Über veränderte Rezeptionshaltungen oder Opernästhetik würde ich durchaus gerne etwas lesen. Weshalb sollte das schon zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Versuch einer Psychoanalyse bei Forenmitglieder oder mit Gehirnwäsche sein?
Ich verstehe auch nicht, weshalb man unterschiedliche Rezeptionshaltungen (man könnte es ja auch ganz unscharf"Geschmäcker" nennen) nicht einfach einmal mit einer gewissen Portion Toleranz und Respekt vor anderen Kunstempfindungen ertragen kann.
Eines ist doch klar: Ich könnte viele eloquent vorgetragene Argumente für jene umstrittenen Inszenierungen interessiert zur Kenntnis nehmen, sie vielleicht in einzelnen Punkten sogar logisch-intellektuell nachvollziehen. Wenn ich aber dann in mich hineinhöre, dann wird wohl immer das eine Ergebnis herauskommen: Das, was einige hier "Verunstaltungsinszenierungen" nennen, mag ich einfach nicht, manches davon finde ich regelrecht furchtbar, vor allem wenn die Optik gegen die Musik und das Libretto anspielt. Da sträubt sich etwas in mir und allein schon deshalb neige ich dann dazu, jenen Argumenten zuzustimmen, die einen anderen "werktreuen" Regiestil stützen.
Dennoch sollten meiner Meinung nach diejenigen, die z.B. die Brabanter gerne als Ratten sehen mögen, da auch hingehen, während die anderen dann entsprechend mit den Füssen abstimmen.
Weil ich diese Auffassung bisher so vertrat, bekam ich bis heute niemals den Eindruck, dass mich jemand hier als zu dumm oder sonstwie verstaubt diffamierte, oder habe ich da etwas übersehen?
Auch grosse Auffassungsunterschiede sollten m.E. noch kein Grund sein, sich mit jemanden, der zu diesem Thema nun einmal anders empfindet und das ebenfalls begründet, derartig zu zerstreiten. Es kommt einem ja fast so vor, dass Holger aus Listen eines Liegenschaftsbuchs mit Gemarkungsnummern etc. zitieren könnte - man würde ihm selbst solch ein Zitat als absolute Frechheit, als Gipfel der Lächerlichkeit, als besonders perfide Masche ankreiden. Bei so viel Feindseligkeit komme ich da einfach nicht mehr mit.
Wenn es um meine Höreindrücke zu manchen Mozartinterpretationen geht, dann bin ich z.B. mit Alfreds Ansichten dazu ab und zu uneinig.
Deswegen habe ich aber doch überhaupt kein irgendwie geartetes persönliches Problem mit ihm - nicht einen Hauch. Was spricht den gegen Respekt und Toleranz bei teilweise unterschiedlichen Kunstauffassungen?
Der einzige Grund, wirklich emotional zu werden, bestünde für mich in direkten, frechen, rechthaberischen, flapsig-unsachlichen, pöbelnden und sonstwie persönlichen Angriffen auf Künstler oder auch auf Forenmitglieder. Das wäre ein Shitstorm-Stil, den man heute jeden Tag an allen möglichen Stellen im Netz findet. Ich habe es immer als wohltuend empfunden, dass bei Tamino ein derartiger Stil nicht geduldet wurde. Hier haben wir eines der herausragenden Qualitätsmerkmales des Forums.
Von daher würde auch ich eine Versachlichung der Diskussion zu diesem Thema sehr begrüssen, weil man nur so inhaltlich auf interessante und lesenswerte Punkte kommen kann. Aber, lieber operus, ich fürchte fast, dass es in diesem Fall bei einem (frommen) Wünschen bleiben wird.
Gerhard
Für die in Deinem Beitrag 177 aufgezählten Beispiele kann ich auch keinen vernünftigen künstlerischen Grund erkennen. Ich mag so etwas einfach nicht, weil es werkzersetzend statt werkgerecht auf mich wirkt, mit den Opern nach meinem Verständnis kaum noch etwas zu tun hat und in mir vor allem die Reaktion des Angewidertseins erzeugt. Wer z.B. auf Orgien steht, bei der Menschen auf andere Menschen pinkeln, der kann sich ja im Netz oder bei sonstigen Produkten der Pornoindustrie bedienen (ich finde das ja furchtbar, aber nun denn....), die das ohnehin noch extremer und schamloser machen werden, als es in der Oper geschieht. Dazu braucht man dann aber keine Oper. Wie ich oben schon versuchte auszuführen, gehen solche Provokations- und Schockversuche mittlerweile meistens ins Leere und sind vor allem eines: infantil.
Zur Versachlichung des Themas wäre mein Vorschlag, in einem Thread allgemein über Rezeptionshaltungen und Ästhetik zu diskutieren, in einem anderen zu definieren, was denn moderne Inszenierung oder Regietheater wirklich vom Begriff her sei und was nicht, und schliesslich in einem dritten Thread auf konkrete Beispiele einzugehen, um dann im Detail zu klären, weshalb z.B. die angesprochene Pinkelei eine respektable und künstlerisch ggf. sogar notwendige Handlung oder eben doch eine schlimme und die Oper verunstaltende Sauerei wäre etc. .
So könnte man vielleich etwas mehr Struktur und Ordnung in eine ziemlich chaotische Diskussion bringen.
Gruss
Glockenton
PS: Vielleicht sollte man auch weniger einen Kampf gegen eine gewisse Art der Inszenierungen im Netz "inszenieren", als sich vielmehr für Aufführungen einsetzen, die eben anders aussehen. Ich mag es z.B. opulent, weiträumig, mit wallenden Kleidern und Nebelschwaden (denke jetzt an Wagner), weil räumliche Tiefe m.E. gut zu dieser Musik passt. Wenn man erst einmal erkennt, dass es für solche "klassische" Aufführungen mit den Mitteln der heutigen Bühnentechnik einen grossen Marktanteil gibt, dann werden die Mechanismen des Marktes darauf auch irgendwann reagieren. An dieser Stelle kommen in der Tat die politischen Entscheidungsträger ins Spiel, denn Kultur wird ja auch subventioniert...