernward:


    Wenn ich im Forum bin, fast täglich, lese ich immer im Kunstlied-Forum, weil es mich sehr interessiert und weil ich meinen Horizont erweiter möchte, auch wenn ich selbst kaum etwas dazu schreibe.

    Auch mir, lieber Bernward, geht es so, und deswegen möchte ich heute etwas über ein Exemplar dieses Zyklus schreiben, das ich neu erworben und just gehört habe, von einem von mir sehr verehrten Sänger, den ich selbst schon beim Schleswig-Holstein-Festival kennengelernt habe, wo er sich rührend um seine kranke Frau gekümmert hat und der mich bisher als Opern- und Mahler-Sänger sehr beeindruckt hat, nun auch als Schubert-Sänger, speziell als Interpret der Winterreise, kongenial mit einem Pianisten zusammenarbeitend, den ich auch schon in einer Einspielung mit Hermann Prey in meiner "Winterreisen"-Sammlung habe: Die Rede ist von Thomas Hampson und Wolfgang Sawallisch:



    Immer, wenn ich eine neue Einspielung der Winterreise stürze, höre ich mit besonderer Akribie das Lied Nr. 21, "Das Wirtshaus" und die Nr. 23, "Die Nebensonnen", weil mich diese Lieder in besonderer Weise anrühren wegen ihres ungeheuer melodischen Charakters, ihrer daraus resultierenden tiefen Traurigkeit und aufrüttelnden Wirkung. Einsam auch hier, natürlich "FiDi".


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes: :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Wie Odysseus im Hades, so will ich hier einen Hammel opfern, damit der Geruch des Blutes den Achilles aus dem Totenreich hervorlockt, daß er uns fürder weissage.


    Ich bin mit euch allen uneins über den Wert der Winterreise, was schlicht mit den Gedichten zu tun hat. Zu vieles darin wirkt auf mich unfreiwillig komisch, wie ja weiter oben bereits ausgeführt. Der Grundzug des Zyklus ist betont allegorisch, non-realistisch, aus einer Bildwelt der Querverweise, eine gefakte Versatzstück-Landschaft, der erst Schubert die Naturtöne entlockt.


    Und wie in dieser immerwährenden Winterwelt nur Krähen, Irrlichter, Nachtwild und Öde regieren, so sind auch alle Katzen grau und alle Mädchen untreu.


    Das Mädchen sprach von Liebe
    Die Mutter gar von Eh´, ...


    der generationsübergreifende unverbrüchliche Zusammenhalt fungiert hier lediglich als Ausschluß-Prinzip für Tonio Krögers. Die Liebe liebt das Wandern, und wer wie die Wetterfahne zu fest am Haus befestigt ist, der dreht sich immerfort um die eigene Achse und findet doch kein Fortkommen (wie in Chamissos´ Tragischer Geschichte - der Zopf, der hing ihm hinten).


    Die Wetterfahne, wie Schubert sie vertont, ist eine überbordende und maßlose Haßtirade, ein Emblem der Eifersucht. Substanziell ist darin nichts, und der aufgeblähte und zappelnde Wandrer dem klapprigen Dachreiter ähnlicher als das Mägdelein. Seine ganze Wanderschaft ist ja nichts als eine nutzlose Rundreise um den eignen Bauchnabel, und die Angebetete verblaßt zum Schemen, ohne daß eine Symphonie Phantastique daraus würde.


    Denn es ist nicht zu überhören: Im ganzen Zyklus findet Schubert keine Töne für das verlorene Glück und seine Verlockung. Der fade Frühlingstraum, der Lindenbaum, Schneespuren und Tränen - überall gibt es nur Regression, Ersatzhandlungen und Fetischismus. So wie das hinausgeschriene:


    Im Haus ein treues Frauenbild!


    wirkt alles an dieser Romanze aufgesetzt und behauptet, papiern. Nur wer nie geliebt hat, wird sich in der Selbstgerechtigkeit und Wehleidigkeit der Winterreise zurechtfinden. Welch ein Abstand zu Heines Dichterliebe, die alles ausfüllt, was Müller ausspart. Hier schillert in allen Farben, was in der Winterreise schwarz-weiß klappert.


    Erst wenn man die fundamental fatalistische, kampflos resiginerende Haltung des Wanderers und die Sterilität seiner eingebildeten Liebschaft nachvollzieht, kann man eine Aussage zum politischen Gehalt dieser Allegorie treffen. Da ist man dann aber der Wahnwelt eines Eingesperrten näher als den welschen Freiheitssehnsüchten.


    Hinter dem Vorwurf des Künstlers: "Ihr hab mich nie geliebt!" steht - wahrer und tiefer - Adrian Leverkühns Schuld, nie geliebt zu haben.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Farinelli,


    weitgehende Zustimmung: Manche der offenen Fragen, Widersprüche und Inplausibilitäten der Winterreise lösen sich auf, wenn man das Werk als Protest gegen die Restauration versteht. Ansonsten bliebe wirklich ein armseliger Kerl übrig, der mit seinem Beziehungsproblem nicht angemessen umgehen kann und der offenbar keine Sozialkontakte hat, die ihn in dieser Situation stützen könnten. Der Schritt zur Lächerlichkeit ist wahrlich gering. -


    Unter der Annahme der politischen Allegorie werden die Übertreibungen und Fantasien jedoch plötzlich glaubwürdig.

  • Hinter dem Vorwurf des Künstlers: "Ihr hab mich nie geliebt!" steht - wahrer und tiefer - Adrian Leverkühns Schuld, nie geliebt zu haben.

    Ab einem gewissen Alter ärgert man sich nur noch über Dinge, die man nicht getan hat. Ging es vielleicht Müller und Schubert auch so?


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • ... das wusste schon Boccaccio (1313 - 1375): È [ ... ] meglio fare e pentere che starsi e pentersi. (Il Decamerone, III giornata, novella V)
    (Es ist besser, etwas zu tun, und das zu bereuen, als nichts zu tun, und das Nichtstun zu bereuen.)

  • Zitat

    Im ganzen Zyklus findet Schubert keine Töne für das verlorene Glück und seine Verlockung.


    Wie anders hast du mich empfangen,
    du Stadt der Unbeständigkeit ...


    Auf diese Stelle freue ich mich immer ganz besonders und höre durchaus Töne für das verlorene Glück ... aber jeder hört eben anders ...


    Erst in den letzten Jahren stelle ich zunehmend fest, dass der Text der Winterreise auch unter politischen Aspekten betrachtet wird; so schreibt auch Erika von Borries in ihrer Wilhelm Müller - Biographie:
    "Daß die <Winterreise> auch als politische Lieddichtung begriffen werden muß, in der Müller versteckt unter der Liebesgeschichte auch seine enttäuschte und verratene Vaterlandsliebe thematisiert, mag zunächst überraschen, macht aber den maßlosen Schmerz verständlicher, der allein als Folge einer zerbrochenen Liebe fast übertrieben scheint."


    Mit dieser Argumentation habe ich einige Schwierigkeiten, weil dieser durch und durch "private Schmerz" einer zerbrochenen Liebe als nicht so ganz schlimm verharmlost wird. Aber auch hier wird vielleicht unterschiedlich gelesen und interpretiert ...

  • Liebe Freunde,


    mein zwiespältiger Eindruck der Winterreise läßt sich vielleicht besser auf einem benachbarten Terrain, dem der Malerei, veranschaulichen. Ich denke an die Bilder von Caspar David Friedrich, die ja den Zeitgenossen durchaus gesucht morbid, abseitig, konservativ sich anbiedernd ("Das Kreuz im Gebirge") usw. erschienen. Außer Frage, daß diese Bilder allesamt ausgesprochen faszinierend sind: aber dennoch eignet ihnen der Charakter von zweideutigen Andachtsbildern, und in den Winterlandschaften mit ihren Krähen, Krypten und Katafalken weht etwas vom Geist der Winterreise.


    Die gefährliche Nähe zum Erbauungskitsch und zur Thesenmalerei ist nicht ganz zu tilgen; denn als ironisch-vertrackte Bildarchitektur irgendwo zwischen Pieter de Hooch und Peter Greeneway allein läßt sich das Friedrichsche Œuvre nicht deuten; zu sehr zehrt es vom Affektgehalt existenzieller und letzter Dinge, zu sehr ist Friedrich Wegbereiter des Symbolismus.


    Auch Friedrich wird gerne weltanschaulich und politisch gedeutet (er selbst äußerte sich ironisch zu den "beiden Männern bei der Betrachtung des Mondes": "Die machen politische Umtriebe" - in Anspielung auf die deutschnationale Tracht der lunatischen Herren).


    "Selig wer sich vor der Welt
    ohne Haß verschließt,
    einen Frund am Busen hält
    und mit dem genießt ..."


    - die philologische Brücke zum politischen Subtext steht poetisch denn doch auf recht wackligen Beinen. Mutatis mutandis auch in der Winterreise ...


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    auf Deine Beiträge 484 + 489 will ich nicht im Einzelnen eingehen, aber Folgendes nur so als "Gedankenanstoß" (und dabei beschränke ich mich auf die Lieder 1 + 2 des Zyklus, sonst kommen m. E. "Ausschließlichkeitsaussagen" heraus):


    Der Dichter Müller der „Schönen Müllerin“ und „Winterreise“ war in Luise Hensel (für mich sehr schwer „einzuordnen“) verliebt ohne Widerhall - und glaublich Freimaurer, weswegen ich meine Frage mit ??? versehe:


    Wenn Müller im 1. Gedicht den Wanderer von der „von Gott so gemachten Liebe“ sprechen lässt und im 2. Gedicht die „bürgerlichen Interessen“ dagegen setzt--------


    könnte der Dichter nicht den Wanderer als den Menschen gezeichnet haben wollen, der an die „von Gott so gemachte Liebe“ glaubt und sie als der menschlichen Natur zugehörig sieht und als Geschöpf nicht dagegen „auf zu mucken“ sich berechtigt fühlt, aber sich gegen die bürgerliche Verlogenheit wendet und daher in seinem Wesen als „Tor“ zu betrachten ist, der die (bürgerliche, oberflächliche) Welt gleich von Anfang an zwangsläufig als Fremder betreten muss?


    Die Wetterfahne steht für mich zeitlich nicht nach Gute Nacht, sondern Wetterfahne ist nur die Erklärung – quasi ein Gedankeneinschub - seiner Enttäuschung aus Gute Nacht.


    Im Bild gesprochen: Der Wanderer ist in Gute Nacht hinausgeworfen worden und steht isoliert allein. Er zieht in und mit der Wetterfahne Resümee eines Vorganges, der sich schon ereignet hat und erkennt, er ist durch das bürgerliche Interesse (nicht durch die fehlende Liebe seiner Geliebten, es steht ja nicht, dass die reiche Braut eine Liebende sei) abserviert worden.


    Als „Tor“ würde er ja die im Menschen angelegte Vergänglichkeit der Liebe für die/den aktuell Geliebte/n akzeptieren (auch er war ja der Faszination des „Mai“ erlegen, mit „manchem Blumenstrauß“); das Wandern muss ja nicht immer so kurzfristig erfolgen, dass sich aus der aktuellen Liebe nicht auch eine dauerhafte Bindung entwickeln kann – welche Liebe überdauert ein Leben lang, zum Überdauern muss sich die Liebe wandeln, dann braucht sie auch nicht mehr wandern – und als Geschöpf hadert er auch nicht, warum die Liebe anlagebedingt wandert.


    Da er aber die Folgen der bürgerlichen Interessen noch nicht kennen gelernt hat („er hätt’ es eher merken sollen“), geht er als „Tor“, als Naiver und damit als Fremder in die bürgerliche Welt, in der er sich noch nicht auskennt - und das endet katastrophal. Deswegen „Fremd bin ich eingezogen…“ in die bürgerliche Welt. Und ich meine, in der letzten Strophe von Gute Nacht lesen/fühlen zu können, dass der Wanderer seine Geliebte – überspitzt ausgedrückt – bedauert („damit du mögest sehen, an dich hab ich gedacht“ – du armes Kind, wenn du aufwachst aus deinem Traum, es gäbe Besseres als Liebe). Dass er in der Folge über den Verlust seiner Liebe zerbricht, ist ursachenunabhängig – und da er ja schon erlebt hat, dass er Blumensträuße bekam (wer ist da gewandert?), ist er durch das Verhalten der bürgerlichen Interessen, die wahre Liebe (immer wieder?) fremd verursacht zerstört (schwingt da Gesellschaftskritik mit?), besonders verstört.


    Und ich meine nur den Text – wie Schubert zum Text steht, ist für mich eine ganz andere Frage.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Lieber Secondo,


    der Unterschied zwischen Helmuts oder Deinem Ansatz einerseits zu andererseits meinem Blickwinkel ist der: Ihr versucht euch in die Winterreise "einzufühlen" und von da aus vermeintliche Widersprüche oder Unebenheiten aufzulösen. Das ist für sich nicht verwerflich.


    Ich muß daher voranschicken, daß ich mich dieser Art psychologischer Einfühlung prinzipiell widersetze und methodologisch große Vorbehalte dagegen hege. Die Liebe etwa in all ihren Aspekten ist ein zu epidemisch und gemeinhin kolportiertes sujet, als daß nicht ein jeder aus eigenem Erfahrungsschatz alles hinzugeben könnte, um sich aus einem noch so dürren Gerüst einen Roman auszuspinnen.


    Daß etwa der Wanderer, wie die Liebe, das Wandern vorzieht, oder daß das "Will dich im Traum nicht stören" einen fast abfälligen Beiklang von "Schlaf du nur ruhig weiter" hat, sind alles treffende und wertvolle Beobachtungen.


    Wenn wir uns aber, denn das war mein Thema, der Liebesgeschichte selbst zuwenden, so halten wir folgendes in Händen:


    Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh´


    Ihr Kind ist eine reiche Braut


    ... ihrer Tritte Spur
    Wo sie an meinem Arme durschritt die grüne Flur


    Und ach, zwei Mädchenaugen glühten!



    Das ist schon alles, also weniger als nichts, und verbietet schon von daher, den eminent narzißtischen, selbstbezüglichen Charakter der Litaneien und des Lamentierens darüber außer acht zu lassen. "Bürgerliche Wertewelten" sind denn vielleicht doch etwas zu hoch gegriffen für diese clichierte Basis eines Not-Plots, der zumindest mein Mitgefühl mit dem Winterreisenden arg reduziert. Wenn sich hier einer einfühlen möchte, dann bitteschön textredlich in die Pathologie eines amoureux imaginaire. Die "wahre Liebe" ist keineswegs "nicht von dieser Welt", sondern im Gegenteil aus Fleisch und Blut, das ist mein Axiom. - Ich kann daher die Liebe des Wanderers nicht, wie Du, ernst nehmen. Allenfalls möchte es sein, daß hier tatsächlich zensurbedingt ein notdüftiges Mäntelchen um bürgerlich-freiheitliche Topoi herumgestrickt wurde.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Farinelli,


    "narzisstisch" ist in der Tat ein sehr gut zutreffende Beschreibung für die ca. siebzigminütige Bespiegelung des eigenen Leidens! Auch dies ist nur durch die politische Brille halbwegs vernünftig nachzuvollziehen. -


    Ich bin mittlerweile völlig überzeugt davon, dass Wilhelm Müller politische Absichten mit der "Winterreise" (und anderen Texten des reisenden Hornisten) hatte - ein großangelegtes Protestwerk gegen die Restauration und ihre geheimdienstlichen Methoden ("Krähen", "Vögel", "Hunde").


    Bei Schubert bin ich mir noch nicht sicher, aber ich bin noch am Stöbern. Immerhin hat Schubert in allen seinen Messen den Textabschnitt "et in unam sanctam catholicam et apostolicam eccelesiam" im Credo nicht vertont! Die Kirche hat das Metternich-System gestützt ...


    Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision.

  • Ich muß daher voranschicken, daß ich mich dieser Art psychologischer Einfühlung prinzipiell widersetze und methodologisch große Vorbehalte dagegen hege.


    Hallo, lieber farinelli,


    kann es sein, dass Du den Hinweis, Müller war Freimaurer, überlesen hat?


    Müller wird doch wohl vor Abfassung des Zyklus' eine eigene Vorstellung, ein eigenes Bild von dem Wanderer gehabt haben, mit welchen Eigenschaften, Einstellungen, charakterlich geprägten Verhaltensweisen er ihn zeichnen will, um der Gestalt "Leben, Fleisch und Blut" zu geben. Die ganze Winterreise ist nicht tatsächlich nach zu wandern, aber um den seelischen Vorgängen einen gedanklichen Raum zu geben, muss doch der Wanderer personifiziert werden und ein entspr. Hintergrund muss da sein, damit der Leser erfahren kann, wes "Geistes Kind'" da vorgeführt wird.


    Ob und ggfs. wie ich mich mit dem Wanderer identifiziere, ist nicht die Frage, aber ich kann/muss versuchen, mich in die von Müller für ihn gedachte Rolle einzufühlen, um die Gedichte überhaupt verstehen zu können. Und ich meine, dass Müller aus seiner Weltsicht eben dieses (Zerr-?) Bild entworfen und "durchgespielt" hat um zu zeigen, so kann's gehen (häufig?).
    Was aus dem so skizzierten Wanderer ins Heute übertragen/-nommen werden kann, ist wieder eine andere Frage, ebenso, wie Schubert damals die Gedichte gesehen hat. Aber grundsätzlich können Vergleiche gezogen werden, wie Menschen z. B. mit Verlustängsten usw. umgehen, denn solche Verhaltensweisen sind m. E. "ziemlich" alt.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

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  • "narzisstisch" ist in der Tat ein sehr gut zutreffende Beschreibung für die ca. siebzigminütige Bespiegelung des eigenen Leidens! Auch dies ist nur durch die politische Brille halbwegs vernünftig nachzuvollziehen. -


    Hallo Wolfram,


    mich würde interessieren, wie Du unter Deiner Brille die Mahler'schen Klavier- und Orchesterlieder beurteilst?


    Bei Schubert bin ich mir noch nicht sicher, aber ich bin noch am Stöbern. Immerhin hat Schubert in allen seinen Messen den Textabschnitt "et in unam sanctam catholicam et apostolicam eccelesiam" im Credo nicht vertont! Die Kirche hat das Metternich-System gestützt ...


    Warum hat er dann wohl überhaupt lat. Messen vertont? Das macht nur dann Sinn, wenn man den gläubigen Menschen von Anhängern einer Religionsgemeinschaft unterscheidet. Und diese Trennung ist heute - auch unter anerkannten Theologen - weit verbreitet. Dies politisch zu werten, wie Du es machst???



    Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision.


    Da darf wohl ergänzt werden: Deiner Meinung nach.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Zitat aus Beitrag 492:


    "Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision."


    Dieses Bild stammt aus der Zeit Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Es hier im Forum "einer Revision" unterziehen zu wollen, ist ein reichlich seltsames Unterfangen. Man muss kein Schubertkenner sein, - es genügt, einen Blick in eine neuere Schubertbiographie zu werfen, um zu erkennen, dass dies ein ziemlich alter Hut ist, über den in der Literatur über Schubert inzwischen kein Mensch mehr auch nur ein Wort verliert.


    Ein Hinweis für diejenigen, die sich über Schuberts künstlerische Grundhaltung und die Art und Weise, wie er auf auf die politischen, gesellschaftlichen und geistigen Gegebenheiten seiner eigenen Lebenszeit reagiert hat, informieren möchten:


    Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit. Laaber-Verlag, 3. Aufl. 2002. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, weil es den heutigen Kenntnisstand der Schubertforschung vollinhaltlich reflektiert.

  • Lieber Zweiterbaß,


    Du schreibst:
    aber ich kann/muss versuchen, mich in die von Müller für ihn gedachte Rolle einzufühlen, um die Gedichte überhaupt verstehen zu können.


    Kann ja, muß nein. Bei der literarischen Beurteilung, anders als bei der Bibelexegese, ist der Text nicht sakrosankt. Ich darf auch fragen, ob ein Plot trägt, darf daran die Verhältnismäßigkeit einer Metaphorik beurteilen, darf die Konstruktion einer Figur wie jener des Wanderers auf Topoi abklopfen, um das Individuelle überhaupt dagegen abgrenzen zu können. Das Problem bei der Einfühlung ist, daß die intakte Subjektivität darin immer schon vorausgesetzt wird - ein hermeneutischer Zirkel erster Güte.


    Die Texte der Winterreise beziehen ihre überspannten Tableaus vielfach aus der Überkreuzung von landschaftlichen und Empfindungs-Themen. Ich denke vor allem an die gefrornen Tränen, die gefrornen Bilder im Herz, die ins Eis und in die Baumrinde geritzten Worte, die verlorenen Spuren im Schnee und die Weglosigkeit der verschneiten Pfade, die Bäll und Schloßen werfenden Krähen, das im Reif ergraute Haar usw. usf. Das nennt man für die Lyrik Überstrukturierung und möchte es manchmal insgeheim Manierismus nennen.


    Ein für mich besonders ungenießbares Stilmittel der Winterreise ist die Apostrophe:


    "Will dich im Tarum nicht stören" - das mag ja noch angehen. Aber:


    "Ei Tränen, meine Tränen"


    "Schnee, du weißt von meinem Sehnen"


    "Der du so lustig rauschtest, du heller wilder Fluß"


    "Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm so wild und so verwegen"


    "Krähe, wunderliches Tier, willst mich nicht verlassen"


    - das sind für mich ein paar der Beispiele zu viel, sind Beispiele schlechter Poesie. Zu den gesuchten Konstruktionen, z.B. in "Gefrorne Tränen" und "Wasserflut", habe ich mich weiter oben bereits geäußert. Einer Literaturbetrachtung, die mich veranlassen möchte, vor der Genialität Wilhelm Müllers niederzuknien, werde ich mich schwerlich beugen.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat von Wolfram: "Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision."


    Dieses Bild stammt aus der Zeit Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Es hier im Forum "einer Revision" unterziehen zu wollen, ist ein reichlich seltsames Unterfangen. Man muss kein Schubertkenner sein, - es genügt, einen Blick in eine neuere Schubertbiographie zu werfen, um zu erkennen, dass dies ein ziemlich alter Hut ist, über den in der Literatur über Schubert inzwischen kein Mensch mehr auch nur ein Wort verliert.


    Lieber Herr Hofmann,


    gerne stimme ich Ihnen vollinhaltlich zu - dennoch meine ich, vernommen zu haben, dass Sie den alten Hut, über den in der Literatur Ihren Worten zufolge kein Mensch mehr ein Wort verliert, selbst zu tragen schienen:


    Schubert war als Künstler ein unpolitischer Mensch. Seine Musik, insbesondere seine Lieder, verstehen sich als Akt der inneren Emigration aus dem restaurativ-repressiven System der Metternicht-Ära in eine Gegenwelt der Kunst. Repräsentatativ dafür sei auf das Lied "AN DIE MUSIK" (Text Franz Schober) verwiesen.


    Aber ich freue mich natürlich über den Wandel der Überzeugungen, der sich zwischen den beiden zitierten Beiträgen offenbar ereignete.


    Zitat von »Wolfram«: "Bei Schubert bin ich mir noch nicht sicher, aber ich bin noch am Stöbern. Immerhin hat Schubert in allen seinen Messen den Textabschnitt "et in unam sanctam catholicam et apostolicam eccelesiam" im Credo nicht vertont! Die Kirche hat das Metternich-System gestützt ... "
    Warum hat er dann wohl überhaupt lat. Messen vertont? Das macht nur dann Sinn, wenn man den gläubigen Menschen von Anhängern einer Religionsgemeinschaft unterscheidet. Und diese Trennung ist heute - auch unter anerkannten Theologen - weit verbreitet. Dies politisch zu werten, wie Du es machst???


    Lieber Zweiterbass,


    oh - ich wollte dies noch nicht politisch werten! Ich habe nur mehrere Beobachtungen nebeneinander gestellt.


    Zitat von »Wolfram« : "Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision."


    Da darf wohl ergänzt werden: Deiner Meinung nach.


    Lieber Zweiterbass,


    sicher meiner Meinung nach, aber nicht nur:

    Zitat von Wolfram: "Das Bild des biedermeierlich-bürgerlich-brav zurückgezogenen und unpolitischen Komponisten, der auch gerne als leicht weltfremd dargestellt wird, bedarf jedenfalls der Revision."


    Dieses Bild stammt aus der Zeit Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Es hier im Forum "einer Revision" unterziehen zu wollen, ist ein reichlich seltsames Unterfangen. Man muss kein Schubertkenner sein, - es genügt, einen Blick in eine neuere Schubertbiographie zu werfen, um zu erkennen, dass dies ein ziemlich alter Hut ist, über den in der Literatur über Schubert inzwischen kein Mensch mehr auch nur ein Wort verliert.


  • Ein Hinweis für diejenigen, die sich über Schuberts künstlerische Grundhaltung und die Art und Weise, wie er auf auf die politischen, gesellschaftlichen und geistigen Gegebenheiten seiner eigenen Lebenszeit reagiert hat, informieren möchten:


    Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit. Laaber-Verlag, 3. Aufl. 2002. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, weil es den heutigen Kenntnisstand der Schubertforschung vollinhaltlich reflektiert.


    Hallo,


    nachdem ich leider über keine eigene umfangreiche Bibliothek verfüge und das genannte Buch in der hiesigen Musikbibliothek bis 25.03 ausgeliehen ist, kann ich erst Ende März fundiert Stellung nehmen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass,


    das von Herrn Hofmann empfohlene Buch ist sicher die Anschaffung wert, wenn man sich für Schuberts Werke interessiert! Das gilt übrigens für mehrere Bände dieser populärwissenschaftlichen Reihe.


    Wer Spezielleres zur Winterreise sucht, wird in der Wilhelm-Müller-Biografie von Erika von Borries fündig (C. H. Beck 2007). Schon älter, aber noch lesenswert sind auch die Studien zu den beiden Schubert-Zyklen von Arnold Feil (Reclam, 1975, 2. bibliographisch ergänzte Auflage 1996).


    Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund ist die Darstellung von Thomas Nipperdey "Deutsche Geschichte", Band I: 1800-1866, sicher immer noch unübertroffen. Ein Klassiker und ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung- DER Nipperdey halt. Steht wahrscheinlich mehrfach in Deiner Bibliothek. Als Ergänzung darf ich auf das kleine "Metternich"-Büchlein von Wolfram Siemann hinweisen, der gerade an einer umfassenden Biografie dieses Staatsmanns arbeitet (ebenfalls C. H. Beck, 2010).

  • Zitat von »zweiterbass« Zitat von »Wolfram«: "Bei Schubert bin ich mir noch nicht sicher, aber ich bin noch am Stöbern. Immerhin hat Schubert in allen seinen Messen den Textabschnitt "et in unam sanctam catholicam et apostolicam eccelesiam" im Credo nicht vertont! Die Kirche hat das Metternich-System gestützt ... "
    Warum hat er dann wohl überhaupt lat. Messen vertont? Das macht nur dann Sinn, wenn man den gläubigen Menschen von Anhängern einer Religionsgemeinschaft unterscheidet. Und diese Trennung ist heute - auch unter anerkannten Theologen - weit verbreitet. Dies politisch zu werten, wie Du es machst???


    Lieber Zweiterbass,


    oh - ich wollte dies noch nicht politisch werten! Ich habe nur mehrere Beobachtungen nebeneinander gestellt.


    Hallo Wolfram,


    und dabei was zum Ausdruck bringen wolltest? Wir wollen uns doch mal ansehen, was dem zitierten Beitrag von Dir voranging:

    Ich bin mittlerweile völlig überzeugt davon, dass Wilhelm Müller politische Absichten mit der "Winterreise" (und anderen Texten des reisenden Hornisten) hatte - ein großangelegtes Protestwerk gegen die Restauration und ihre geheimdienstlichen Methoden ("Krähen", "Vögel", "Hunde").


    Darauf folgte der o. g. und zitierte Beitrag von Dir - und da hast Du nur Beobachtungen nebeneiander gestellt? Wenn dem so ist, dann...


    Wenn man Beiträge so interpretiert, sollte man sie nicht als Argument für eigene Ansichten verwenden. Das von Dir gezeichnete Schubertbild wird in der Beitragsanwort als "alter Hut" bezeichnet und dabei auf ein dort genanntes Buch verwiesen.


    Zitat aus "Franz Schubert in seiner Zeit" von Ernst Hilmar, Verlag H. Böhlaus Nachf. 1985, ISBN 3-205-06400-3


    "...Beweis seiner...mangelnden politischen Integrität lieferte (er) im Frühjahr 1820, als er in der Wohnung seines Freundes und ehemaligen Konviktkollegen Johann Senn (Einschub: Dieser war neben 2 Anderen Hauptbeschuldigter) festgenommen wurde...Schon Gasthausrunden - und der Schubertkreise traf sich mit Vorliebe in verschiedenen Gaststäten - machten sich verdächtig...außer Verbalinjurien konnte ihm nichts nachgewiesen werden, und so wurde er bald wieder enthaftet" Mit der Folge, dass politische Resignation sein Verhalten bestimmte und er mit dem 1822 aufgeführten Gelegenheitswerk "Am Geburtstag des Kaisers D748" seine politische Integrität unter Beweis gestellt hat (Sinnzitat).
    Im Übrigen ist das Vorwort zu diesem Buch und das 1. Kapitel "Politisches und Unpolitisches in Schuberts "Lehrjahren"" in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich.
    (Joschka Fischers Steinewurf war für seine späteren politischen Einsichten ja auch nicht prägend - und Schubert dürfte vom Werfen von Steinen, was damals nicht "in" war, d. h. von extremen politischen Ansichten und Handlungen weit entfernt gewesen sein- auch sein umfangreiches Werk - in diesem kurzen Leben! - ließ ihm für Nebensächlichkeiten m. E. sicher keine Zeit.)


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Zitat aus "Franz Schubert in seiner Zeit" von Ernst Hilmar, Verlag H. Böhlaus Nachf. 1985, ISBN 3-205-06400-3


    Im Übrigen ist das Vorwort zu diesem Buch und das 1. Kapitel "Politisches und Unpolitisches in Schuberts "Lehrjahren"" in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich.


    Lieber Zweiterbass,


    welch ein herrlich erhellendes Zitat! Kannst Du noch mehr über das Buch sagen? Leider kenne ich es nicht. Es ist ja offenbar verschieden von dem Buch desselben Autors mit dem Titel "Schubert"?

  • Lieber Herr Hofmann,


    gerne stimme ich Ihnen vollinhaltlich zu - dennoch meine ich, vernommen zu haben, dass Sie


    Hallo Wolfram,


    nachdem Du schon seit 2006 im Forum bist, ich außerdem in d. J. lesen konnte, dass Du noch joggen kannst, ich deswegen davon ausgehen kann, dass Du noch nicht an Altersvergesslichkeit leidest und Du daher noch erinnern müßtest, dass hier im Forum das "Du" ansagt ist, was soll der Sch... (Ich hoffe, die Argumentationskette ist ausreichend! und besser als...?)

    das von Herrn Hofmann empfohlene Buch ist sicher die Anschaffung wert, wenn man sich für Schuberts Werke interessiert! Das gilt übrigens für mehrere Bände dieser populärwissenschaftlichen Reihe.


    Ich liebe seit über 55 Jahren klassische Musik und bin seit gut 50 Jahren ein Kunstliedfreund - auch und besonders Schubert - also würde ich mir das Werk kaufen, wenn ich mich so für Schubert so interessieren würde wie Du (431,446 läßt grüßen) ------und mein begrenztes finanzielles Buget mich nicht eine andere Wahl treffen lassen würde. Ob es sich dabei um ein Buch in der von Dir klassifizierten Art handelt, dazu werde ich dann Stellung nehmen, wenn ich das Buch über die Bibliotheksausleihe erhalten habe.
    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo Wolfram,


    nachdem Du schon seit 2006 im Forum bist, ich außerdem in d. J. lesen konnte, dass Du noch joggen kannst, ich deswegen davon ausgehen kann, dass Du noch nicht an Altersvergesslichkeit leidest und Du daher noch erinnern müßtest, dass hier im Forum das "Du" ansagt ist, was soll der Sch... (Ich hoffe, die Argumentationskette ist ausreichend! und besser als...?)


    Lieber Zweiterbass,


    von der Fähigkeit des Joggens auf die geistige Leistungsfähigkeit, insbes. auf die Zuverlässigkeit des Langzeitgedächtnisses zu schließen, erinnert mich an andere Schlussfolgerungen, derer ich in den letzten Tagen und Wochen gewahr wurde. Mal nebenbei: Die ältesten Marathonläufer sind zwischen 90 und 100 Jahre alt und sind in weniger als sechs Stunden im Ziel. Aber wir sind wieder mal off topic.


    Ich liebe seit über 55 Jahren klassische Musik und bin seit gut 50 Jahren ein Kunstliedfreund - auch und besonders Schubert - also würde ich mir das Werk kaufen, wenn ich mich so für Schubert so interessieren würde wie Du (431,446 läßt grüßen) ------und mein begrenztes finanzielles Buget mich nicht eine andere Wahl treffen lassen würde.


    Ich bin nicht mal halb so alt wie die o. g. Läufer. Ich liebe klassische Musik also noch nicht so lange wie Du. Bei mir stehen weder Schubert noch das Kunstlied im Vordergrund des Interesses - das liegt für Organisten mit Vorlieben für lutherische Liturgien auch eher abseits. Dennoch hat mich das genannte Buch interessiert - warum auch nicht?

  • Lieber Primo, es antwortet Dir Secondo,


    neben den von Dir zitierten Textstellen wäre ein Lesen zwischen den Zeilen hilfreich, ohne in den Verdacht zu geraten, "sich einen Roman auszuspinnen" und was auch Nichts zu tun hat mit der von Dir angemahnten/abgelehnten "Art von psychologischem Einfühlen". Außerdem sind für mich Bibeltextstellen überhaupt nicht sakrosankt (ein Grossteil der "Wunder" im NT sind für mich Bilder/Gleichnisse, im AT die Psalmen und Propheten von der Genesis ganz zu schweigen).


    Die "wahre Liebe" ist die vom Schöpfer gewollte und schließt keine, aber auch wirklich keine dem Menschen innewohnenden Verhaltensweisen aus. Wenn Du dies sprachlich ausbreiten willst, bitte schön; für mich und mein Verständnis genügen die üblichen Andeutungen, damit ist nicht der heute gewöhnlich, gewöhnliche Sprach- und Ausdrucksgebrauch gemeint.


    Wie und ob ich die "Liebe des Wanderers ernst nehme" hängt nicht an meinen persönlichen Erfahrungen, sondern an dem, was Müller im Text und zwischen den Zeilen ausgedrückt hat. Dabei erhebt sich für mich die Frage, "ob/wer sich einen politischen Roman ausspinnt".


    Mit welchem Gefühlsüberschwang damals gefühlt, gedacht und geschrieben wurde ist bekannt und es kam zu den heute so empfundenen Übertreibungen - einen Vergleich mit "Thomas Bernhard"** will ich aber so direkt nicht ziehen, "sein Anlass dazu ist ein anderer".


    Fazit - Unfug* - Ergebnis: Um Fehlschüsse aus der Hüfte zu vermeiden, sollte Gedicht für Gedicht betrachtet werden um hier zu einem "nahe am Text" gelegenen Ergebnis zu kommen, was dabei die synoptische - Unfug* - zusammenschauende Betrachtung des Zyklus nicht ausschließt und am Ende auch nicht konsensfähig - Unfug* - übereinstimmend sein muss, aber dem Werk gerecht werden sollte, bei aller zu begründender individueller Meinungsverschiedenheit (Meinungsterror ist verpönt). Und dabei würde zu unterscheiden sein:
    1. Was hat Müller schrieben und was hat er u. U. als Metapher - Unfug* - als übertragene Bedeutung sagen wollen?
    2. Wie verstehen wir das was Müller geschrieben hat?
    3. Wie verstehen wir die u. U. übertragene Bedeutung Müllers?
    4. Wie hat Schubert das Gedicht verstanden?
    5. Wie verstehen wir die Vertonung Schuberts, was spielt da von 1 - 4 mit hinein?


    Dieses Vorgehen würde verhindern, dass beim Disput - Unfug* - Streiten über das Verständnis Schubert'sche Musik ein(e) endlose(r) Diskurs - Unfug* - Erörterung über zuvor nicht geklärtes Textverständnis stattfindet.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass
    (oder besser Secondo?)


    * Es wäre denkbar, dass Leser (wie viele?) mit deutschen Wörtern gewohnt sind umzugehen.
    ** Hoffentlich fliege ich wegen Erwähnung des Namens nicht aus dem Forum...

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Secondo,


    so nenne ich Dich übrigens bloß in Anlehnung an den Buona Vista Social Club und den Spitznamen Compay Secundo. Ich spiele hier keinerlei erste Geige.


    Die von Dir bemühte Vokabel Unfug beziehe ich insofern auf mich, daß ich mich eben vielem bloß ungerne füge.


    Eine Liebe, die nicht sein darf und um ihrer selbst willen in der Imagination am Leben erhalten wird, was den Liebenden schließlich aus der Bahn wirft, finden wir mit allen psychopathologischen Implikationen etwa im Werther gezeichnet.


    In der Manier Helmuts könnte ich eine ganze vergleichende Studie anfügen, die Goethes Helden mit dem Protagonisten Müllers zur Deckung bringt.


    Im Brief vom 16. Junius schreibt Werther:


    Ja, wohl bin ich nur ein Wanderer, ein Waller auf der Erde! Seid ihr denn mehr?


    Doch schon der erste Satz des Briefromans lautet:


    Wie froh bin ich, daß ich weg bin!


    Wer dächte hier nicht an die Eingangsverse zur Winterreise, den fremden Ein- und Auszug? - Im Brief vom 8. Februar heißt es bezeichnend:


    Wenn´s nun recht regnet und stöbert und fröstelt und taut - ha! denk ich, kann´s doch zu Hause nicht schlimmer werden, als es draußen ist, oder umgekehrt, und so ist´s gut.


    Und am 30. November heißt es:


    Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein.


    Selbst der Lindenbaum ist der Ableger der berühmten, im Brief vom 15. September gefällten Nußbäume, unter denen Werther dereinst mit seiner Lotte gesessen. Und die unfreiwillig schlechte Poesie hat ihr Vorbild auch im Briefroman, in den Ossian-Einlagen:


    COLMA
    Es ist Nacht. - Ich bin allein, verloren auf dem stürmischen Hügel. Der Wind saust im Gebrige. Der Strom heult den Felsen hinab. Keine Hütte schützt mich vor dem Regen, mich Verlaßne auf dem stürmischen Hügel. (...) Wühlet das Grab, ihr Feunde der Toten, aber schließt es nicht, bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein Traum, wie sollt´ ich zurückbleiben?


    "Auf einen Totenacker", heiß es in der Winterreise, "hat mich mein Weg gebracht". Weiter ist auch Werther nicht gekommen - kein Geistlicher, so heißt es lapidar, hat ihn begleitet.



    Dennoch, lieber Secondo, ist das bloß eine Satire, denn was den Werther zu einem Werk der Weltliteratur macht, ist die Gestaltung einer Liebeshandlung, nicht die topische Illustration der gestimmten Landschaft. Werthers Lotte ist dadurch unsterblich geworden; während die Winterreise einen Fundus an vermeintlich poetischen Versatzstücken aneinanderreiht, ohne den schuldigen Beweis für die Genese dieses Abdriftens zu liefern. Die entwicklungslose Statik des Gedichtzyklus entzieht sich per se einer psychologischen Betrachtung.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Von zweiterbass wurde die These in diese Diskussion eingebracht, dass ohne eine Einfühlung in das Werk die Winterreise nicht wirklich zu verstehen sei. Farinelli hat das partiell in Frage gestellt mit der Kurzformel: "Kann ja, muss nein" (Beitrag 496).


    Grundsätzlich geht es hier um ein hermeneutisches Problem im speziellen Fall der Rezeption von Kunstwerken. Auf dieser allgemeinen Ebene kann dieses hier aber nicht diskutiert werden, also muss es heruntergeholt werden auf die Ebene der "Winterreise". Hierbei ist irrelevant, wie man dieses Werk in seiner Bedeutung als musikalisches Kunstwerk beurteilt. Es ist auch irrelevant, ob man, wie das farinelli tut, die Gedichte Müllers in ihrer Metaphorik kritisch sieht, ober ob man sie als durchaus gelungene poetische Leistung beurteilt. Es geht allein um die musikalische Struktur des Schubertschen Werkes und um den semantischen Gehalt der ihm zugrundeliegenden Texte.


    Die Gedichte der Winterreise sind, poetologisch betrachtet, sprachliche Gebilde, in denen sich ein lyrisches Ich mit den Mitteln der lyrischen Sprache (Bilder, Metaphern u.a.) artikuliert. Man kann sie in ihrer Abfolge rein psychologisch als eine ichfixierte Artikulaltion von Wahnvorstellungen sehen, man kann sie als Psychogramm eines existentiell vereinsamten und auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen lesen, als sprachlich-lyrische Anatomie der Melancholie usw.


    Fest steht jedenfalls dass es sich um Aussagen eines lyrischen Ichs handelt und dass Schubert sie als solche gelesen hat. Er hat dieses Werk als "einen Zyklus schauerlicher Lieder" bezeichnet und Joseph von Spaun gegenüber bekannt: "Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war". Daraus darf man schließen, dass es sich bei der Komposition der Winterreise um einen Fall von unmittelbarer existentieller Betroffenheit bei Schubert handelte. Diese Gedichte sprachen ihm aus der Seele, und er nahm sie als Grundlage für die Komposition eines Werkes, in dem er seine damalige existentielle Befindlichkeit in Form einer expressiven Gestaltung des Wanderermotives musikalisch zum Ausdruck brachte.


    Aus diesem Grund ist auszuschließen, dass der "Winterreise" eine wie immer geartete politische Botschaft inhärent ist ( etwa , wie das hier behauptet wurde, in Form einer Kritik am "System Metternich"). Die semantische Ebene der Texte Müllers bietet für eine solche These keinerlei Ansatzpunkt, zudem widerspricht sie der kompositorischen Grundhaltung Schuberts. Dieser entwickelte im Rahmen des sog. "Schubertkreises" in Anlehnung an die Ideen Friedrich Schlegels und des Novalis die Idee eines "poetischen Vaterlands", das als utopischer Gegenentwurf zur als auswegslos empfundenen Atmosphäre der Restauration konzipiert wurde. Aus einem idealistisch-romantischen Impuls heraus flüchtete man aus dieser in die Freiheit eines "Reichs der Kunst". Insofern entspricht die Einstufung Schuberts als "unpolitischer Komponist", wie sie hier in einem früheren Beitrag vorgenommen wurde, tatsächlich dem heutigen Bild Schuberts in der Schubertforschung. (Vgl. hierzu: Beitrag 497, erstes und zweites Zitat).


    Wenn aber, und damit ist nun der Kernpunkt dieses Themas erreicht, im Zentrum der Winterreise ein sich selbst artikulierendes lyrisch-musikalisches Ich steht, dann kann ich den Gehalt der Lieder nur erfassen, wenn ich mich als reales Ich in dieses Kunst-Ich einfühle. Hemeneutisch betrachtet, handelt es sich in diesem Fall um eine partielle "Horizontverschmelzung". Die Alternative dazu, eine aus der Distanz reiner Rationalität erfolgende Rezeption, würde nur die nur die strukturelle Oberfläche des Werks erfassen. Sie liefe auf eine dimensionale Verkürzung und Verflachung der künstlerischen Botschaft des Werkes hinaus.


    Das Argument farinellis: "Das Problem bei der Einfühlung ist, daß die intakte Subjektivität darin immer schon vorausgesetzt wird - ein hermeneutischer Zirkel erster Güte" - steht dem nicht entgegen. Intakte Subjektivität ist keine notwendige Bedingung für eine hermeneutische Horizontverschmelzung.


    Thr. Georgiades hat darauf aufmerksam gemacht, dass das erste Lied der Winterreise, "Gute Nacht", als Eröffnungslied des Zyklus eine ähnliche Funktion hat wie der erste Chor eines Bachschen Oratoriums. Dass aber der entscheidende Unterschied darin besteht, dass bei Bach die Einheit von Werk und Hörer in der Gemeinschaft der im Glauben Versammelten schon von vornherein gegeben ist, während diese Einheit bei Schubert erst hergestellt werden muss.


    Diese vollinhaltliche Herstellung der Einheit von Werk und Hörerer ist bei der Winterreise nur auf dem Wege eines hörenden Sich-Einfühlens in den Protagonisten des Werks möglich. Es wird sich in der Regel um eine nur partielle Horizontverschmelzung der jeweiligen Ichs handeln. Aber diese ist die notwendige Bedingung einer adäquaten Rezeption.

  • Ich spiele hier keinerlei erste Geige.


    Die von Dir bemühte Vokabel Unfug beziehe ich insofern auf mich, daß ich mich eben vielem bloß ungerne füge.


    Lieber farinelli,


    an die 1. Geige habe ich überhaupt nicht gedacht.


    Allerdings habe ich auch nicht daran gedacht, auf was Du meinen "Primo + Unfug" beziehst - ich freue mich aber "klammheimlich" über Deinen neuesten Beitrag (bleibst Du "so"?) - ein Hoch auf das...
    Ob wir uns auf Helmuts neu erföffnetem Thread treffen, wird sich herausstellen!


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Was hab ich da bloß wieder angerichtet!
    Nichts ist bekantlich dem Menschen so unverzichtbar wie das Liebenmüssen. In der schönen Erzählung "Un cœur simple" beschreibt Flaubert, wie eine einfache Magd nacheinander ihre Herrin nebst Kindern, ihren Neffen und schließlich einen Papagei liebt - auch dann noch, wenn der Vogel ausgestopft in ihrer Kammer steht.


    "Obgleich er keine Leiche war, fraßen ihn die Würmer; einer seiner Flügel war gebrochen, das Werg kam ihm aus dem Bauch. Doch blind, wie sie jetzt war, küßte sie ihn auf die Stirn und drückte ihn gegen ihre Wange."


    Das ist ein schönes Sinnbild der Einfühlung und ihrer Gefahren, ob wir das nun Horizontverschmelzung oder mit Luhmann "Interpenetration" nennen. So manche brave Ehefrau mag erst in vorgerückten Jahren dahinter gekommen sein, daß der Mann, dem sie sich aufgeopfert hat, im Grund seines Wesens ein liebloser Knochen gewesen ist. - Fraglos aber gibt es auch literarische Figuren, denen das Werg aus dem Bauch quillt, und denen verzeiht man das an sie verwendete Herzblut ebensowenig, wie die düpierte Gattin es dem trockenen Gemahl nachsieht.


    Aber die Liebe ist fraglos das Höchste - omnia vincit amor; ut lacrima oculo genitur (wie die Träne entspringt sie dem Auge), und daher macht sie bisweilen auch blind.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Aber die Liebe ist fraglos das Höchste - omnia vincit amor; ut lacrima oculo genitur (wie die Träne entspringt sie dem Auge), und daher macht sie bisweilen auch blind.


    Und wie oft das Wort "Liebe" falsch gebraucht wird - sogar in der Luther'schen Übersetzung des NT (nach meinem heutigen Verständnis). Ich "glaube", viele Menschen könnten besser mit dem Bibelwort umgehen, wenn es lautete: "Sei freundlich (statt liebe) zu deinem Nächsten, wie du freundlich zu dir selbst bist".


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich lese in den letzten Beiträgen sehr oft das Wort "Liebe" im Zusammenhang mit der "Winterreise". Es wurde sogar schon ein - durchaus eindrucksvoller! - Vergleich mit Goethes "Werther" angestellt.


    Darf ich mal ganz vorsichtig einen Gedanken als thesenartigen Ansatz zur Interpretation der Winterreise einbringen?


    In der "Winterreise" geht es im Kern des Werkes nicht um Liebe, - auch nicht um gescheiterte. Das Scheitern einer Liebesbeziehung ist nur der Anlass und der Auslöser für das, was sich in allen folgenden Liedern nach GUTE NACHT lesen und hören lässt: Psychogramme eines Menschen in einer existenziellen Grenzsituation.


    In der Retrospektive wird dem Wanderer die gescheiterte Liebe sehr schnell zu dem, was er im FRÜHLINGSTRAUM bekennt:


    Ich träume von Lieb´um Liebe
    Von einer schönen Maid,
    Von Herzen und von Küssen,
    Von Wonne und Seligkeit.


    Spätestens an dieser Stelle wird doch klar, dass der Vergleich mit Goethes "Werther" hinkt (farinelli möge verzeihen): Hier träumt einer keiner Lotte mehr nach, sondern er träumt ganz allgemeinvon einem Leben, das sich in der Liebe menschlich erfüllt. Das ist ein Traum eines Menschen, der sich aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen fühlt, - ob er das de facto wirklich ist und aus welchen Gründen das immer geschehen sein mag, spielt in dieser Situation gar keine Rolle mehr.


    Existenzielle Grenzsituationen schließen die Anwendung rationaler Kategorien zu ihrer Analyse und Erklärung aus. Hier scheint mir ein Fehler im Denkansatz von farinelli zu liegen (er möge mir wieder verzeihen. In Beitrag 505 sagt er: "Die entwicklungslose Statik des Gedichtzyklus entzieht sich per se einer psychologischen Betrachtung."


    Eine "psychologische Betrachtung", die auf eine rationale Erklärung des Geschehens in der Winterreise abzielte, würde deren zentrale Aussage verfehlen. Eine existenzielle Grenzistuation entzieht sich der Erklärbarkeit. Die hier völlig zu Recht konstatierte "Statik" in der Anlage der "WInterreise", die ja gar keine "Reise" ist (auch darüber wäre mal nachzudenken), ist das strukturelle Merkmal dessen, was ich hier "existenzielle Grenzsituation" nenne.

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