WOLF-FERRARI, Ermanno: SLY

  • Ermanno Wolf-Ferrari ( 1876 - 1948 )

    SLY
    oder DIE LEGENDE VOM WIEDERERWECKTEN SCHLÄFER

    Oper in drei Akten (vier Bildern) nach William Shakespeare von Giovacchino Forzano


    Uraufführung am 30. Dezember 1927 in Mailand
    Deutsche Erstaufführung am 13. Oktober 1928 in Dresden


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Sly, ein Sänger und Dichter (Tenor)
    Graf von Westmoreland (Bariton)
    Dolly, seine Geliebte (Sopran)
    Ein französischer Edelmann (Tenor)
    Freunde des Grafen (2 Tenöre, 4 Bässe)
    Drei Damen (2 Soprane, Alt)
    Page (Mezzosopran)
    John Plake, Schauspieler (Baß)
    Snare, Gerichtsdiener (Baß)
    Wirtin der Taverne „Zum Falken“ (Alt)
    Landrichter (Tenor)
    Rosalina (Sopran)
    Fuhrmann (Baß)
    Soldat (Baß)
    Koch (Tenor)
    Hausdiener (Tenor)
    Drei Diener des Grafen (Bässe)
    Chor


    Die Handlung geht um 1600 in London vor sich.


    DIE HANDLUNG


    ERSTER AKT


    Erstes Bild: In der Taverne „Zum Falken“.


    Gäste der unterschiedlichsten Art unterhalten sich trinkend, essend, rauchend und spielend im Gasthause. Aufgeregt kommt der Hausdiener der Wirtin und berichtet, daß John Plake mit Zechgenossen in den Weinkeller eingedrungen sei und dort die so sorgsam gehüteten Flaschen eines alten Madeira entdeckt hätten. Da steigen schon die Trunkenbolde aus der geöffneten Falltür nach oben. Der Lärm, den sie dabei verursachen, stiftet Verwirrung und Empörung. Verärgert verlassen der Landrichter und die bei ihrem Spiel gestörten Schachspieler das Lokal. Die Wirtin, in Sorge, daß noch weitere Gäste ihr Lokal verlassen wollen, ruft das gesamte Küchenpersonal zusammen, um die Störenfriede zu vertreiben.


    In dem Augenblick erscheint eine schöne Dame und gebietet Ruhe, Frieden und Einigkeit.
    Tatsächlich wirkt der Auftritt der Fremden wie ein Wunder, denn auch John Plake und seine Spießgesellen begrüßen die Dame freundlich und schicken sich an, die Taverne für die Königin des Abends zu schmücken.


    Dolly, so heißt die Schöne, ist die Geliebte des reichen Grafen Westmoreland, ist der steifen Etikette beim Grafen überdrüssig und hier in die Taverne gekommen, um sich mal so richtig gehen zu lassen. Sie beschenkt die arme Rosalina, die freudig berührt sofort zu ihrem Liebsten eilt, von Dolly schmerzlich beneidet.


    Unterdessen ist auch der Graf mit seinen Freunden erschienen und zeigt sich wenig erbaut von den Kapricen seiner Freundin, wird aber von ihr zurechtgewiesen und bleibt im Lokal. John Plake meint, jetzt fehle eigentlich nur noch einer, der in der Lage sei, Dollys Schönheit würdig zu preisen: Sly.


    Der stürzt in diesem Augenblick in die Gaststube, fühlt sich wie ein Krösus, weil er für ein Hochzeitscarmen einen Dukaten erhalten hat. Gerührt umarmt er John Plake, der ihm eine Flasche Madeira überreicht.


    Plötzlich ist von draußen eine drohende Stimme zu hören und den Dichter überfällt ein ängstliches Zittern: Snares, Büttel, Gerichtsdiener und Agent des Sheriffs, sucht Sly, um ihn in den Schuldturm zu werfen. Die Freunde verstecken umgehend den Gesuchten und Snare muß, zumal ihn die Anwesenheit des Grafen eingeschüchtert hat, unverrichteter Dinge wieder abziehen.


    Als die Luft wieder rein ist, kommt Sly aus seinem Versteck hervor und stimmt auf Verlangen der Gäste der Taverne das „Bärenlied“ an. In dem Moment, da man von ihm noch weitere Lieder dieser Art fordert, erklärt in erheblicher Trunkenheit, keine Wünsche mehr annehmen zu können und nur noch für sich singen zu wollen. Und dann folgt ein erschütternder Ausbruch seines eigenen Loses, seiner inneren Einsamkeit, seines glühenden Verlangens nach Liebe und Glück. Alles lauscht still und ergriffen, doch plötzlich sinkt Sly trunken zur Seite und schläft ein. In die Stille hinein keift die Wirtin laut über den schlafenden Dichter, jedoch gebietet John Plake: „Respekt dem Genius, der sich jetzt ausruht.“


    Unterdessen ist dem Grafen eine Idee gekommen. Man solle den betrunkenen Sly auf sein Schloß bringen, kostbar ankleiden und wenn er erwacht, als einen hochgestellten Herrn behandeln. Das finden auch Slys Freunde einen „ergötzlichen Einfall“ und zeigen damit an, bei der Komödie mitspielen zu wollen. Also wird der Dichter von des Grafen Dienerschaft hinweggetragen und Graf Westmoreland bittet die Gäste, auf seine Kosten die Gesundheit „Seiner Gnaden Sly“ zu begießen, dann entfernt er sich. Alle stimmen in die Glückwünsche ein - nur John Plake nicht, der lehnt ab: „Ich nicht - armer Sly!“


    ZWEITER AKT


    Zweites Bild: Schlafzimmer im Schlosse des Grafen Westmoreland.


    Umgeben von drei Damen und einem Pagen liegt Sly auf dem Ruhebett. Im Narrengewand erscheint der Graf um dem Aufwachen des Dichters beizuwohnen.


    Sly wacht auf und glaubt zunächst, weiter zu träumen, denn die ganze Umgebung ist ihm fremd. Alle Umstehenden behandelt er unwirsch und nur sehr langsam gelingt es dem Grafen und seinen Helfern, Sly davon zu überzeugen, daß er endlich nach zehn Jahren von einer schweren Krankheit, in der er sich eingebildet habe, der berühmte Sänger und Dichter Sly zu sein, genesen sei. Jeder Einwand von Sly, jede Erinnerung an sein früheres Leben wird vom Grafen als letzter Rest seines Irrwahns bezeichnet. Und als dann auch noch ein Freund von Graf Westmoreland als verkleideter Arzt die endgültige Gesundung Slys bestätigt, ist der Dichter vollends überzeugt, ein Graf zu sein.


    Von ferne ist Dollys Stimme zu hören und man deutet es gegenüber Sly als ein Gebet, daß sie, wie jeden Tag, für die Heilung ihres Gatten verrichte. Sly gerät über diese Aussage ganz in Verzückung. Dann kommenDiener, schmücken ihn mit einer Grafenkrone und alle begeben sich in den Festsaal, wo ein glänzender Empfang vorbereitet ist.


    Drittes Bild: Festsaal im Schlosse.


    In den Festsaal geführt ist Sly völlig irritiert über die große Pracht, die sich ihm bietet. Der Zeremonienmeister tritt auf ihn zu und überreicht ihm die Schlüssel zur Schatzkammer. Sly achtet aber nicht darauf, sondern sieht sich immer wieder in der Runde um: Wo ist die Frau, die seine Gattin sein soll? Da kommt Dolly auf ihn zu und Sly gibt allen im Befehlston die Anweisung, den Raum zu verlassen.


    Als Sly mit Dolly allein ist, verfällt sie, die zunächst die Komödie mitspielte, immer mehr in den Bann des Dichters; der wiederum in Dolly die immer Erträumte und Ersehnte zu sehen vermeint. Schließlich umarmen sie sich und der Himmel der Liebe scheint sich für beide zu öffnen.


    Graf Westmoreland, der die Szenerie von der einen Spalt weit geöffneten Türe beobachtet hat, hält den Augenblick für gekommen, mit der Stimme des Snare, des Sheriff-Büttels zu erschrecken. Es öffnen sich Vorhänge im Hintergrund und die beiden Verliebten sehen sich einer teils applaudieren, teils lachenden Gesellschaft gegenüber. Sly reißt Dolly an sich und erklärt, niemals, was auch geschehen mag, von ihr lassen zu wollen. Doch der Graf weist seiner Dienerschaft an, sie von seiner Seite zu entfernen und ihn in den Keller zu werfen. Während Sly fortgeschleppt wird, stimmt die ganze Gesellschaft das „Bärenlied“ an:
    „Und mit schwerem, müdem Schritt
    kehrt er heim in seine Hütte.
    Vivat Sly, Poet der wilden Triebe,
    Ertränkt er doch im Wein selbst seine Liebe!“


    DRITTER AKT


    Viertes Bild: Der Keller des Schlosses.


    Sly liegt auf einer alten Chaiselongue; drei Diener werfen ihm seine richtigen Kleider und seine Geldbörse zu. Einer fragt ihn, ob er bereit sei, als Dichter oder auch als Narr im Schloß zu bleiben? Aber Sly antwortet nicht und die Dienerschaft verhöhnt ihn mit dem Hinweis: „Lern' dich zu ducken!“


    Nach dem Weggang der Diener muß er an die geliebte Frau denken; er fragt sich, ob sie nur mit ihm gespielt habe oder ob vielleicht nicht doch wahre Liebe zu ihm die Umarmung im Festsaal bedeutete? Er muß sie wiedersehen, muß sie aus dem Grafenschloß befreien und mit ihr fliehen. Aber dann sieht er seine alten Kleider und seine Traumbilder sind sofort verschwunden. Ach, wenn er doch noch in seine Taverne könnte, trinken und für die Gäste singen! Aber auch das ist unmöglich.


    Nach einiger Zeit kommt ihm der Lösungsgedanke: Er nimmt eine der herumstehenden Weinflaschen und zerschlägt sie an der Wand und öffnet sich dann mit einer Glasscherbe die Pulsadern. Er verbirgt die blutenden Arme in seinen alten Kleidern und legt sich wieder hin zum Schlaf, aus dem ihn weder Snare noch der Graf jemals aufwecken können.


    Dolly kommt in den Keller, um dem Geliebten zu sagen, daß die Szene im Festsaal kein Spiel war, sondern daß sie ihn liebe und mit ihm fliehen wolle. Als sie an die Liegestatt herantritt, erhebt Sly schwach seine blutgetränkten Arme und Dolly sieht entsetzt auf den blutigen Fetzen Stoff. Sly läßt seine Arme sinken und stirbt; mit einem verzweifelten Schrei wirft sich Dolly über den toten Körper.


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Das Libretto wurde erst Puccini angeboten, der sich jedoch für „Turandot“ entschied. Zunächst hatte Forzano ein Schauspiel geschrieben, das sogar an zahlreichen Bühnen Italiens gespielt wurde, ehe für Wolf- Ferrari dann die Rückverwandlung in ein Opernlibretto erfolgte.


    Die Grundidee der Handlung entstammt Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“, in dem der betrunkene Kesselflicker Schlau in das Schloß eines Lords gebracht wird, um sich nach dem Erwachen als Hausherr wiederzufinden. In Deutschland ist das Motiv auch noch von Gerhart Hauptmann in der Komödie „Schluck und Jau“ verwendet worden. Giovacchino Forzano hat Shakespeares Possenspiel allerdings einen tragischen Ausgang gegeben.


    Die Figur des Sly soll, so ist zu lesen, Züge des französischen Dichters François Villon (1431-1461) tragen, eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Weltliteratur. Wie schon im „Schmuck der Madonna“ von 1908 schlägt Wolf-Ferrari in „Sly“ tragische Töne an, der er jedoch derb-komische Musik beimischt. So entstand ein sehr wirkungsvolles Spiel von vielfältigem Reiz und musikalisch irisierenden Farben.


    Die Stimmungsdichte des ersten Aktes ist diskreten Anklängen an altenglische Musik geschuldet. Slys Klage beispielsweise, in der er seine Sehnsucht nach einem einzigen Wort der Liebe aussdrückt, um endlich beim Anblick des tröstenden Bechers Wein in ein schallendes Gelächter auszubrechen, ist sicher der der Höhepunkt dieses Aktes.


    Ein kompositorisches Meisterstück ist das Durcheinander alter Tanzformen zur Vortäuschung des aristokratischen Milieus im zweiten Aufzug bei Slys Erwachen. In der Liebesszene zwischen Dolly und Sly erklingen großartige Kantilenen. Sehr wirksam ist auch der zweite Akt-Schluß, in dem das hohnvoll aufklingende Tavernenmotiv Sly aus dem Himmel seiner Träume reißt. Der dritte Akt, auf eine dramaturgisch knappe Formel gebracht, ist von wirksamer theatralischer Kraft.


    © Manfred Rückert für TAMINO-Opernführer 2010
    unter Verwendung von
    Reclams Opernführer 1951 und Reclams Opernlexikon von 2001
    Brockhaus Riemann Musiklexikon
    Heinz Wagner: Die Oper

    .


    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()

  • Diese wichtige Einspielung gehört dazu



    Der Steckbrief:
    LABEL; Koch/Schwann
    Einspielung im Juni 2000 am Gran Teatro del Liceu Barcelona
    Es dirigiert: David Giminéz
    Gesangsolisten:
    José Carreras
    Isabelle Kabatu (belgische Sopranistin aus Zaire)
    Sherill Milness
    und weitere


    Unabhängig von der Aversion einzelner, Carreras in dieser Partie zu hören, denke ich, dass diese Einspielung dokumentarischen Wert hat. Außer dem vollständigen Libretto liegt noch ein bebildertes Heftchen bei.

  • Moin, liebe Opernfreunde!


    Engelbert sei für diese wichtige Information gedankt. Tatsächlich hatte er die Koch-Schwann-Produktion vor dem Crash schon einmal eingestellt. Leider konnte ich diese Einspielung bei meinen Recherchen nicht finden...


    Einen schönen Tag wünscht

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    MUSIKWANDERER

  • Sly
    oder Die Legende vom wieder erweckten Schläfer,
    Oper in 3 Akten
    von Ermanno Wolf-Ferrari .
    Text von Giovacchino Forzano.
    Uraufführung: 29. / 30.12.1927 Mailand, Teatro alla Scala.
    mit Mercedes Llopart • Lina Bruna-Rasa • Aureliano Pertile • Luigi Rossi-Morelli • Ernesto Badini • Ida Mannarini • Ida Conti • Spartaco Marti,
    Dirig. Ettore Panizza.


    Dt. Erstaufführung: 13.10.1928 Dresden (deutscher Text von Walter Dahms)
    Wiederaufnahme: 1963 Mainz, 1980 Wiesbaden, 1982 Hannover,
    1998 Zürich (Frühbeck de Burgos / Hollmann / Hoffer; mit Dessi, Carreras, Pons),
    1999 Washington (ebenfalls mit Carreras; sein erster Bühnenauftritt in den USA nach seiner Krankheit 1987).


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Es gibt auch eine bemerkenswerte frühe Rundfunk-Produktion in deutscher Sprache mit dem hinreißenden Heldentenor Ernst Gruber, der bei Tamino einen eigenen Thread hat. Die Aufnahme kann beim Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg für private Zwecke bezogen werden:


    Ermanno Wolf-Ferrari
    Sly
    oder die Legende vom wiedererweckten Schläfer


    Oper in drei Akten und vier Bildern
    Eine Aufnahme des Senders Leipzig in deutscher Sprache vom November 1950


    Rundfunkchor Leipzig
    Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig
    Dirigent GERHARD PFLÜGER



    Sly, ein Dichter
    ERNST GRUBER
    Graf Westmoreland
    KARL KÖTHER
    Dolly, seine Geliebte
    MARIANNE BASNER
    John Plake, ein Schauspieler
    HANS LÖBEL
    Wirtin
    CHRISTA-MARIA ZIESE
    Rosalia
    LILO HEUCK
    Snare, Gehilfe der Sheriffs
    HELMUT EYLE
    Landrichter
    ALOIS BENDER
    Zeremonienmeister
    HANS HEIMBACH
    Erste Dame
    IRMA KÄSTNER
    Zweite Dame
    MARTHA KEMPINSKI
    Dritte Dame
    ANNEMARIE CLAUS-SCHÖBEL
    Erster Edler
    ALOYS TINSCHERT
    Zweiter Edler
    SIEGFRIED HÄNDEL
    Dritter Edler
    ARNO LEMKE
    Vierter Edler
    HELMUT EYLE
    Fünfter Edler
    HORST GÖPELT
    Französischer Edler
    CHARLES GEERD
    Erster Diener
    FRITZ ZSCHAUER
    Zweiter Diener
    WERNER FRENSEL
    Dritter Diener
    ALFRED PÖRSCHMANN
    Fuhrmann
    HANS HEIMBACH
    Hausdiener
    HERBERT FELLER
    Koch
    ALFRED PÖRSCHMANN
    Soldat
    FRITZ ZSCHAUER
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    HELGA UTGENANNT

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent