Auf dem Programm ein moderner Klassiker. Es sangen und spielten
Lear - Bo Skuvhus
Cordelia - Hayoung Lee
Goneril - Katja Pieweck
Regan - Hellen Kwon
Albany - Moritz Gogg
Cornwall - Peter Galliard
Kent - Jürgen Sacher
Gloster - Lauri Vasar
Edgar - Andrew Watts
Edmund - Martin Homrich
und die Philharmoniker Hamburg unter der musikalischen Leitung von Simone Young in einer Inszenierung von Karoline Gruber, Bühnenbild Roy Spahn, Kostüme Mechthild Seipel.
(5.Vorstellung seit der Premiere am 15.01.2012)
Eigentlich als Auftragswerk der Staatsoper zu ihrem 300jährigen bestehen geplant fand die Uraufführung der Oper Lear zur Eröffnung der Münchener Opernfestspiele am 9.Juni 1978 im dortigen Nationaltheater statt. Der Intendant hatte das Stück "einfach", d.h. ohne größeren Wiederstand der neuen Intendanz (C.v.Dohnányi) aus der Hansestadt mit in die bayerische Hauptstadt nehmen können. Dort erlebte Reimanns dritte und vielleicht bis heute wichtigste Oper unter der Regie Jean-Pierre Ponnelles einen geradezu fulminanten Erfolg! - Dies schon ungewöhnlich genug angesichts des musikalisch sicher nicht sofort eingängigen Werkes und des wohl eher konservativen Festspielpublikums. Am Pult übrigens der spätere GMD der Staatsoper Hamburg und ausgewiesener Experte neuer Musik, Gerd Albrecht.
Lange Zeit erwies sich der Stoff des Shakespearschen Dramas um den alten König und seine drei Töchter für die Opernbühne als zu sperrig, vielleicht sogar gänzlich ungeeignet. Selbst Verdi - eigentlich ein Virtuose im Umgang mit den Stücken des englischen Dichters - hatte sich an König Lear versucht und musste letztlich sein Scheitern erkennen. Als problematisch galt neben der komplexen Parallelhandlung (Lear und seine Töchter Goneril, Regan und Cordelia / Gloster und seine Söhne Edgar und Edmund) die tiefgreifende Grausamkeit des Stückes. - Vielleicht könnte man sagen, dass es bis in unsere Zeit einfach noch keine angemessene Musiksprache gab, die diesem Stück gerecht werden konnte.
Schließlich begann Aribert Reimann um 1966 herum und nicht zuletzt auf Anregung des späteren Uraufführungs-Lear Dietrich Fischer-Dieskau, sich mit dem Stoff auseinander zu setzen. Es sollte dann weitere zwölf Jahre dauern, bis der Lear endlich die Welt der Opernbühne betreten konnte. Nicht zuletzt ist das Zustandekommen wohl auch der m.E. kongenialen Text-Fassung Claus H. Hennebergs zu verdanken. Er brachte es fertig, die Handlung auf das Wesentlich zu "reduzieren" und die Komplexität transparent zu machen, ohne dabei zu verflachen. Bereits der gewählte Titel "Lear", und nicht "König Lear" liefert eine erste Deutung: Nicht die Machtposition des Herrschers, sondern die totale Fehleinschätzung seines eigenen Handelns, welches schlussendlich zur totalen menschlichen Katastrophe für alle Beteiligten führt, ist der Kern des Stückes.
Ich selber hatte zuvor im Rahmen der Vorbereitung den König Lear in der Übersetzung von Erich Fried gelesen und habe in Hennebergs Arbeit nichts vermisst. - Wer sich übrigens mit Shakespears Original befassen möchte, sei an diesen Thread erinnert: König Lear
Die Qualität des Reimannschen Lear sollte sich aber nun erst beweisen: Nach der Uraufführung 1978 folgten innerhalb kurzer Zeit weitere Aufführungen u.a. in Düsseldorf (in einer Inszenierung von Gerd Westphal(!)), Mannheim und Nürnberg. Aber auch international konnte das Stück z.B. in San Francisco (abermals in der Regie von J.P.Ponelle und auf Basis der Münchner Produktion, ebenfalls mit G.Albrecht am Pult, sowie Thomas Stewart in der Titelpartie) und Paris reüssieren. Die wichtigste Inszenierung neben München dann vielleicht 1983 an der Komischen Oper (Hartmut Haenchen / Harry Kupfer). Und tatsächlich konnte sich das Stück bis heute im Repertoire der Opernhäuser halten; z.B. 2009 in Frankfurt und Berlin (Neuinszenierung).
Und nun, nach 33 Jahren und damit zum 333sten Geburtstag der Staatsoper Hamburg kehrt das Stück an seinen ursprünglichen Bestimmungsort zurück. Eigentlich hatte ich den Lear in meiner persönlichen Saisonplanung für 2011/12 garnicht unbedingt vorgesehen gehabt. Erst mein langjähriger Opern-"Kumpel" meinte, dass sollten wir uns dann doch nicht entgehen lassen - und er sollte recht behalten!
Bereits die von mir im Radio höhrend mitverfolgte Premiere am 15.Januar dieses Jahres konnte beeindrucken. Ein praktisch ungetrübter Erfolg (auch in der Kritik der Presse) für die Sänger, allen voran Bo Skuvhus in der legitimen Nachfolge Fischer-Dieskaus, das Orchester und die - in letzter Zeit nicht immer unumstrittene (Ring des Nibelungen und zuletzt Don Giovanni) GMD Simone Young. Und so auch in der Vorstellung am 27.01.2012:
Zu bewundern war ein unglaublich vitaler und kraftvoller Bo Skuvhus, der sowohl gesanglich als auch darstellerisch eine fesselnde Titelpartie ablieferte. Großartig ebenfalls Andrew Watts Gloster, der die Schwierigkeiten dieser Partie, das beständige changieren zwischen Tenor- unter Countertenor-Lage fast mühelos bewältigte. Da störte auch der durchaus deutliche englische Akzent wenig. Wie immer "eine Bank", und das auch im modernen Repertoire: Peter Galliard(Cornwall) und Jürgen Sacher(Kent). Etwas blässlich vielleicht die Darstellung des Graf von Gloster durch Lauri Vasar.
Von den singenden Damen konnte Hayoung Lee als Lears jüngste und liebste Tochter Cordelia am meisten überzeugen. Etwas abfallend dagegen die beiden anderen Töchter Goneril gesungen von Katja Pieweck und Regan gesungen von Hellen Kwon. Insbesondere in der als Koloratursopran angelegten Rolle der Regan "kippte" Frau Kwons Stimme das eine oder andere Mal.
Als i-Tüpfelchen schließlich war Erwin Leder (Johann, das Gespenst in Wolfgang Petersens Verfilmung "Das Boot") mit seiner schnarrenden, aber immer deutlichen Stimme als Narr zu bewundern.
Meine geliebten-ungeliebten Philharmoniker bewiesen unter der Führung Frau Youngs ein überraschend tiefes Verständnis der Musik. Überwältigend das zweite Zwischenspiel (Darstellung von Sturm und Gewitter) zu Beginn der Heideszene ebenso, wie der für mich berührendste Moment der Oper am Ende dieser Szene, wenn eine Baßflöte im pianissimo die einsame Verzweifelung des "Armen Tom" (der von Gloster verstoßene Edgar) wiederspiegelt.
Die Inszenierung von Karoline Gruber würde ich im Wesentlichen als schlüssig bezeichnen. Dankenswerterweise wird auf eine exzessive Darstellung der dem Stück innewohnenden Gewalt verzichtet, ohne dabei - z.B. in ber der Blendung Glosters - zu verharmlosen. Überzeugend empfand ich die Deutung Lears nicht als greisen, vielleicht schon etwas senilen König, von dem nicht klar ist, ob er überhaupt weiss, was er mit seinem tun anrichtet; vielmehr sieht man einen durchaus kraftvollen, auch agressiven Machtmenschen, der leider viel zu spät erkennt, das falsche getan zu haben und dieses auch nicht durch die Flucht in den (gespielten(?)) Wahnsinn ungeschehen machen zu können.
Die zentrale Heideszene hat ihren Ort auf der Drehbühne mit wenigen Stellwänden, welche durchbrochen von zentralen Begriffen der Interpreation (Ich, Recht, Verrat, Gerechtigkeit) einen klaustrophobischen Eindruck vermitteln. Sehr schön gelöst der beabsichtigte Selbstmord des Grafen Gloster: Als Kreidefelsen in Dover dient ein weißes Laken.
Am Schluß liegt dann die in der ersten Szene angedeutete Parlamentsatmosphäre in Trümmern. Wohin das Auge blickt, liegen die Leichen der handelnden Personen, jedoch Lear stirbt nicht, sondern wirkt zum flirrenden Klang der 48-fach geteilten(!) Streicher wie entrückt. - Kommt nun der wirklichen Wahnsinn? Oder endlich die Erkenntnis?
Am Ende also mehr, als nur verdienter Applaus für einen großen Opernabend in der leider nur zu ca. 2/3 gefüllten Staatsoper.
Viele interessante Information zum Stück, sowie zur Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte bis in die 90er Jahre sind nachzulesen in dem Buch "Aribert Reimanns ›Lear‹. Weg einer neuen Oper" dtv 1984, von K.Schultz (Hrsg.), welches zumindest antiquarisch durchaus noch für kleines Geld zu bekommen ist.
Und wer nun neugierig auf dieses Stück moderner Operngeschichte geworden ist, hat leider neben einem wärmstens empfohlenen Besuch einer aktuellen Inszenierung nur sehr wenig Möglichkeiten, sich mit dem Werk auch höhrend auseinander zu setzen. Außer dem leider vergriffenen und auch antiquarisch wohl nur sehr schwer zu bekommenden Live-Mitschnitt aus München erschienen bei DGG in der Premieren-Besetzung
gibt es einen, wie ich finde, ebenfalls empfehlenswerten Live-Mitschnitt aus Frankfurt, welcher in seiner Expressivität die Hamburger Aufführung m.E. noch übertrifft:
Auf eine Wiederauflage der legendären DGG-Einspielung müssen wir vermutlich warten, bis entweder Aribert Reimann oder Dietrich Fischer-Dieskau das zeitliche segnet - traurig aber wahr ...