Erfolg im Kampf gegen das Regietheater: "Tannhäuser" in Düsseldorf nach Publikumsprotesten abgesetzt!

  • Man kann auch völlig auf klassische Musik verzichten und 900 Jahre alt werden, so wie Methusalem


    Donnerwetter! Und was für einen Lebenswandel hatte der , um so alt zu werden? Nicht Wein, Weib und Gesang? Armer Mensch, warum hat er dann 900 Jahre gelebt und wofür?


    Vielleicht meinst Du aber den Blauroten Methusalem, der von Johann Strauß durchaus als Lebender mit menschlichen Eigenschaften dargestellt wurde. Dann kann ich den verstehen. Aber Adorno hat der auch nicht kennen müssen.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Gibt es in der Malerei eigentlich ähnliche Probleme? Soll heißen: Diskutiert irgendwo jemand über die Verunglimpfung, dass in dieser malerischen Inszenierung der Inhalt des Ursprungstextes zeitlich und lokal vom Regisseur Maler versetzt wurde, um dadurch zeitgenössische Bezüge herzustellen und Kritik zu üben?


    Lieber Lykeus,


    erst einmal herzlichen Dank für Deinen verständnisvollen Beitrag. So war meine Mühe vielleicht doch nicht ganz umsonst. Ich bin jemand, der versucht einer Sache gerecht zu werden - auch wenn ich bestimmte Dinge persönlich vielleicht weniger mag. Sonst igelt man sich finde ich in seiner eigenen Welt ein und verliert die Möglichkeit, vielleicht auch mal etwas Neues schätzen zu lernen.


    Als Antwort auf Deine Frage: Da fällt mir vor allem Kunst ein mit sakralen Motiven. Z.B. der expressionistische Maler Max Beckmann hat religiöse Motive in einer für den religiösen Betrachter provozierend fremdartigen Weise umgesetzt. Bei Gestaltungen von Altären z.B. gibt es auch immer mal wieder Streit, wie "modern" man solch christliche Symbole gestalten darf. Prominentes Beispiel war zuletzt das moderne Kirchenfenster von Gerhard Richter im Kölner Dom, das der Kölner Erzbischof Meißner total ablehnt. (Ich finde das sehr schön wie die meisten Betrachter auch!)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Auch unser "Experte" Dr. Holger Kaletha hat mir nicht auf meine Frage geantwortet wie er reagiert hätte, mit 12 jährigen Kindern einer Porno-Oper von Bieito erlebt zu haben. Das war doch Regietheater in Vollendung!


    Lieber Wolfgang,


    ich verstehe ehrlich gesagt die Aufregung nicht. Beischlafszenen mit nahezu allen Einzelheiten gibt es doch inwzwischen in fast jedem Kinofilm - und man verbietet den Kindern auch nicht, ins Kino zu gehen. Die Zeiten, wo sich die Leute über Marlene Dietrich als Akt am Swimmingpool aufregten, sind doch lange vorbei! Im Fernsehen gibt es diese Filme auch, dann kommt vorher halt die Einblendung: Für Jugendliche unter 16 Jahren ungeeignet. Was in Film und Fernsehen recht ist, sollte doch im Theater billig sein.


    Schöne Grüße
    Holger

  • An für sich ist RT ja auch nichts negatives. Denn wie schon vorher geschrieben kommt keine Theateraufführung ohne Regie aus. Nur hat das RT dadurch einen negativen Beigeschmack bekommen, das sich bestimmte Regisseure einfach nur profilieren wollen, ohne das Stück oder wie einige Experten hier im Forum ( das ist nicht negativ gemeint ) den Hintergrund des Stoffes kennen. Ich fand es nur z.B. sehr lächerlich wenn in der von Arte gezeigten Holländer Aufführung aus Zürich der Steuermann im ersten Akt singt: Es ist Land in Sicht und das ganze spielt bereits schon auf Land. Oder im Tannhäuser an der Rheinoper hat der Regisseur die Erschießungsszene im ersten Akt damit gerechtfertigt, das Wagner in der Original Tannhäuser Partitur dort auch eine Generalpause eingefügt hätte, aber sie so szenisch zu deuten daran hat Wagner bestimmt nicht gedachtAn der Rheinoper gibt es einen sehr guten Benjamin Britten Zyklus . Das ist zwar auch RT aber ohne provokant zu sein und man kann sich in die einzelnen Personen auch hineinversetzen. Ich denke mal das sollte auch Aufgabe eines Regisseurs sein, das man als Zuschauer mit den Personen mitfühlen und leiden kann.

  • Holger mag es als "Krieg", bzw. "Wille zur Macht" bezeichnen, aber was wir tun, ist nichts Anderes als die Arroganz parktisch aller heutigen Regiesseure im deutschen Sprachraum mit ganzer Energie zu bekämpfen. Fast vier Jahrzehnte haben diese Herrschaften unsere berechtigten Ansprüche mit Füssen getreten und lächerlich gemacht, ungeachtet dessen, dass sie nur dank Subventionen und unserer Eintrittsgelder ihre Ideen verbreiten durften. (Wer wollte da ernstlich bestreiten, dass die "Macht" von ihnen ausging?) Wir haben nun lange genug geschwiegen und unsere Ansprüche sind im Grunde genommen recht simpel. Wir wollen wieder in die Oper gehen dürfen und ein Erlebnis geniessen dürfen, welches uns spätestens durch die unselige Ruth Berghaus und ihre Schule über Jahrzehnte verwehrt wurde. Im Gegensatz zur jüngeren Generation sind wir mit Masstäbe setzenden Regiesseuren aufgewachsen. Auf der einen Seite hatten wir Leute wie Schenk, Zeffirelli und Ponnelle bzw. auf der anderen Seiteeher intellektuell dominierte wie Wieland Wagner, Giorgio Strehler und Lindtberg. Alle diese haben zum Teil auch kühne Deutungen der ihnen anvertrauten Werke gefunden, aber nie eine Umdeutung vorgenommen, die den Charakter des Werkes verändert und zerstört hätte.

  • Wenn es erlaubt ist, möchte ich noch einen Vergleich anbringen:
    Etwas Aehnliches wie die Regisseure des "Regietheaters" haben wir in der Musik vor uns. Seit Schönberg, Berg u.a. wird ja in der klassischen Musik der Atonalität gehuldigt, die bis heute nur einem kleinen Teil des Publikums zusagt. Nur verhindert dort die Musikauswahl der Dirigenten einen deartig einseitigen Terror, wie in der Regieszene der Opernhäuser. Man stelle sich einmal die leeren Konzertsäle vor, wenn nur noch Musik nach ca. 1920 gespielt würde!
    In der Oper hat sich bis jetzt das Fernbleiben des Publikums wegen der guten Musiker leider noch nicht allgemein durchgesetzt....

  • Dagegen hilft eigentlich nur noch - wie bei E.T.A. Hoffmann bereits - Satire.


    Schöne Grüße
    Holger


    Es tut mir leid, wenn jetzt leider nur einige eingeweihte Taminos verstehen können, warum ich mich vor Lachen auf dem Boden wälzen muss, wenn unser Dr. Holger von Satire spricht!
    Für die anderen: Satire ist ja auch sein Spezialgebiet!

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • [quote='9079wolfgang','index.php?page=Thread&postID=470057#post470057']Wir Opernliebhaber- und Kenner haben doch alle keine Ahnung! Ich habe schon länger keine Lust mehr, mich auf diesen hochtrabenden Quatsch von Dr. Holger Kaletha einzulassen. Aber er ist ja der "Experte", da wird kein Widerspruch akzeptiert. Mir geht es nicht um das Philosophieren über das Thema Oper, sondern ich möchte weiter Oper erleben wie ich sie jahrzehntelang in den Opernhäusern erleben durfte, und nun kaum noch erleben darf.


    Da muß ich doch ziemlich schmunzeln, lieber Wolfgang. Quatsch", den man nicht Ernst zu nehmen braucht. Es ist klar, was daraus folgt: Kein logon didonai, begründend-rechenschaftliches Argumentieren, sondern schlicht und einfach Krieg - Wille zur Macht, der Stärkere (das ist natürlich das zahlende Publikum) setzt sich durch. Dagegen hilft eigentlich nur noch - wie bei E.T.A. Hoffmann bereits - Satire. (Ende Zitat Kaletha)


    Es tut mir leid, wenn jetzt leider nur einige eingeweihte Taminos verstehen können, warum ich mich vor Lachen auf dem Boden wälzen muss, wenn unser Dr. Holger von Satire spricht!
    Für die anderen: Satire ist ja auch sein Spezialgebiet!

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Ich würde mich ja liebend gern bei unserem Doktor Holger revanchieren und ihm einen Vortrag über die Eirollbewegung der Graugans nach den tiefschürfenden Erkenntnissen von Konrad Lorenz halten. Das wär' doch was!

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Zitat Dr. Holger Kaletha:

    Zitat

    ich verstehe ehrlich gesagt die Aufregung nicht. Beischlafszenen mit nahezu allen Einzelheiten gibt es doch inwzwischen in fast jedem Kinofilm - und man verbietet den Kindern auch nicht, ins Kino zu gehen

    Klar, du hättest dich auch nicht aufgeregt, als eine ältere Dame mit ihrer Enkelin (ca. 11 Jahre) in "Hoffmanns Erzählungen" das Onanieren von einigen Darstellern mit ansehen mußte und laut protestierend mit anderen Besuchern die Oper verließ. Natürlich: "Alles im normalen Bereich". Dafür geht man ja in die Oper! :cursing:

    W.S.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Das ist nur eine fabelhafte Idee - ein Gespenst, von dem alle sprechen und das niemand gesehen hat. Riefen die Leute wie im >Gestiefelten Kater<: >Wir wollen guten Geschmack - guten Geschmack, so drückt sich darin nur das kranke Gefühl des Übersättigten aus, der nach einer fremden idealen Speise verlangt, die die öde leere im Innern vertreiben soll. Dichter und Komponisten gelten jetzt bei der Bühne wenig, sie werden meistens nur als Handlanger betrachtet, da sie nur den Anlaß geben zum eigentlichen Schauspiel, das in glänzenden Dekorationen und prächtigen Kleidern besteht."


    Richtet sich der Tadel des "kranken Gefühl des Übersättigten" nicht eher gegen das Bedürfnis nach Neuem und vernimmt man nicht bei "Dichter und Komponisten gelten jetzt bei der Bühne wenig" eine indirekte Kritik gegen die Verfälschung des Originals?


    Hoffmanns Satire handelt ja in großen Stücken von der Eitelkeit der Schauspieler und - zum Ergötzen der RT-Gegner - um dramaturgische Entfremdung.


    "Ich erinnere mich, daß einst ein junger Schauspieler, der in meine Gesellschaft getreten, den Correggio spielen wollte. Ich stellte ihm vor, daß dies ein Wagstück sei, und zwar deshalb, weil sein Vorgänger vortrefflich gewesen. »Ich habe ihn gesehen«, fiel er mir mit gleichgültigem, beinahe verächtlichem Ton in die Rede und fuhr dann, behaglich lächelnd, fort: »Ich meinerseits nehme nun die ganze Rolle anders. Ich schaffe erst den Charakter!« – Mir wurde bange ums Herz bei den Worten, und ich fragte kleinlaut, wie und was er denn schaffe. – »Ich gebe«, sprach er mit hohem Selbstgefühl, »ich gebe den Correggio als begeisterten, ganz in der Region der göttlichen Kunst lebenden Maler!« – Darauf meint' ich, das verstehe sich ja von selbst, daß dies so sein müsse, da nur auf diese Weise der Konflikt mit dem ärmlichen, bedürftigen äußern Weltleben recht tragisch hervortrete, und daß der Vorgänger die Rolle eben in diesem Sinn aufgefaßt habe. Er lächelte wieder recht höhnisch und ärgerlich; er gab zu verstehen, daß nur ein genialer Künstler wie er es vermöge, jenen herrlichen Charakter, ohne daß selbst der Dichter im mindesten daran gedacht habe, mit einem Kraft- und Hauptzuge ganz ins Leben zu stellen. »Wie machen Sie denn das?« fragte ich ziemlich ungeduldig. Mit einer leichten Verbeugung sprach er sehr artig: »Ich spiele den ganzen Correggio durchweg stocktaub!"


    Folgendes nimmt, wie ich meine, die Erklärungssucht auf Korn:


    DER BRAUNE. Der mazedonische Philipp ließ sich jeden Tag zurufen: »Du bist ein Mensch!« Dies bringt den humoristischsten aller humoristischen deutschen Schriftsteller – kaum brauch' ich Lichtenberg zu nennen – auf den herrlichen Einfall von Sprechuhren, der Ihnen bekannt sein wird.


    DER GRAUE. Sprechuhren? – Nur dunkel erinnere ich mich des Einfalls, dessen Sie gedenken.


    DER BRAUNE. Es gibt Spieluhren, die beim ersten Viertel das Viertel eines Stückchens, bei dem zweiten die Hälfte, bei dem dritten drei Viertel und bei dem Ausschlagen das ganze Stück aufspielen. Nun, meint Lichtenberg, wär' es hübsch, wenn man vermöge eines besondern künstlichen Mechanismus eine Uhr die Worte sprechen ließe: »Du bist ein Mensch!« und diese Phrase wie sonst das Tonstück in vier Viertel teilte. Bei dem ersten Viertel ruft die Uhr: »Du!« bei dem zweiten: »Du bist!« – bei dem dritten: »Du bist ein!« und dann bei dem Ausschlagen die ganze Phrase. Mit Recht sagt Lichtenberg, daß der Ruf bei dem dritten Viertel: »Du bist ein« – lebhaften Anlaß gebe, bis zum Vollausschlagen darüber nachzudenken, was man eigentlich ist. Wahrhaftig! – ich denke, manchem müßte dies Schulexamen, was er im Innern mit sich selbst anzustellen gezwungen, gar lästig – ängstlich – unheimlich sein.


    Köstlich auch die Interpretation der Zauberflöte:


    DER GRAUE. O herrlich, überaus herrlich! – Dabei fällt mir ein, wie einst, als man nichts auf der Bühne dulden wollte als rührende Familiengemälde, jemand mit inventiöser Ironie die ›Zauberflöte‹ zu einem Familienstück umschuf und dadurch den andern, der sich über den Unsinn des phantastischen Zeuges bitter beklagte, vollkommen beruhigte. »Sehen Sie, mein Lieber«, fing er an, »der selig verstorbene Gemahl der Königin der Nacht war Sarastros älterer Bruder, mithin ist Sarastro Onkel der Pamina, da die Königin der Nacht ob ihrer bösen Gemütsart eine schlechte Ehe voll Zank und Streit führte, nebenher auch einen verbotenen Umgang mit dem Papageienherzog unterhielt, dessen Frucht Papageno war, von dem Verstorbenen im Testament der Pamina zum Vormund zugeordnet und als solcher von dem Pupillenkollegio bestätigt wurde. Sarastro gewahrte, wie schlecht Pamina von der Mutter erzogen, wie die gute Kleine durch zu frühe übelgewählte Romanlektüre (z.B. ›Werthers Leiden‹, ›Hesperus‹, ›Wahlverwandtschaften‹ usw.) sowie durch übermäßiges Tanzen von Grund aus verdorben wurde. Mit vollem Recht als Onkel und Vormund nahm er daher die Kleine zu sich und erzog sie selbst, indem er ihrem wissenschaftlichen Unterricht Basedows ›Elementarwerk‹ (die Mysterien der Isis und des Osiris) zugrunde legte. Daher und weil Sarastro vor der Siegelung des Nachlasses den berühmten Sonnenkreis als Familieninventarium vindizierte, kommt der wütende Haß der Königin der Nacht. Taminos Vater, dessen Reich gar nicht so entfernt ist als man glauben sollte, da es gleich linker Hand neben dem Isistempel hinter dem dunkelgrauen Berge liegt, ist Sarastros jüngerer Bruder. Ebendeshalb, weil Tamino seine Cousine heiraten will, muß er erst durch Feuer und Wasser gehen, worauf das Konsistorium (die Versammlung der Priester) ihm als einem Mann, der dergleichen aushält, die Dispensation zur Heirat erteilt. Sarastro als Konsistorialpräsident wußte freilich, als die Sache, Taminos Einlaß und Heiratsgesuch betreffend, in der Session vorgetragen wurde, gleich die Gemüter der Räte für seinen geliebten Neveu zu stimmen, vorzüglich durch die Versichrung, daß er nicht bloß Prinz, sondern auch wirklich Mensch sei, welches seinem Herzen Ehre macht. Sehn Sie«, fuhr mein Ironiker fort, »sehn Sie, o Bester, wie diese verwandtschaftlichen Verhältnisse so herrlich ineinander wirken und dadurch das wahrhaft Rührende des Stoffs bilden. Diese sanften Verhältnisse erkennend, wird auch jeder die göttliche Idee bewundern müssen, daß im Gegensatz von der Weisheit die Natur durch den natürlichen Sohn der Königin der Nacht repräsentiert wird. – Die Schlange ist durchaus nur allegorisch zu nehmen – das giftige Prinzip im häuslichen Leben, eine Art von Sekretär Wurm.« Doch genug des tollen Spaßes – ich unterbrach Sie mit meiner [/font]Turandot –


    Mir scheint es zweifelhaft, ob E.T.A. Hoffmann je ein Anhänger des sog. Regietheater gewesen wäre.
    [font='Times New Roman, Times, Georgia, serif']

  • Es kann sein, dass ich jetzt etwas Unsinniges tue, weil das Folgende hier längst Gegenstand der Diskussion war. Aber im Spiegel dieser Woche findet sich ein Kommentar von Burkhard C. Kosminski zu seiner Tannhäuser-Inszenierung, die ich hier in Auszügen wiedergeben möchte. Auf die Frage „Was war Ihre dramaturgische Idee“ antwortet er:


    „In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt. Mich interessiert das große archaische Thema der Schuld. Wieso sollte man also Tannhäuser nicht zu einem Täter machen, zu einem Kriegsverbrecher? In meiner Inszenierung wird Tannhäuser von Mitgliedern der Wehrmacht gezwungen, eine Familie zu erschießen. Der Abend beschäftigt sich mit individueller Schuld im Nationalsozialismus und während der Entstehung der BRD.“
    (…)
    Spiegel: Der Düsseldorfer Opernchef Christoph Meyer hat Ihre Inszenierung vor der zweiten Aufführung gekippt, weil Sie sie nicht umarbeiten wollten. Warum haben Sie sich geweigert?


    Kosminski: Ich habe zehn Monate vor der Premiere der gesamten künstlerischen Leitung mein Konzept vorgelegt. Allen Beteiligten war bewusst, dass wir auf einen Abend voller Kontroversen zusteuern. In den Endproben bat man mich, die Erschießungsszene etwas zu kürzen, was ich gemacht habe. Warum sollte ich hinterher Szenen herausnehmen oder im Dunkeln spielen lassen? Warum das Konzept ändern?


    Spiegel: Ist Ihr Verhältnis zum Düsseldorfer Opernchef jetzt zerrüttet?


    Kosminski: Nein, aber ich bin schockiert und sprachlos und kann seine Entscheidung nicht nachvollziehen. Wir wurden beide massiv unter Druck gesetzt, durch die lokale Presse und die besserwisserische Ignoranz von Menschen, von denen die meisten die Aufführung nicht kennen. Was in Düsseldorf passiert ist, ist die Zensur von Kunst. Das ist der eigentliche Skandal.


    Ich wollte damit einen Sachbeitrag zu diesem Thread leisten. Diskussionswürdig scheint mir persönlich die Argumentation von Kosminski zu sein, - die er ja als Begründung für seine Inszenierung einsetzt:
    „In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt.“ (Spiegel Nr.20, 13.5.13, S.117)


    (Ich selbst verstehe zu wenig davon, um mich hieran zu beteiligen)

  • Ich wollte damit einen Sachbeitrag zu diesem Thread leisten. Diskussionswürdig scheint mir persönlich die Argumentation von Kosminski zu sein, - die er ja als Begründung für seine Inszenierung einsetzt:
    „In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt.“ (Spiegel Nr.20, 13.5.13, S.117)


    Das ist es eben, lieber Helmut,


    hier muss eben Alles auch dem Ungebildetsten erklärt werden, oder gar darüber hinaus, denn die Einstellung der christlichen Kirchen in den vergangenen Jahrhunderten gegenüber der Keuschheit dürfte auch jedem Volksschulabsolventen bekannt sein, kann also ohne Schwierigkeiten aus dem Zeitgeist heraus verstanden werden.


    Auch glaube ich nicht, dass es in der Absicht unserer berüchtigten RT-Regisseure liegt, eine vermeintliche Ignoranz des Opernbesucher auszugleichen, denn wie sonst wären manche der progressivsten Interpretationen selbst dem relativ gebildeten und einigermaßen intelligenten Musikkenner völlig unverständlich?


  • Ja was denn nun, mal so und mal so. Findest Du nicht, daß diese Aussage ein Widerspruch in sich selbst ist?


    Nein, das finde ich nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, denen ich nichts abgewinnen kann, die ich aber trotzdem als Bestandteil der Kulturlandschaft i.w.S. nicht verworfen sehen möchte, z.B. die Formel 1 oder Schlagersendungen mit Florian Silbereisen. Ich könnte gegen den tumben Pöbel ätzen, der sich an im Kreis fahrenden Männern ergötzt und deren Siege feiert, als trügen sie selbst einen Anteil daran. Ich könnte mich auch über den intelektuellen Limbotanz von Schlagersendungen echauffieren. Ich muss diese Dinge nicht verdammen, nur weil sie meinem Geschmack nicht entsprechen.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Die Maler haben zu dem Thema ein neues Bild gemalt, um ihre Sichtweise der Themas darzustellen, und nicht etwa ein altes Bild übermalt.


    Tja, das ist die Frage. So einfach ist es nämlich nicht. Am Beispiel des von mir erwähnten Bildes Die Volkszählung zu Bethlehem wird dies möglicherweise deutlich: Eine literarische Vorlage (Neues Testament) wird in etwas Neues transformiert (in ein Bild). Dabei variiert und verändert der Künstler das Ausgangsmaterial (verändert Ort und Zeit) und stellt damit zeitgenössische Bezüge her (im Falle des genannten Bildes: Kritik an der Herrschaft der Habsburger in den Niederlanden).


    Diesem Muster folgen auch Operninszenierungen. Das Libretto (eine literarische, weil dramatische Vorlage) wird in etwas Neues transformiert (eine Inszenierung) und der Regisseur erlaubt sich Änderungen.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Ich wollte damit einen Sachbeitrag zu diesem Thread leisten. Diskussionswürdig scheint mir persönlich die Argumentation von Kosminski zu sein, - die er ja als Begründung für seine Inszenierung einsetzt:
    „In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt.“


    Diese Begründung scheint tatsächlich diskussionswürdig zu sein, u.a. weil sie m.E. von einer verkehrten Prämisse ausgeht: Der Skandal des im Venushügel weilenden Tannhäusers ist doch schon bei Wagner ein sich lediglich im Stück ereignender. Die Aufregung und Empörung über Tannhäusers Tat findet allein in der Sängerhalle der Wartburg statt und wird vom Publikum nicht realiter geteilt; vom Publikum der Wagner-Zeit genauso wenig wie vom heutigen. Das Konzept der Minne darf man wohl schon für 1845 für aus der Mode erklären.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Vielleicht doch noch eine kleine Anmerkung zu meinem Beitrag hier. Der Denkfehler Kosmisnkis – und er scheint mit typisch zu sein für das ganze Konzept des modernen Regietheaters! – liegt aus meiner Sicht darin, dass er meint, solche ethisch und damit existenziell relevanten Grundfragen, wie sie Gegenstand der Oper und des Schauspiels vom achtzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert sind, könnten nur noch verstehbar gemacht werden, wenn sie emotional nachvollziehbar seien, und zwar dadurch, dass man sie in die Erlebniswelt des Rezipienten, des Zuschauers und Zuhörers also, transponiert.


    Diese Annahme ignoriert aber all das, was schon vor langer Zeit zum Beispiel von Lessing und Schiller (um nur zwei wichtige Namen zu nennen) in ihren theoretischen Schriften zu diesem Problem ausgeführt wurde. Großartige Dramen wie „Emilia Galotti“ oder „Kabale und Liebe“ wären, wenn man Kosminskis These als schlüssig betrachtet, in den Handlungsmotiven und den zugrundliegenden ethischen Werten aus heutiger Sicht eigentlich nicht mehr „erzählbar“, denn man kann tatsächlich als heutiger Mensch die Handlungsweise von Emilia Galottis Vater emotional nicht mehr „nachvollziehen“.


    Was bei diesem grundlegenden Theorem des Regietheaters übersehen - oder bewusst ignoriert - wird, das ist die Fähigkeit des Menschen, die eigene emotional-lebensweltliche Disposition zu transzendieren und sich in andere lebensweltliche Situationen und die sie bedingenden ethisch-moralischen Voraussetzungen hineinzuversetzen. Das Wesentliche an Bühnenwerken wie dem Schaupiel und der Oper ist ja doch, dass sie die Voraussetzungen dafür liefern, indem das „Szenario“, in dem die Handlung spielt, in hinreichend konkreter Form entwickelt wird und zudem die Motive offengelegt werden, aus denen heraus die Protagonisten agieren.


    Von daher ist es im Grunde eine Anmaßung, wenn ein Regisseur die Auffassung vertritt, dass man eine dramatische Handlung, die in der Welt des späten Absolutismus spielt, in die gegenwärtige Lebenswelt transponieren müsse, weil sonst der Zuschauer nicht verstehen könne, worum es in diesem Stück „eigentlich“ geht. Eben diese Fähigkeit, die eigene Lebenswelt rational und emotional zu transzendieren, wird dabei dem Menschen als Zuschauer abgesprochen.
    Und damit wird er bevormundet.

  • Ja, natürlich ist es ein Skandal nur im Stück, der sehr schwer zu verstehen ist.
    Ich habe ganz oben schon einmal geschrieben, dass ich das Nachspüren der unverzeihlichen Schuld Tannhäusers, die nur schwer verständlich ist, einen durchaus plausiblen Ansatz finde. Es ist auch mit einem Verstoß gegen die Keuschheit nicht erklärt. Wie oben schon gesagt, befinden sich bei Dante etwa 100 Jahre nach Tannhäuser die Wollüstigen (wie Francesca da Rimini) auf dem ersten (=leichtesten) Höllenkreis. Wollust ist eine der lässlichsten Sünden, da sie auf Schwäche gegenüber einem natürlichen Trieb beruht. Das Mittelalter war nicht viktorianisch. Die bei Dante schwerste Sünde ist Hochverrat, weil das die göttliche und menschliche Ordnung zerstören will (aus ähnlichen Gründen sind dort Homosexuelle (crimen contra naturam) und Geldfälscher (zerstören Handel und Wandel der Gesellschaft) ebenfalls weit tiefer in der Hölle).


    Schon aus der mittelalterlichen Perspektive muss man also das Teilnehmen an Orgien eines heidnischen Kults als das eigentliche Vergehen Tannhäusers sehen. (Ein bißchen Unkeuschheit mit Thüringer Bauernmädels wäre wohl mit weit weniger als einer Pilgerreise absolviert worden.) Bei Wagner scheint es freilich dann doch wieder eher um idealisierte Liebe vs. Erotik zu gehen, aber ich gebe gerne zu, dass ich die Oper weder gut kenne noch besonders mag (und mir der Grundkonflikt ein unplausibler Schmonzes zu sein scheint....).


    Dass dem Regisseur nix besseres einfällt als das platteste Nazi-Klischee, ist wohl ein Armutszeugnis. Aber das spricht nicht gegen den Ansatz, in einer Erlösungsoper dem Zuschauer eine plausible Option anzubieten, wie jemand derart schwere Schuld auf sich geladen haben soll.


    Ich sehe hier schon einen anderen Fall als in der Kurzgeschichte von Schnitzler?, in der es ein Duell gibt, weil ein Offizier einen anderen im Zugabteil schief anguckt (oder so) oder Effi Briest u.ä. Dieser Ehrbegriff ist uns ebenfalls fremd (wenn auch den Ghettos unserer Großstädte vielleicht weniger als wir meinen), aber es geht nicht um extreme Fälle von Schuld und Sühne wie sie uns beim Tannhäuser angeboten werden. Nun kann man das symbolisch für die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen überhaupt sehen. Dann ist aber auch der Venusberg nur ein Symbol und es spricht wenig dagegen, es zu modernisieren.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat von »Dr. Holger Kaletha«
    Das ist nur eine fabelhafte Idee - ein Gespenst, von dem alle sprechen und das niemand gesehen hat. Riefen die Leute wie im >Gestiefelten Kater<: >Wir wollen guten Geschmack - guten Geschmack, so drückt sich darin nur das kranke Gefühl des Übersättigten aus, der nach einer fremden idealen Speise verlangt, die die öde leere im Innern vertreiben soll. Dichter und Komponisten gelten jetzt bei der Bühne wenig, sie werden meistens nur als Handlanger betrachtet, da sie nur den Anlaß geben zum eigentlichen Schauspiel, das in glänzenden Dekorationen und prächtigen Kleidern besteht."



    Richtet sich der Tadel des "kranken Gefühl des Übersättigten" nicht eher gegen das Bedürfnis nach Neuem und vernimmt man nicht bei "Dichter und Komponisten gelten jetzt bei der Bühne wenig" eine indirekte Kritik gegen die Verfälschung des Originals?

    Lieber hami,


    diese Stelle ist erst einmal interessant, weil E.T.A. Hoffmann ja das Schauspiel an sich als eine Art Perversion kritisiert, wo die dichterische Absicht einem - verkehrten - Darstellungsbedürfnis geopfert wird. Der Dichter wird zum Handlanger der Inszenierung, die ganz anderen als poetischen Zwecken dient. Da hast Du völlig recht: E.T.A. Hoffmann möchte ein Theater, daß ganz anders als das die Absichten und Zwecke des Dichters und Komponisten verwirklicht. Aber das wird vorgetragen im Stile einer "unzeitgemäßen" Betrachtung, insofern die herrschende Theaterpaxis eigentlich eine verkehrte Welt ist, gegen die man ankämpfen muß. E.T.A. Hoffmann spielt mit dem Wort "Geschmack", daß er hier satirisch-wörtlich nimmt als einen sinnlichen. Hier äußert sich der Romantiker. An anderer Stelle heißt es: "Nur die Begeisterung, von dem darüber schwebenden Verstande beherrscht und gezügelt, schafft das klassische Kunstwerk." Der Zuschauer soll demnach nicht geschmäcklerisch mit der Kunst umgehen, sondern enthusiastisch. Das ist ein Topos der Romantik - kein irgendwie zweckrationaler Umgang mit der Kunst. Denn der (sinnliche) Geschmack ist konsumatorisch, eine Form der Bedürfnisbefriedigung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Holger mag es als "Krieg", bzw. "Wille zur Macht" bezeichnen, aber was wir tun, ist nichts Anderes als die Arroganz parktisch aller heutigen Regiesseure im deutschen Sprachraum mit ganzer Energie zu bekämpfen. Fast vier Jahrzehnte haben diese Herrschaften unsere berechtigten Ansprüche mit Füssen getreten und lächerlich gemacht, ungeachtet dessen, dass sie nur dank Subventionen und unserer Eintrittsgelder ihre Ideen verbreiten durften. (Wer wollte da ernstlich bestreiten, dass die "Macht" von ihnen ausging?) Wir haben nun lange genug geschwiegen und unsere Ansprüche sind im Grunde genommen recht simpel. Wir wollen wieder in die Oper gehen dürfen und ein Erlebnis geniessen dürfen, welches uns spätestens durch die unselige Ruth Berghaus und ihre Schule über Jahrzehnte verwehrt wurde.


    Das kann ich nicht akzeptieren. Denn das läuft darauf hinaus, daß der Regisseur die armselige Rolle eines Dienstleisters zugewiesen wird, der die kontingenten Ansprüche des jeweiligen Publikums zu erfüllen hat. Dann dankt er als eine künstlerische Instanz, ein "Ideengeber", völlig ab. Dann frage ich mich, wer als nächstes "dran" ist. Soll man von Auftragskompositionen etwa auch verlangen, daß sie dem Publikumsgeschmack entsprechen müssen - also das Publikum darüber abstimmen lassen, ob der Komponist Geld bekommt? Dann sind wir wirklich bei Verhältnisses wie bei "Deutschland sucht den Superstar". Klassik wird zum Pop und Kommerz - denn wenn es um Puplikumsansprüche geht, dreht sich letztlich immer alles ums Geld.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Was bei diesem grundlegenden Theorem des Regietheaters übersehen - oder bewusst ignoriert - wird, das ist die Fähigkeit des Menschen, die eigene emotional-lebensweltliche Disposition zu transzendieren und sich in andere lebensweltliche Situationen und die sie bedingenden ethisch-moralischen Voraussetzungen hineinzuversetzen.

    Von daher ist es im Grunde eine Anmaßung, wenn ein Regisseur die Auffassung vertritt, dass man eine dramatische Handlung, die in der Welt des späten Absolutismus spielt, in die gegenwärtige Lebenswelt transponieren müsse, weil sonst der Zuschauer nicht verstehen könne, worum es in diesem Stück „eigentlich“ geht. Eben diese Fähigkeit, die eigene Lebenswelt rational und emotional zu transzendieren, wird dabei dem Menschen als Zuschauer abgesprochen.
    Und damit wird er bevormundet.

    Lieber Helmut,


    das ist eine doch nicht so einfache Frage. Der Gedanke, daß man sich in die Seelenwelt einer anderen Epoche "hineinversetzen" kann, stammt ja aus der romantischen Hermeneutik und setzt eine Einfühlungskonzeption voraus. Gadamer z.B. bestreitet grundsätzlich, daß man einen Sinn aus der Vergangenheit in dieser Weise identisch "reproduzieren" kann, wie die Romantik annimmt. Ich würde freilich nicht so weit gehen. Die Frage ist für mich eine etwas andere: Reicht die Einfühlung wirklich aus, um mich in der Weise mit dem "Helden" eines historischen Stückes zu identifizieren, seine Motive, Gefühle usw. zu meinen eigenen zu machen? Einfühlungstheoretiker bemühen immer das klassische Beisspiel, daß ich die traurige Stimmung einer Landschaft in einem Gemälde als Ausdruck erfassen kann, ohne dabei selber traurig gestimmt zu sein. Eine Distanz von eigenem Erleben und dem Erleben des dramatischen Inhalts kann also gerade auch dann bestehen bleiben, wenn ich in der Lage bin, mich einzufühlen. Ich bin zwar grundsätzlich fähig, mich in Tannhäuser einzufühlen - und trotzdem kann er mir in dem was er tut, fremd bleiben aufgrund meiner eigenen Lebenserfahrung, ein anderer Opernheld mir deutlich "näher" sein. Die "aktualisierende" Interpretation hat die Aufgabe, sich mit dieser Distanz auseinanderzusetzen. Das halte ich für legitim, weil Einfühlung eben nur eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung dafür ist, die fremde Erlebniswelt in die eigene quasi zu übersetzen.


    Der Einwand der Bevormundung leuchtet mir gar nicht ein. Jede Interpretation ist eine Bevormundung. Wenn der Interpret einer Klaviersonate von Beethoven meint, mit seiner Interpretation ein Klassizitätsideal verwirklichen zu müssen, dann zwingt er dem Hörer diese seine Sicht auf - der ist dazu quasi verdammt, Beethoven durch die Brille des Interpreten aufzunehmen. Solange es keine "interpretationsfreie" Deutung gibt, geht es nicht ohne diese "Bevormundung".


    Schöne Grüße
    Holger

  • Denn das läuft darauf hinaus, daß der Regisseur die armselige Rolle eines Dienstleisters zugewiesen wird, der die kontingenten Ansprüche des jeweiligen Publikums zu erfüllen hat. Dann dankt er als eine künstlerische Instanz, ein "Ideengeber", völlig ab.


    Und Otto Schenk, Ponnelle oder Zeffirelli wären als schöpferische, eigenständige Künstler disqualifiziert?

  • Einen kleinen Nachtrag wollte ich doch noch machen, weil hier immer wieder auf Gadamer Bezug genommen wird. Von seinem Ansatz der Hermeneutik her würde ich in - zugegeben etwas plakativer Weise - sagen:


    Ein Regie-Konzept wie das von Kosminski verscherzt geradezu das kognitiv-emotionale Potential, das in der Horizontverschmelzung zwischen künstlerischem Werk und seinem Rezipienten liegt.

  • Ein Regie-Konzept wie das von Kosminski verscherzt geradezu das kognitiv-emotionale Potential, das in der Horizontverschmelzung zwischen künstlerischem Werk und seinem Rezipienten liegt.


    Lieber Helmut,


    wie ich Gadamer verstehe bestreitet er die Möglichkeit einer solchen "Horizontverschmelzung". Er kehrt das Prinzip, daß wir einen Autor besser als ihn selbst verstehen können (weil wir im historischen Rückblick den kompletten Sinnzusammenhang überschauen, den er selber mittendrin noch nicht hat überschauen können) um in die These, daß wir ihn im Grunde nicht mehr verstehen können. Sein Gedanke ist dabei ja nicht so leicht von der Hand zu weisen: Es gibt nur historische Lebenswelten, und der einzelne Sinn ist immer nur aus dem Ganzen eines historischen Kontextes heraus zu verstehen. Da hilft auch keine Einfühlung - denn die ist eine Form von Intersubjektivität, die immer nur einen einzelnen Sinn und nie das Ganze versteht. Dann rettet er sich mit dem "Wirkungszusammenhang" - die Rezeptionsgeschichte soll die Lücke schließen von Gegenwart und Vergangenheit, was mir als Lösung gar nicht gefällt. Die aktualisierende Interpretation ist freilich eine Gratwanderung. Es wäre eine irrige Meinung für meinen Geschmack, man könnte die Zeitdistanz dadurch einfach aufheben - sie bleibt immer bestehen, man kann die Vergangenheit niemals in die Gegenwart holen. Der surrealistische Verfremdungseffekt bleibt ja als eine Verfremdung stets erkennbar - zwischen Fremdem gibt es keine distanzlose Verschmelzung. Wenn man allerdings eine "naive" Aktualisierung versucht, welche die Zeitdistanz auf Null reduziert, dann verschwindet die Vergangenheit als eigene Sinnschicht und sie wird durch die Gegenwart usurpiert. Ob man das Kosminski vorwerfen kann, weiß ich einfach nicht - dazu müßte man die Inszenierung gesehen haben, finde ich.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Herr Fricsay der vor einigen Jahren an der Rheinoper die Entführung aus dem Serail inszeniert hat, hat in einem Interview gesagt, die Hauptaufgabe eines Regisseurs sei es dem Publikum und vor allem der Musik des Stückes zu dienen und es nicht zu verfremden oder zu entstellen. Wie ich finde eine sehr richtige Einstellung, die mehr Regisseure haben sollten,

  • Burkhard C. Kosminski zu seiner Tannhäuser-Inszenierung, die ich hier in Auszügen wiedergeben möchte. Auf die Frage „Was war Ihre dramaturgische Idee“ antwortet er:


    „In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt. Mich interessiert das große archaische Thema der Schuld. Wieso sollte man also Tannhäuser nicht zu einem Täter machen, zu einem Kriegsverbrecher? In meiner Inszenierung wird Tannhäuser von Mitgliedern der Wehrmacht gezwungen, eine Familie zu erschießen. Der Abend beschäftigt sich mit individueller Schuld im Nationalsozialismus und während der Entstehung der BRD.“


    Das wäre zu diskutieren, ob das einleuchtet. Man kann mit Tannhäusers Motiv ja verschieden umgehen. Wenn man es etwa mythologisch versteht und symbolisch, dann braucht man die gesellschaftliche Konkretisierung nicht. (Sexuelle Fehltritte sind inzwischen nahezu gesellschaftsfähig, sicher, aber man versteht die Schuldgefühle auch ohne das.) Dann ist das aber "irgendeine Verfehlung" (es geht um Schuld an sich und nicht irgendeiner bestimmte) - die Konkretisierungsebene fällt weg. Das ist letztlich eine Frage, wie man die Aufgabe der Dramaturgie sieht. Wagners Konzeption ist allerdings die eines historischen Dramas mit szenischer Präsenz aller Motive und deren Konkretion. Wenn man die Schuld als Archetypus auffaßt, dann überläßt man die Konkretisierung dem Zuschauer - Symbole sind vielfältig deutbar. So etwas wollte Wagner sicher nicht und auch nicht, daß man ein Drama distanziert und objektivierend rezipiert wie ein Geschichtsbuch: "Es war einmal so, daß man für eine sexuelle Verfehlung bestraft wurde...". Warum diese Aktualisierung allerdings zwingend ist, das macht Kosminski nicht wirklich plausibel mit dieser Aussage für meinen Geschmack. Das Motiv für eine Aktualisierung muß schließlich ebenso plausibel verständlich sein wie die handelnden Personen im Drama.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nein, sicher nicht, aber ihre Produkte haben doch im Großen und Ganzen dem Publikumsgeschmack entsprochen und waren trotzdem recht originell.


    Lieber Hami,


    von Ponelle habe ich glaube ich in Düsseldorf einige Inszenierungen gesehen. Das ist aber schon lange her. Fand ich damals sehr gut. Natürlich meine ich nicht, daß nur "provozierende" Inszenierungen Qualität haben. Die "Bilder einer Ausstellung" sind ja auch kein schlechtes Werk, nur weil sie populär sind.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hier
    ein sehr interessanter (zumindest weitaus interessanter als alle philosophischen bzw. pseudophilosophischen Gedankenspielchen) und im Bezug auf das harte Sängerdasein sehr realistischer Artikel des Dortmunder Opernsängers Christian Sist.

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

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