Am Allerheiligentag des Jahres 1942 hat sich Hugo Distler von dieser Welt verabschiedet; er war erst 34 Jahre alt. Das im Bild gezeigte Holzkreuz wurde erst zum Anlass seines 40. Geburtstages unter dem Gesang der Evangelischen Kirchenmusikschule Halle auf dem Stahnsdorfer Waldfriedhof enthüllt. Im oberen Bereich sieht man das Relief einer Kirchenorgel und unter dem Sterbejahr ein Hinweis auf Johannes 16,33: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden«
Die Angst erfüllte ihn von Kindestagen an und begleitete ihn bis ans Lebensende. Hugo Distler wurde außerehelich geboren; die Mutter war Schneiderin, der Vater ein Maschinenbauingenieur aus Stuttgart. Die Mutter heiratete 1912 einen Deutschamerikaner, verlässt den vierjährigen Hugo und wandert in die USA aus, eine angedachte Adoption scheiterte aus familiären Gründen; wer weiß, was aus Hugo Distler in Chicago geworden wäre - und so wächst Hugo Distler nun bei den Großeltern in Nürnberg auf. Hier ist zwar für den Enkel gut gesorgt, aber man darf vermuten, dass das Kind trotzdem bemerkte, dass es im Grunde unerwünscht ist. Die Großeltern unterhielten eine Metzgerei, musische Dinge standen hier nicht gerade im Vordergrund.
Mit dem Eintritt in die Schule eröffnete sich dem Jungen eine neue Welt und er entwickelte sich zu einem begeisterten Leser. Die Großeltern ermöglichten den Besuch des Nürnberger Realgymnasiums, wo er von seinen Lehrern Anerkennung fand. Distlers Mutter war inzwischen verwitwet und kam 1919 mit ihrem in Amerika geborenen Sohn wieder nach Nürnberg ins elterliche Haus zurück.
Zuerst fiel der Klassenlehrerin in der Volksschule auf, dass der Junge musikalisch außerordentlich begabt war und sie riet den Großeltern zu einer instrumentalen Ausbildung für den Jungen; ihm wurde Klavierunterricht erteilt. Hier waren rasch Fortschritte erkennbar, aber die Großmutter starb und der Großvater erkrankte; der Unterricht konnte nicht mehr finanziert werden. Er versuchte nun eine Freistelle am Städtischen Konservatorium zu bekommen, wurde jedoch zweimal abgewiesen; der junge Distler war davon überzeugt, dass bei der Ablehnung seine familiären Verhältnisse eine Rolle spielten, sein Selbstbewusstsein war erheblich erschüttert. Aber sein Lehrer, Carl Dupont, ermöglichte eine kostenlose weitere Ausbildung.
Nach seinem Abitur im April 1927 bestand er die Aufnahmeprüfung am Landeskonservatorium in Leipzig mit Auszeichnung! Distler war dann später sehr daran interessiert, dass seine Werke in Nürnberg aufgeführt wurden, der Stachel der Ablehnung saß tief; es war ihm eine Genugtuung zu zeigen, was aus ihm, dem einst Abgelehnten, inzwischen geworden war.
Eine Tante Distlers wohnte in Leipzig und er konnte bei ihr über ein Zimmer mit Klavier verfügen. Hugo Distlers Studienziel war die Laufbahn eines Kapellmeisters, das zweite Hauptfach Klavier. Nachdem die Lehrer den scheuen jungen Mann entsprechend beobachtet hatten, rieten sie ihm dazu auf die Studienfächer Komposition und Orgel zu wechseln. Zu diesem Zeitpunkt war aber an eine kirchenmusikalische Ausrichtung noch nicht gedacht. Glückliche Umstände fügten es, dass Distler noch im ersten Semester in die Orgelklasse Günther Ramins, der damals schon Organist an der Thomaskirche war, aufgenommen wurde. Ein weiterer wichtiger Orgellehrer war Professor Friedrich Höger, der in seiner Erinnerung über die Jahre 1930/31 berichtet:
»Distler kam als ziemlich schüchterner Schüler zu mir, dem man gut zureden und dem man Mut machen mußte. Er begegnete mir immer höflich und anständig, doch wirkte sein Verhalten manchmal wie eine Abwehrstellung, was ich mir aus seiner harten Jugend erklärte. Er war ein liebebedürftiger Mensch und hochbegabter Komponist.«
Es ergab sich, dass in Lübeck eine Organistenstelle in der St. Jakobi-Gemeinde zu besetzen war. Günther Ramin schrieb dem Studenten Distler ein brillantes Zeugnis und dieser wurde zum Probespiel geladen und konnte sich unter insgesamt drei Bewerbern durchsetzen.
Für Distler bedeutete sein Dienstantritt an St. Jakobi zum 1.Januar 1931, dass er sein Studium abbrechen musste. Seine Lübecker Amtszeit währte bis 1937. Bereits in seinem ersten Lübecker Jahr kam bei »Breitkopf & Härtel« Distlers Choralmesse heraus, was auch etwas Geld zum an sich eher kärglichen Gehalt des Organisten einbrachte. Hier war es ihm auch möglich, seine Kompositionen mit einem gut geschulten Chor praxisnah zu erproben.
Natürlich traf Distler auch seine zukünftige Frau beim Musizieren - wo auch sonst ... Waltraut Tienhaus, die Tochter eines Gymnasialprofessors; im Oktober 1933 wird geheiratet. Der »Polterabend« war nicht von dieser Welt - am Vorabend der Hochzeit gastierte der Thomanerchor unter der Leitung von Karl Straube und Günther Ramin an der Orgel in St. Jakobi. Aber neben dieser Heirat erfolgten auch gewaltige politische Veränderungen. Distlers Betätigungen hatten sich gewaltig vergrößert, der Sommerurlaub wurde zu einem Abstecher nach Bayreuth genutzt, wo Distler Richard Strauss bei den Aufführungen »Meistersinger« und »Parsifal« erleben konnte.
Mit Beginn des Wintersemesters 1933/34 nahm Distler eine Lehrtätigkeit an der Kirchenmusikschule Berlin-Spandau auf. Das war dann doch alles etwas zu viel und es kam zum Nervenzusammenbruch. Inzwischen interessierten sich große Namen in der Musik für Distlers Kompositionen und seine »Weihnachtsgeschichte« wurde in vielen deutschen Städten aufgeführt und auch im Rundfunk übertragen. Der Sender Hamburg beauftragte Distler anlässlich der Feiern zum 175. Geburtstages Friedrich von Schillers das »Lied von der Glocke« zu vertonen, eine Arbeit, die in der Nähe von Mittenwald während des Sommerurlaubs erledigt wurde.
In verstärktem Maße strebte der noch junge Mann eine Stellung an einem Konservatorium an, Distler hatte seine Freude am Lehren entdeckt. Als ihn ein Angebot der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin erreichte, war er deshalb voller Freude, wurde aber fast zeitgleich auch von einem Angebot aus Stuttgart überrascht. Als Hugo Distler Lübeck verließ, lagen bereits die bedeutendsten seiner kirchenmusikalischen Werke gedruckt vor.
Am 1. April 1937 trat Distler seine Lehrtätigkeit an der Württembergischen Hochschule für Musik in Stuttgart an; seine Lehrfächer waren: Musiktheorie, Formenlehre und Chorleitung. Zunächst war er von seinem neuen Arbeitsplatz hell begeistert, aber rasch trübte sich das scheinbar gute Arbeitsklima ein, der NS-Studentenbund mochte an Distlers kirchenmusikalischen Aktivitäten keine rechte Freude finden, sie fanden Distlers Kompositionen »undeutsch«. Die Lage spitzte sich immer mehr zu, sodass Distler sein Amt zur Verfügung stellte. Aber sowohl Direktor, Präsident und Lehrerschaft als auch ein Großteil der Studenten standen auf Distlers Seite - die kirchenfeindlichen Kräfte mussten sich entschuldigend zurückziehen. Etwas verwunderlich ist, dass der Pazifist Distler 1940 das Kriegslied für Männerchor »Morgen marschieren wir in Feindesland« komponierte.
Distlers Bekanntheitsgrad war in der Zwischenzeit beträchtlich angestiegen und namhafte Verlage druckten seine Kompositionen. Aber drohende Wolken zogen auf, wegen Beginn des Krieges wurde die Hochschule für einige Zeit geschlossen, nahm aber im November 1939 wieder ihren Betrieb auf, jedoch unter erschwerten Bedingungen. Einige Lehrkräfte waren einberufen worden und mussten vertreten werden und die Schülerzahlen waren gesunken. Im Dezember 1939 wurde auch Distler »erfasst« und im Januar 1940 folgte die Musterung. Inzwischen lag in Berlin jedoch eine Eingabe des Württembergischen Kultusministeriums vor, ein Antrag auf eine Professur für Hugo Distler. Natürlich hatte er Angst davor zum Kriegsdienst gezwungen zu werden, es fanden sich aber immer wieder einflussreiche Leute, die dies abwenden konnten; am 14. Oktober 1942 bekommt Distler schließlich seinen sechsten Stellungsbefehl ...
Aber wir sind ja erst noch im November 1939. Im Folgenden konzertierte Distler sehr viel in der Öffentlichkeit, weil er sich unter anderem davon auch versprach eine unabkömmliche Position im kulturellen Leben zu erlangen, die ihn vor dem Militärdienst schützt. Im Mai 1942 wurde Hugo Distler in Anerkennung seiner künstlerischen, kompositorischen und pädagogischen Tätigkeit zum Professor ernannt. Gleich darauf war es für ihn eine Riesensache in der großen St. Lorenzkirche seiner Heimatstadt, wo er einst am Konservatorium wegen »mangelnder Begabung« abgelehnt wurde, zu konzertieren. In der »Nürnberger Zeitung« wurde das Konzert positiv rezensiert, der Schlusssatz der Kritik las sich so: »Ein Orgelvirtuose von leidenschaftlichem Temperament und ein Bach-Kenner großen Stils präsentierte sich in der Person Hugo Distlers.«
Obwohl Distler seine Stuttgarter Jahre in der Rückschau als seine schönste Zeit bezeichnete, folgte er einer Berufung nach Berlin, was einen beruflichen Aufstieg für ihn bedeutete.
Zum Semesterbeginn begab sich Distler Ende September 1940 zunächst alleine nach Berlin, während seine Familie noch weiter außerhalb Stuttgarts wohnte. Als Distler in Strausberg, nahe Berlin, eine Wohnung gefunden hatte, kam die Familie im November nach.
Trotz sich häufender kriegerischer Einflüsse stand das Berliner Musikleben immer noch auf hohem Niveau. Natürlich war der zunehmende Mangel an Männerstimmen ein Problem für den Chordirigenten. Distlers Chorproben waren nicht gerade einfach und so gab es auch hier, wie andern Orts vorher auch, murrende Unruhe. Trotzdem war es nicht einfach in so einen Chor aufgenommen zu werden, es war dazu eine strenge Prüfung zu absolvieren.
Neben kriegsbedingten Einschränkungen war auch im Kulturbereich der zunehmende Einfluss der Politik spürbar, wobei ausgerechnet im Zentrum der Macht, also in Berlin, noch erstaunliche Freiheiten möglich waren. In internen Kreisen der Berliner Hochschule konnten noch Werke von Bartók, Hindemith, Strawinsky, Webern, Schönberg und anderen aufgeführt werden.
Zum 1. April 1942 wurde Distler mit dem Amt des Direktors des Berliner Staats- und Domchors, einem Chor, der schon seit 1843 bestand, betraut. Aber diese neue Aufgabe war neben seiner Tätigkeit an der Hochschule zu bewältigen. Bei der der Arbeit mit dem Knabenchor kamen Distler die Verpflichtungen seiner Jungs in der HJ in die Quere. Zudem passte es der politischen Kulturbürokratie nicht, dass sich Distler so sehr der Komposition von Kirchenmusik hingab, man strebte von dieser Seite die Verdrängung christlicher Einflüsse auf das Volksleben an.
Distler hatte längst eine kritische Haltung zu dem was da vor sich ging; er verlor seinen Bruder vor Leningrad, musste aus der Ferne erleben wie Lübeck, seine langjährige Wirkungsstätte zerstört wurde und sah mal wieder einem Stellungsbefehl entgegen; am 25. Oktober 1942 wurde er zur Nachmusterung einbestellt und erhielt vom Wehrbezirkskommando den Gestellungsbefehl zum 3. November. Die seelischen Belastungen waren für ihn unerträglich geworden.
Er lud seine Verwandten aus Leipzig ein und übernahm im Sonntagsgottesdienst noch einmal selbst die Leitung des Staats- und Domchors. Seinen Verwandten hatte er gesagt, dass sie nach dem Gottesdienst ohne ihn nach Strausberg zurück fahren sollten, weil er noch eine Besprechung hätte.
Als er zum Nachmittagskaffe immer noch nicht zu Hause angekommen war, begab man sich nach Berlin, um nach ihm zu suchen. Seine Frau fand ihn schließlich in der Dienstwohnung; er hatte den Gastod gewählt, neben ihm fand man den Abschiedsbrief. Am 5. November begrub man ihn auf dem Waldfriedhof in Stahnsdorf. Als er zur letzten Ruhe geleitet wurde, sang zum Abschied der Staats- und Domchor. Unter den Trauergästen war damals auch noch Dietrich Bonhoeffer.
Das Holzkreuz auf Distlers Grab wurde an seinem 40. Geburtstag enthüllt, während die Evangelische Kirchenmusikschule Halle sang.
Wenn man sich mit Hugo Distlers Leben befasst, stößt man ganz nebenbei auch auf Musikernamen, die man aus ganz anderen Zusammenhängen kennt.
So gründete der Kirchenmusiker Klaus Fischer-Dieskau, der ältere Bruder des berühmten Liedsängers Dietrich Fischer-Dieskau, schon 1953 den Berliner Hugo-Distler-Chor. Klaus Fischer-Dieskau war an der Berliner Musikhochschule Schüler von Hugo Distler gewesen.
Auf einem Konzertplakat, das eine Heinrich Schütz-Feier unter Leitung von Professor Hugo Distler anzeigt, findet man unter den Solisten den Namen der Konzertsängerin Margarete von Winterfeld - das war in späteren Jahren die Gesangslehrerin von Fritz Wunderlich an der Musikhochschule Freiburg. Diese Künstler konnten in einer günstigeren Zeit wirken, als dies Hugo Distler möglich war; was hätte er wohl noch schaffen können?
Praktischer Hinweis:
Man wendet sich vom Haupteingang kommend am Infohaus gleich nach rechts und erreicht das Grab nach etwa 200 Metern im Bereich Reformation, Feld 10 - im Friedhofsplan ist das Grab mit der Zahl 8 gekennzeichnet.