27.01.2012 (Staatsoper Hamburg) A.Reimanns "Lear"

  • Auf dem Programm ein moderner Klassiker. Es sangen und spielten


    Lear - Bo Skuvhus
    Cordelia - Hayoung Lee
    Goneril - Katja Pieweck
    Regan - Hellen Kwon
    Albany - Moritz Gogg
    Cornwall - Peter Galliard
    Kent - Jürgen Sacher
    Gloster - Lauri Vasar
    Edgar - Andrew Watts
    Edmund - Martin Homrich


    und die Philharmoniker Hamburg unter der musikalischen Leitung von Simone Young in einer Inszenierung von Karoline Gruber, Bühnenbild Roy Spahn, Kostüme Mechthild Seipel.


    (5.Vorstellung seit der Premiere am 15.01.2012)


    Eigentlich als Auftragswerk der Staatsoper zu ihrem 300jährigen bestehen geplant fand die Uraufführung der Oper Lear zur Eröffnung der Münchener Opernfestspiele am 9.Juni 1978 im dortigen Nationaltheater statt. Der Intendant hatte das Stück "einfach", d.h. ohne größeren Wiederstand der neuen Intendanz (C.v.Dohnányi) aus der Hansestadt mit in die bayerische Hauptstadt nehmen können. Dort erlebte Reimanns dritte und vielleicht bis heute wichtigste Oper unter der Regie Jean-Pierre Ponnelles einen geradezu fulminanten Erfolg! - Dies schon ungewöhnlich genug angesichts des musikalisch sicher nicht sofort eingängigen Werkes und des wohl eher konservativen Festspielpublikums. Am Pult übrigens der spätere GMD der Staatsoper Hamburg und ausgewiesener Experte neuer Musik, Gerd Albrecht.


    Lange Zeit erwies sich der Stoff des Shakespearschen Dramas um den alten König und seine drei Töchter für die Opernbühne als zu sperrig, vielleicht sogar gänzlich ungeeignet. Selbst Verdi - eigentlich ein Virtuose im Umgang mit den Stücken des englischen Dichters - hatte sich an König Lear versucht und musste letztlich sein Scheitern erkennen. Als problematisch galt neben der komplexen Parallelhandlung (Lear und seine Töchter Goneril, Regan und Cordelia / Gloster und seine Söhne Edgar und Edmund) die tiefgreifende Grausamkeit des Stückes. - Vielleicht könnte man sagen, dass es bis in unsere Zeit einfach noch keine angemessene Musiksprache gab, die diesem Stück gerecht werden konnte.
    Schließlich begann Aribert Reimann um 1966 herum und nicht zuletzt auf Anregung des späteren Uraufführungs-Lear Dietrich Fischer-Dieskau, sich mit dem Stoff auseinander zu setzen. Es sollte dann weitere zwölf Jahre dauern, bis der Lear endlich die Welt der Opernbühne betreten konnte. Nicht zuletzt ist das Zustandekommen wohl auch der m.E. kongenialen Text-Fassung Claus H. Hennebergs zu verdanken. Er brachte es fertig, die Handlung auf das Wesentlich zu "reduzieren" und die Komplexität transparent zu machen, ohne dabei zu verflachen. Bereits der gewählte Titel "Lear", und nicht "König Lear" liefert eine erste Deutung: Nicht die Machtposition des Herrschers, sondern die totale Fehleinschätzung seines eigenen Handelns, welches schlussendlich zur totalen menschlichen Katastrophe für alle Beteiligten führt, ist der Kern des Stückes.


    Ich selber hatte zuvor im Rahmen der Vorbereitung den König Lear in der Übersetzung von Erich Fried gelesen und habe in Hennebergs Arbeit nichts vermisst. - Wer sich übrigens mit Shakespears Original befassen möchte, sei an diesen Thread erinnert: König Lear


    Die Qualität des Reimannschen Lear sollte sich aber nun erst beweisen: Nach der Uraufführung 1978 folgten innerhalb kurzer Zeit weitere Aufführungen u.a. in Düsseldorf (in einer Inszenierung von Gerd Westphal(!)), Mannheim und Nürnberg. Aber auch international konnte das Stück z.B. in San Francisco (abermals in der Regie von J.P.Ponelle und auf Basis der Münchner Produktion, ebenfalls mit G.Albrecht am Pult, sowie Thomas Stewart in der Titelpartie) und Paris reüssieren. Die wichtigste Inszenierung neben München dann vielleicht 1983 an der Komischen Oper (Hartmut Haenchen / Harry Kupfer). Und tatsächlich konnte sich das Stück bis heute im Repertoire der Opernhäuser halten; z.B. 2009 in Frankfurt und Berlin (Neuinszenierung).


    Und nun, nach 33 Jahren und damit zum 333sten Geburtstag der Staatsoper Hamburg kehrt das Stück an seinen ursprünglichen Bestimmungsort zurück. Eigentlich hatte ich den Lear in meiner persönlichen Saisonplanung für 2011/12 garnicht unbedingt vorgesehen gehabt. Erst mein langjähriger Opern-"Kumpel" meinte, dass sollten wir uns dann doch nicht entgehen lassen - und er sollte recht behalten!


    Bereits die von mir im Radio höhrend mitverfolgte Premiere am 15.Januar dieses Jahres konnte beeindrucken. Ein praktisch ungetrübter Erfolg (auch in der Kritik der Presse) für die Sänger, allen voran Bo Skuvhus in der legitimen Nachfolge Fischer-Dieskaus, das Orchester und die - in letzter Zeit nicht immer unumstrittene (Ring des Nibelungen und zuletzt Don Giovanni) GMD Simone Young. Und so auch in der Vorstellung am 27.01.2012:
    Zu bewundern war ein unglaublich vitaler und kraftvoller Bo Skuvhus, der sowohl gesanglich als auch darstellerisch eine fesselnde Titelpartie ablieferte. Großartig ebenfalls Andrew Watts Gloster, der die Schwierigkeiten dieser Partie, das beständige changieren zwischen Tenor- unter Countertenor-Lage fast mühelos bewältigte. Da störte auch der durchaus deutliche englische Akzent wenig. Wie immer "eine Bank", und das auch im modernen Repertoire: Peter Galliard(Cornwall) und Jürgen Sacher(Kent). Etwas blässlich vielleicht die Darstellung des Graf von Gloster durch Lauri Vasar.
    Von den singenden Damen konnte Hayoung Lee als Lears jüngste und liebste Tochter Cordelia am meisten überzeugen. Etwas abfallend dagegen die beiden anderen Töchter Goneril gesungen von Katja Pieweck und Regan gesungen von Hellen Kwon. Insbesondere in der als Koloratursopran angelegten Rolle der Regan "kippte" Frau Kwons Stimme das eine oder andere Mal.
    Als i-Tüpfelchen schließlich war Erwin Leder (Johann, das Gespenst in Wolfgang Petersens Verfilmung "Das Boot") mit seiner schnarrenden, aber immer deutlichen Stimme als Narr zu bewundern.
    Meine geliebten-ungeliebten Philharmoniker bewiesen unter der Führung Frau Youngs ein überraschend tiefes Verständnis der Musik. Überwältigend das zweite Zwischenspiel (Darstellung von Sturm und Gewitter) zu Beginn der Heideszene ebenso, wie der für mich berührendste Moment der Oper am Ende dieser Szene, wenn eine Baßflöte im pianissimo die einsame Verzweifelung des "Armen Tom" (der von Gloster verstoßene Edgar) wiederspiegelt.


    Die Inszenierung von Karoline Gruber würde ich im Wesentlichen als schlüssig bezeichnen. Dankenswerterweise wird auf eine exzessive Darstellung der dem Stück innewohnenden Gewalt verzichtet, ohne dabei - z.B. in ber der Blendung Glosters - zu verharmlosen. Überzeugend empfand ich die Deutung Lears nicht als greisen, vielleicht schon etwas senilen König, von dem nicht klar ist, ob er überhaupt weiss, was er mit seinem tun anrichtet; vielmehr sieht man einen durchaus kraftvollen, auch agressiven Machtmenschen, der leider viel zu spät erkennt, das falsche getan zu haben und dieses auch nicht durch die Flucht in den (gespielten(?)) Wahnsinn ungeschehen machen zu können.
    Die zentrale Heideszene hat ihren Ort auf der Drehbühne mit wenigen Stellwänden, welche durchbrochen von zentralen Begriffen der Interpreation (Ich, Recht, Verrat, Gerechtigkeit) einen klaustrophobischen Eindruck vermitteln. Sehr schön gelöst der beabsichtigte Selbstmord des Grafen Gloster: Als Kreidefelsen in Dover dient ein weißes Laken.
    Am Schluß liegt dann die in der ersten Szene angedeutete Parlamentsatmosphäre in Trümmern. Wohin das Auge blickt, liegen die Leichen der handelnden Personen, jedoch Lear stirbt nicht, sondern wirkt zum flirrenden Klang der 48-fach geteilten(!) Streicher wie entrückt. - Kommt nun der wirklichen Wahnsinn? Oder endlich die Erkenntnis?


    Am Ende also mehr, als nur verdienter Applaus für einen großen Opernabend in der leider nur zu ca. 2/3 gefüllten Staatsoper.


    Viele interessante Information zum Stück, sowie zur Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte bis in die 90er Jahre sind nachzulesen in dem Buch "Aribert Reimanns ›Lear‹. Weg einer neuen Oper" dtv 1984, von K.Schultz (Hrsg.), welches zumindest antiquarisch durchaus noch für kleines Geld zu bekommen ist.


    Und wer nun neugierig auf dieses Stück moderner Operngeschichte geworden ist, hat leider neben einem wärmstens empfohlenen Besuch einer aktuellen Inszenierung nur sehr wenig Möglichkeiten, sich mit dem Werk auch höhrend auseinander zu setzen. Außer dem leider vergriffenen und auch antiquarisch wohl nur sehr schwer zu bekommenden Live-Mitschnitt aus München erschienen bei DGG in der Premieren-Besetzung



    gibt es einen, wie ich finde, ebenfalls empfehlenswerten Live-Mitschnitt aus Frankfurt, welcher in seiner Expressivität die Hamburger Aufführung m.E. noch übertrifft:



    Auf eine Wiederauflage der legendären DGG-Einspielung müssen wir vermutlich warten, bis entweder Aribert Reimann oder Dietrich Fischer-Dieskau das zeitliche segnet - traurig aber wahr ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Vor etlichen Jahren gab es unter der Intendanz Eike Gramms' eine äußerst hervorragende Inszenierung des Generalintendanten im Gemeinschaftstheater Krefeld-Mönchengladbach. Die Partie des Lear sang damals Monte Jaffé, der auch international Karriere machte. Ich kann mich erinnern, dass ich diese Oper zur damaligen Zeit 4 mal beigewohnt habe.

  • Grade jetz habe ich gesehen, dass Hellen Kwon mitgesungen hat. Wir haben gemeinsam an der Musikhochschule Köln bei Prf. Jacob studiert. :jubel::jubel::jubel:

  • Grade jetz habe ich gesehen, dass Hellen Kwon mitgesungen hat. Wir haben gemeinsam an der Musikhochschule Köln bei Prf. Jacob studiert. :jubel::jubel::jubel:


    Dann verrate ich Dir wahrscheinlich nicht zu viel, wenn ich Dir sage, dass Fr. Kwon im letzten Jahr den Ehrentitel einer Hamburger Kammersängerin erhalten hat :jubel:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Anläßlich meines letzten Opernbesuches am vergangenen Samstag kann ich nicht umhin, diesen Thread noch ein (letztes?) mal aus der Versenkung zu holen - insbesondere da anzunehmen ist, dass das Stück, um welches es hier geht, nach dieser Aufführungsserie wohl für längere Zeit im Fundus der Hamburger Staatsoper verschwinden wird :( Einerseits mag dies verständlich sein, war doch das Haus in der Vorstellung am 10.05.2014 höchstens zu einem viertel ausgelastet. Andererseits ist dies vor allem auch deshalb schade, weil die Besetzung im Vergleich zur Premierensaison nochmals merklich in ihren Rollen gewachsen zu sein scheint:


    Zum Beispiel die Damen Pieweck und Kwon, die keinerlei Unsicherheit mehr in der stimmlichen Gestaltung spüren ließen. Aber auch die Neubesetzung der Cordelia durch junge, australische Sopranistin Siobhan Stagg kann wohl als Glücksgriff bezeichnet werden; zeigte sie doch an diesem Abend, wie sehr auch junge Künstler in der Lage sind, derart schwierige Partien bzw. komplexe Figuren adäquat auf die Bühne zu bringen. Auch Lauri Vasars Graf von Gloster hat inzwischen die notwendige tiefe und vor allem Tragik erreicht, die diesen im doppelten Sinne Blinden glaubwürdig erscheinen läßt. Und schließlich wieder Bo Skuvhus in der Titelpartie - sowohl gesanglich, als auch darstellerisch vielleicht der Lear der kommenden Jahre, wenn doch dieses großartige Werk des 20ten Jahrhunderts nur öfter auf die Bühne käme ...


    Wer also noch die Gelegenheit hat, sollte sich wenigstens eine der letzten beiden Vorstellung am 15.05 oder 17.05.2014 anschauen!


    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Dank der Rezension von MSchenk machte ich mich heute in die Oper auf und kann seinen positiven Eindruck
    nur bestätigen. Ich hätte etwas versäumt, wenn ich diese Oper (zum ersten Mal) nicht kennen gelernt hätte.
    MSchenk sei Dank. Hier ist mein Bericht von der Vorstellung:


    Shakespeare-Theater oder Oper? Vielleicht ist es das, was viele von einem Besuch des Stücks abhält. Die
    Theatergänger, die den Inhalt kennen und sich mit ihm auseinandersetzen mögen, gehen selten in die Oper;
    der klassische Operngänger mag keine moderne Musik und findet das Thema mit Dummheit, Intrige, Mord
    und Totschlag sowie schlimmen Ausgang eher schwierig. Zudem lullt die Musik nicht ein, es gibt kein „Lied
    von der Weide“ (Otello) oder eine große „Händeschrubbarie“ (Macbeth) wie bei Verdi, die über das jeweilig
    unangenehme Thema hinwegtrösten. Nein, der Komponist Aribert Reimann untermalt (wenn gesungen
    wird) und gestaltet musikalisch (wenn nicht gesungen wird) das Tragische, Wirre, fast Krankhafte, ja Böse
    des Stücks, so dass dem Hörer kein Ausruhen (in Schönheit) gegönnt wird. Einmal wird gegen den Strich
    gesungen. Nach der Pause ertönt im Hintergrund eine auffällig volltönende „Frauen“stimme, die den
    auftretenden Sängerinnen nicht zuzuordnen war. Die einleitenden Vokalisen gehörten zu den wenigen
    „schönen“ Partien. Es erschien ein Mann, der sich von Edgar in Tom mit verstellter Stimme verwandelt hatte.


    Von allen wurde großartig gesungen. Vor allem natürlich von Bo(je) Skovhus als Lear, von Andrew Watts
    als Edgar/Tom (Countertenor), sowie von Laurie Vasar als Gloster, aber auch von Martin Homrich
    (mit verzeihlichen Kieksern) als Edmund. Die bösen Schwestern Goneril (Katja Pieweck) und Regan (Hellen
    Kwon
    ) sangen ausgezeichnet, wobei Katja Pieweck die überzeugendere Darstellerin war (Hellen Kwon nahm ich
    das Böse nicht so richtig ab). Katja Pieweck hat im Auftreten etwas Majestätisches, bei der das Böse unter der
    glatten Oberfläche lauert. In einer Vision des Königs wird sie, nur still an der Wand der Drehbühne stehend,
    gezeigt und erreicht allein durch ihre physisch/psychische Präsenz eine unheimliche Wirkung. Cordelia
    (Siobhang Stagg) hatte im ersten Teil nicht viel singen, nach der Pause waren auch ihr einige schöne Passagen
    gegönnt. Ihre beiden Schwestern standen aber zweifelsohne im Vordergrund des Geschehens.


    Worum ging es: Zwei ältere Männer treffen Fehlentscheidungen. Der eine, Lear, verstößt seine jüngste Tochter
    Cordelia, die ihrer Liebe zum Vater in der Öffentlichkeit nicht genug Ausdruck geben will und teilt das Reich unter den
    sich später bekriegenden Schwestern Goneril und Regan auf; der andere, Graf von Gloster, lässt sich von seinem
    intriganten Zweitgeborenen (Edmund) dazu verleiten, den Erstgeborenen (Edgar) zu verstoßen. Lear wird von
    seinen älteren Töchtern aus dem Haus gejagt, weil er ihnen mit seinen ritterlichen Saufkum­pa­nen zu teuer wird,
    Gloster, der sich für Lear einsetzt, wird von Regan (in deren Gefangenschaft er gerät) geblendet und erkennt erst
    am Schluss, welches der treue und wer der untreue Sohn war. Schlussendlich tötet Edgar seinen Bruder im
    Zweikampf, Regan wird von ihrer Schwester Goneril vergiftet und Cordelia auf Befehl von Edmund noch ermordet.
    Goneril tötet sich schließlich selbst. Lear bleibt allein, der blinde Gloster hat immerhin noch seinen treuen Sohn, der nun
    wohl König werden wird. Überlebt hat auch der Narr, schön und deutlich gesprochen von Erwin Leder.


    Das Orchester spielte unter der Leitung von Simone Young fabelhaft, der Schlussbeifall war jubelnd, vor allem für
    Skovhus, Watts und die Damen; schließlich holte Frau Young noch den Komponisten auf die Bühne, der sich beim
    Orchester und bei allen Sängern einzeln bedankte. Laut Programmzettel wurde die heutige Vorstellung für eine
    DVD-Produktion aufgezeichnet.

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv