Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • Jonas Kaufmann lässt uns 24 mal Zeuge werden, wie höchste Differenzierungskunst dem Schubertschen Liedgesang neue und unerhörte Nuancen abgewinnen kann. Ob der traumwandlerisch einfühlsame „Frühlingstraum“, die üppig ausladend mit großem Ton vorgetragene „Post“ oder das impressionistische Stimmungsbild der entfesselten Naturelemente im „Stürmischen Morgen“, die Handschrift und der große Bogen sind immer da. Im Lied „Einsamkeit“ ist selbst der Tristan schon ahn- und hörbar. In „Täuschung“ spricht einer zu sich selbst in einer Welt, die keinen Dialog, kein Gespräch mehr zulässt, wo auch keiner mehr zuhört: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“. Diese Unumkehrbarkeit menschlichen Handelns ist letztlich das Tragische an der Winterreise. Die Einkehr am Totenacker untermalt Helmut Deutsch auf seinem Steinway mit klarem Glockenklang, die Töne rinnen wie ein leiser Tränenregen ins Ohr des Zuhörers. Kaufmann und Deutsch haben zu einer künstlerischen Symbiose gefunden, die mit dieser Zusammenarbeit die bisher wohl schönste Frucht tragen.


    Liebe Jolanthe,


    von der Tiefe der Betrachtung, der sprachlichen Formulierungskunst und im Inhalt sind Deine Formulierungen gekonnt und bereichernd. Bestes Tamiono-Niveau! :jubel: Mich haben sie dazu animiert, die Winterreise von Jonas Kaufmann zu erwerben, wenn sie im Handel ist. Ich habe erst ein Lied gehört, das mich noch nicht voll überzeugte. Nach Deinem gekonnten Plädoyer wahrscheinlich ein vorschnelles Urteil. Wobei ich in der Winterreise, die reiferen und tieferen Stimmen a la Moll, Weikl, Hotter sehr schätze.


    Sollten Bewertungen zur "Winterreise" von Kaufmann wirklich in diesem Thread, in dem es um "kaputtgesungene" Sänger geht, richtig aufgehoben sein? Da habe ich wirklich meine Zweifel.


    Lieber Rheingold1876


    Zweifel ist das richtige Stichwort. Auch ich habe mich bei Deiner Bemerkung gefragt:"Wo bin ich eigentlich?" Wir sind im Thread "Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise." Inhaltlich stimme ich Dir zu und habe gerade im Thread der vermeintlich "Kaputten" eine Beitrag mit ähnlichem Inhalt eingestellt.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • von der Tiefe der Betrachtung, der sprachlichen Formulierungskunst und im Inhalt sind Deine Formulierungen gekonnt und bereichernd. Bestes Tamiono-Niveau!


    Lieber Operus, ich möchte mich auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen, denn diese Worte stammen leider nicht von mir. Ich hatte unten den Autor dieser Kritik genannt: Dr. Ingobert Waltenberger.


    :hello:
    Jolanthe

  • „Diese Lieder erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, der aus nicht erwiderter Liebe verzweifelt durch eine Winterlandschaft irrt.“ So fasst Jonas Kaufmann den Inhalt der Winterreise von Franz Schubert zusammen – nachzulesen in einem Interview im Booklet seiner ersten im Studio produzierten Winterreise mit Helmut Deutsch am Klavier (Sony 88883795652). Mit diesem einen Satz löst Kaufmann diesen Liederzyklus aller Liederzyklen aus seiner Entstehungszeit heraus, ist um Bezug zur Gegenwart bemüht. Er will diese schauerlichen Lieder einem Publikum nahe bringen, das mit der Symbolik deutscher Romantik weniger vertraut ist, wohl aber empfänglich für eine spannende tragische Story. Das Cover gibt sich nachdrücklich. Es zeigt den Sänger in ein Sweatshirt mit Kapuze gehüllt, schließlich ist es ja kalt auf dieser Reise. Die Krähe als lauernder Begleiter, Galgenvogel in dunklen Mythen, umkreist nicht mehr das müde Haupt des einsamen Wanderers seit er aus der Stadt auszog. Sie sitzt als kleiner entzückender Scherenschnitt auf dem modernen Gewand, nur mehr ein niedliches Beiwerk. Das also ist der Rahmen dieser Interpretation wie ihn sich nur Designer ausdenken können. Die Interpretation selbst setzt sich von derlei Schnickschnack ab. Zum Glück. So sehr Kaufmann um eine zeitgemäße Deutung bemüht zu sein scheint, die eigene Stimme steht ihm dabei im Wege. Sie klingt nun mal nicht eigentlich jung, nicht leicht, nicht flott. Sie geht mehr und mehr ins Dunkle als vollzöge sich eine Wandlung zum Bariton. Mir gefällt das, weil dieser stimmliche samtige Schatten auch als Ausdrucksmittel taugt. Kaufmann, der Kammersänger. Also rettet er so seinen eigenen etwas flapsig formulierten Interpretationsansatz hinein in hohe Liedkunst. Sollen doch andere die zeitlos-moderne Variante singen, Kaufmann kann es nicht. Insofern ist seine Winterreise, die auch nicht viel später hätte kommen dürfen, ein weiteres einnehmendes Beispiel für den Gestalter, der stimmlich an die großen Vorbilder der Vergangenheit anschließt ohne irgendwen zu kopieren. Er ist längst zum eigenen Markenzeichen geworden. Und die Krähe im Lied Nummer 15 ist am Ende doch nicht so niedlich. Bei Kaufmann stellt sich die alte Frage nicht, wer da was singt und erzählt. Schlüpft der Sänger selbst in die Rolle des „jungen Mannes, der aus nicht erwiderter Liebe verzweifelt durch eine Winterlandschaft irrt“ oder erzählt der Sänger diese Geschichte? Das ist ein Unterschied, der bei Kaufmann unerheblich ist. Er bedient beide Perspektiven, geizt nicht mit eigenen Gefühlen und Anteilnahme. Es ist, als würde er selbst ergriffen von dem, was er von sich gibt. Dadurch kommt seine Gestaltung sehr unmittelbar herüber. Sie wird schlichter je mehr der Zyklus voranschreitet um zum Schluss regelrecht zu verhauchen. Es versteht sich von selbst, dass Deutsch gehörigen Anteil hat am Gelingen der Produktion vom Oktober 2013. - Ich erlaube mir, diese Gedanken zur "Winterreise" mit Kaufmann, die ich bereits an anderer Stelle - nicht aber in einem Forum wie diesem - veröffentlicht hatte, hier einzustellen.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Rüdiger,


    ich habe ben eine Weile auf Youtube zugebracht, und das klingt sehr vielversprechend, was Jonas Kaufmann singt. An Helmut Deutsch, der im Übrigen einen klaren Ton pflegt, muss ich mich in meinem Lieblingslied "Das Wirtshaus" noch gewöhnen. Er greift so beherzt zu, dass sich am Ende noch einige Tote erheben und der müde Wandrer doch noch eine Kammer bekommt. Was nur stört, sind die enormen Nebengeräusche der anscheinend an einer Lungenepedemie leidenden Zuhörer. Dagegen ist das Kölner Konzertpublikum direkt stumm, auch wenn Alfred Brendel das anders sieht.
    Ich werde mir den Zyklus auf jeden Fall zulegen, weil ich ein Menge von Jonas Kaufmanns Fähigkeiten halte. Zuletzt hat er mich überzeugt im Verdi-Requiem und auch in der schon etwas zurück liegenden Aufnahme des Fidelio unter Harnoncourt in Zürich, die ich beide auf DVD habe.
    Zur Einstimmung werde ich mir jetzt noch einmal die Winterreise in einer meiner Lieblingsuafnahmen von FiDi mit Jörg Demus auflegen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich kenne die Winterreise nur mit Fischer-Dieskau/Demus. Ich würde gerne mal eine zweite anschaffen. Peter Schreier mag ich als Sänger sehr gern (seine wunderschön interpretierten Volkslieder!). Ich sah aber auch, dass er mehrere Aufnahmen machte - habt Ihr eine Empfehlung? Ich bin hier kein Experte. Langsames Tempo ist in Ordnung, das Gefühl der Verlassenheit sollte schon gut durchkommen...

  • Wenn Du einmal eine "Winterreise" hören willst, die sich in der Sicht auf den "Wanderer" von derjenigen abhebt, die Dir in Gestalt der Aufnahme mit Fischer-Dieskau vorliegt - und nur dann macht ja der Griff nach einer neuen Aufnahme einen Sinn - dann empfehle ich Dir die Interpretation von Christian Gerhaher mit Gerold Huber am Klavier. Sie ist 2008 bei RCA erschienen.


    Bei Gerhaher bewegt sich der "Wanderer" in dem, was er zu singen und zu sagen hat, zwischen Müdigkeit und Resignation auf der einen und einer Haltung des Sich-Auflehnens gegen sein Schicksal auf der anderen Seite. Das ist ein interpretatorisch hochinteressanter Ansatz, - über den man fein streiten kann.


    Die maßgebliche und dem Werk in allumfassender Weise gerecht werdende Aufnahme der "Winterreise" gibt es nicht. Dazu ist dieses Werk viel zu komplex. Es hat auch keinen Sinn, sich einen Berg von Aufnahmen desselben zuzulegen, - es sei denn, man ist ein Stimmenfetischist oder CD-Sammler. (Warum sich ein Mensch von einem bestimmten Liederzyklus - oder überhaupt einem musikalischen Werk - ganz bewusst und gezielt über sechzig sängerische Interpretationen zulegt, ist mir nur schwer begreiflich). Für viel sinnvoller halte ich es, sich dem Werk selbst in intensivem Hören zuzuwenden. Dazu genügen zwei bis drei Interpretationen durch Sänger, von denen man weiß, dass sie interpretatorisch wissen, was sie tun.
    Einen davon hast Du ja schon im Besitz,- Dietrich Fischer-Dieskau nämlich. Jetzt noch Christian Gerhaher und Christoph Prégardien dazu, - und Du bist hinreichend dafür ausgestattet, Dich mit Schuberts Werk gründlich zu beschäftigen.

  • Ich würde jedenfalls als Ergänzung eine Interpretation mit einem Tenor nahelegen; Schreier kenne ich nicht, Pregardien kann ich empfehlen. (Anders oder Pears sind vermutlich zu historisch bzw. zu gewöhnungsbedürftig zum Einstieg.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zit:: "Ich würde jedenfalls als Ergänzung eine Interpretation mit einem Tenor nahelegen;"


    Aus diesem Grund habe ich - in Ergänzung zu meinem Vorschlag "Gerhaher" - noch Christoph Prégardien empfohlen. Bei der "Winterreise" scheint mir allerdings der Aspekt der Transposition nicht so relevant zu sein, wie das bei der "Schönen Müllerin" der Fall ist.
    Die Aufnahme mit Prégardien ist - neben der sich von Fischer-Dieskaus interpretatorischer Sicht ein wenig unterscheidenden Darstellung des Protagonisten - auch wegen dem Aspekt des historischen Klangbilds von Bedeutung. Der Pianist Andreas Staier begleitet Prégardien in der 1971 bei der Teldec erschienen Aufnahme auf einem Fortepiano von Johann Fritz (gebaut etwa 1825).

  • Es ist natürlich eine Frage der Erwartungshaltung. Was möchte man ? Möchte man die tiefliegenden Inhalte hinterfragen, sie Seele des Müllerburschen quasi durchleuchten, möchte man die innere Zerrissenheit hören - oder zieht man leise Resignatopn vor ? Es gibt aber auch Hörer, die das alles nicht wollen, sondern eine Kette "schöner Lieder" gepflegt vorgetragen bekommen.
    Meine persönliche Zweitaufnahme ist eine von Hermann Prey (da wird es vermutlich Proteste hageln) wobei wir zumindest den "jungen" Prey vom "alten" trennen müssen. Letzterer nahm eine Einspielung mit Philippe Bianchoni auf. Der Vortrag ist dunkel samtig, leicht melancholisch, die Stimme - zumindest von Preys Anhängern so gesehen - wohlklingend und balsamisch.
    Abgesehen von einigen Manierismen - über die ein Prey-Fan gerne hinwegsieht, bleibt auch die Dramatik ein wenig auf der Strecke - hier singt kein frustrierter oder verzweifelter Müllerbursche , sondern ein Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hat - abgeklärt,gereift und eher klangschön, still resignierend.



    Zitat

    M. Santi in Audio 10 / 84:"Noch nie hat ein Sänger den poetischen und musikalischen Gehalt des Zyklus so erschütternd interpretiert und so exakt jeden Nerv getroffen."

    Ich frage mich, ob diese Beurteilung heute noch als gültig angesehen wird - vermutlich wird sie eher kontrovers diskutiert...


    Dietrich Fischer Dieskau und Hermann Prey waren ja von jeher ein konkurrierendes Doppelgespann. Bliebe noch die Frage welcher der beiden früheren Einspielungen der Vorzug zu geben ist - jener mit Engel oder jener mit Wolfgang Sawallisch ? Bei dem derzeitigen Preis der beiden Aufnahmen (5.99 Euro) stellt sich die Frage eigentlich nicht.



    Es gibt jegliche Menge heutiger Aufnahmen, teilweise sehr gelobt. An den meisten stört mich, daß hier der schöne Klang zugunsten der dramatischen Aussage auf der Strecke bleibt, wenn Sänger stimmlich an ihrer Grenzen kommen - aber das ist eine Geschmacksfrage.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich kann auch zu Christoph Prégardien raten. Ich habe ihn im Februar dieses Jahres noch live bei uns in Coesfeld gehört, mit dem prächtigen Michael Gees als Begleiter. Unser Chorleiter, von dem ich selbst schon zweimal die "Winterreise" im Konzert gehört habe, war ebenfalls in diesem Konzert und konnte meine Eindrücke bestätigen. Alternativ wäre eine andere Tenoraufnahme:

    unbedingt zu empfehlen.
    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Die maßgebliche und dem Werk in allumfassender Weise gerecht werdende Aufnahme der "Winterreise" gibt es nicht. Dazu ist dieses Werk viel zu komplex. Es hat auch keinen Sinn, sich einen Berg von Aufnahmen desselben zuzulegen, - es sei denn, man ist ein Stimmenfetischist oder CD-Sammler. (Warum sich ein Mensch von einem bestimmten Liederzyklus - oder überhaupt einem musikalischen Werk - ganz bewusst und gezielt über sechzig sängerische Interpretationen zulegt, ist mir nur schwer begreiflich). Für viel sinnvoller halte ich es, sich dem Werk selbst in intensivem Hören zuzuwenden. Dazu genügen zwei bis drei Interpretationen durch Sänger, von denen man weiß, dass sie interpretatorisch wissen, was sie tun.
    Einen davon hast Du ja schon im Besitz,- Dietrich Fischer-Dieskau nämlich. Jetzt noch Christian Gerhaher und Christoph Prégardien dazu, - und Du bist hinreichend dafür ausgestattet, Dich mit Schuberts Werk gründlich zu beschäftigen.


    Nur teilweise kann ich Dir folgen, lieber Helmut. Gewiss, DIE "Winterreise" gibt es nicht. Das sehe ich genau so. Und weil es sie nicht gibt und auch nicht geben kann, unternehmen Sänger und auch Sängerinnen seit jeher den Versuch, sich dem Werk anzunähern, wohl in dem Bestreben, ihm immer neue und bisher unbekannte Seiten interpretatorisch abzugewinnen und sich tiefer hineinzubohren. Ungezählte Aufnahmen aus sehr unterschiedlichen Zeiten künden davon. Viele sind missglückt, andere auch marktpolitischem Kalkül entsprungen. Die meisten aber gewinnen ihr Existenzberechtigung aus ihrer Unterschiedlichkeit. Es stellt sich für mich die Frage, welchen Zugang können wir hier und heute erfahren? Hier und heute war einst auch 1950 oder 1971. Fischer-Dieskau hat - ich habe sie nicht gezählt - mindestens zehn Einspielungen hinterlassen, aus allen Phasen seiner langen Karriere. Das muss doch Gründe gehabt haben. Künstlerische Gründe, unterstelle ich mal. Er wird sie nicht wegen des Geldes produziert haben. Welche Einspielung sollte man also empfehlen? Ich würde zu einer frühen raten, 1952 mit Hermann Reutter. Das ist aber ein ganz persönliches Urteil. Ich könnte auch locker zehn, fünfzehn andere Sänger empfehlen. Souzay, Anders, Pears, Prey, Hotter, Haefliger, Bostridge, Vickers, Vogel, Rothmüller, Gmyrija, Goerne und Rehfuss, wären darunter. Frauen nicht. Ich halte es für einen Irrtum, wenn sie die "Winterreise" singen.


    Die "Winterreise" ist ein faszinierendes Beispiel für den Umgang von Menschen mit Musik. Da kommt man mit Fischer-Dieskau und Gerhaher zwar sehr weit - aber nicht eigentlich weiter. Wer zu anderen Interpretationen greift, der ist doch kein Stimmenfetischist oder Sammler. Das würde ich als abwertend verstehen. Wollten wir solche Sichten auf die Oper, die sinfonische Musik oder die Kammermusik übertragen, wir würden alle innerlich vertrocknen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Es war zu erwarten:
    Die Prozession der Winterreise-Aufnahmen nimmt ihren Lauf. Was da wohl jetzt noch so alles kommen mag?


    Dabei würde man so gerne einmal lesen, was denn nun ganz konkret die gerade empfohlene Interpretation der "Winterreise" so empfehlenswert macht.
    In Anbindung auf meine obige Empfehlung, Christoph Prégardien betreffend, möchte ich auf eine Bemerkung von Christian Gerhaher verweisen. Er meint:
    "Die Sicht auf >Die schöne Müllerin< und die >Winterreise< hat sich wesentlich verändert, auch völlig zu Recht. Ich bin der Meinung, dass eine ausschließlich historisch-werktreue Sicht auf diese Zyklen eher uninteressant ist Ich finde vielmehr das Werk im Kontext seiner Rezeptions- und Aufführungsgeschichte das eigentlich Interessante."

    Aus dieser sängerisch-interpretatorischen Haltung heraus entstand seine Interpretation der "Winterreise". Sie stellt diesbezüglich etwas wirklich Neues dar. Und das macht sie - unabhängig davon, ob man sie gut oder schlecht, das Werk treffend oder daran vorbeigehend findet, ob man die Stimme mag oder nicht (hier im Forum ja ein durchaus relevanter Aspekt) - höchst interessant und empfehlenswert. Dies im Sinne einer sich darin ereignenden Erschließung neuer Aussage-Dimensionen des Werks.


    (Dieser Beitrag hat sich mit dem von Rheingold überschnitten. Ich konnte diesen also noch nicht in meine Ausführungen einbeziehen, möchte mich aber sehr gerne noch darauf noch einlassen. Brauche aber Zeit zum Nachdenken.)

  • Einmal vorweg:
    Deine Reaktion habe ich erwartet, lieber Rheingold. Damit meine ich den letzten Absatz Deines Beitrags, - denn in all dem was Du vorangehend ausführst, stimmen wir, wie Du ganz sicher weißt, vollkommen überein.


    Das, was Du in meinem Beitrag als "abwertend" empfindest, war von mir nicht in diesem Sinne beabsichtigt. Es hat seine Wurzel in der Bemerkung von Tapio, dessen Beitrag ja der Auslöser von dem ist, was sich hier -erfreulicherweise - ereignet:
    "Ich würde (mir) gerne mal eine zweite anschaffen."
    Ich habe mich gefragt: Warum denn wohl? Und daraus ging mein Beitrag hervor.
    Aber ich werde mich noch näher auf Deine Sicht der Dinge einlassen.

  • Wer zu anderen Interpretationen greift, der ist doch kein Stimmenfetischist oder Sammler.

    Dorothea Bossert hat Ende Januar dieses Jahres in SWR2 »Treffpunkt Klassik« sieben neue Winterreise-Aufnahmen vorgestellt: Daniel Behle (Tenor) mit zwei Aufnahmen, Jakob Högström (Bariton), Alice Coote (Mezzosopran), Zvil Emanuel-Marial (Altus), Jan van Elsacker (Tenor), Jan Kobow (Tenor), Matthias Goerne (Bariton)


    Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich mir diese Aufnahmen anhöre, was das mit Fetischismus zu tun haben könnte, erschließt sich mir nicht so recht, ich möchte eben gut informiert sein ...



    Zitat

    Fischer-Dieskau hat - ich habe sie nicht gezählt - mindestens zehn Einspielungen hinterlassen, aus allen Phasen seiner langen Karriere. Das muss doch Gründe gehabt haben. Künstlerische Gründe, unterstelle ich mal.

    Rheingolds Argument, dass Dietrich Fischer-Dieskau ja auch immer wieder die Winterreise aufgenommen habe, hatte ich vor einiger Zeit auch schon angeführt ...
    Eleonore Büning hat Fischer-Dieskaus Winterreisen einmal in einem ZEIT-Artikel aufgezählt:


    »Insgesamt zehnmal hat Fischer-Dieskau die „Winterreise“ allein für die Schallplatte eingespielt, und zwar mit acht verschiedenen Pianisten – so, als gäbe es da irgend etwas zu beweisen oder zu bezwingen. Dreimal mit Moore, einmal mit Brendel, einmal mit Barenboim und mit Demus, außerdem mit Billing, Klust, Reutter und Perahia. Eine einzigartige Obsession: Kein Sänger war je von diesem Werk so besessen.«


    Der Schlusssatz der Musikjournalistin scheint mir in die Diskussion zu passen:
    »Der Wurf einer rundherum idealen und wunschlos seligmachenden „Winterreise“: Der ist ihm zwar nie geglückt, aber, soweit bekannt, auch niemandem sonst.«

  • Ich kann´s kurz machen, lieber Rheingold.


    In all dem, was Du mir zu bedenken gibst und argumentativ vorhältst, hast Du ohne Einschränkung recht. Auch darin also, dass man das, was ich da geschrieben habe, als „abwertend“ auffassen kann (obwohl es so nicht gemeint war, worauf ich oben schon hinwies).


    Bedenkenswert finde ich besonders Deine Feststellung:
    „Wollten wir solche Sichten auf die Oper, die sinfonische Musik oder die Kammermusik übertragen, wir würden alle innerlich vertrocknen.“


    Das gilt ja auch für das Lied (was Du in Deiner feinen Art ausgeklammert hast). Ein Liedforum, in dem nur die sachstrukturellen Gegebenheiten von Liedmusik zur Sprache kommen und der Aspekt ihrer sängerischen Realsierung nicht – oder nur unzureichend – Berücksichtigung findet, vertrocknet.
    Hier, im Tamino-Liedforum, kann man das ja erleben.
    Auch darin hast Du also recht.

  • Vogel

    Lieber Rheingold1876,


    wenn du damit Siegfried Vogel meinen solltest - den schätze ich als Opernsänger wirklich über die Maßen, aber nicht wirklich als Liedsänger - ein Urteil, das maßgeblich vom Anhören seiner eingespielten "Winterreise" herrührt. Seit ich denken kann und Oper- und Konzertaufführungen besuche, also seit ca. 1990, hat er überhaupt keine Liederabende gegeben, in den 25 Jahren seiner Ensemblezugehörigkeit zur Staatsoper Berlin davor hat er dort 3-4 Liederabende gegeben, davon 3x "Die Winterreise". Der Zyklus muss ihn also (beinahe als einziges im gesamten Liedbereich) tatsächlich beschäftigt haben, dennoch überzeugt mich als auf CD dokumentierte Ergebnis nicht wirklich - da überzeugt mich die gemeinsam mit dem Pianisten Norman Shetler eingespielte "Winterreise" seines Ensemlekollegen Siegfried Lorenz weit mehr - das ist nämlich meine mich glücklich machende Einspielung der "Winterreise" (und Lorenz hat immer regelmäßig Liederabende gegeben, ich habe noch 10 solche live erlebt).



    Frauen nicht. Ich halte es für einen Irrtum, wenn sie die "Winterreise" singen.

    Da sind wir uns völlig einig!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • "Stimmungsmäßig" mag man einen Tenor eher in der "Müllerin" bevorzugen, eine tiefere Stimme in der Winterreise. Ich finde aber (ohne das aus der Erinnerung genauer eingrenzen zu können) jedenfalls auch in der "Winterreise" die Originallage in manchen Liedern musikalisch erhellend.
    Selbst wenn man am Ende aus welchen Gründen auch immer einen Bariton bevorzugt, sollte man daher m.E. eine Tenorinterpretation gehört haben.
    (Es ist natürlich kein so extremer Fall wie bei manchen älteren Händel-Aufnahmen eine Tenor oder Baritonstimme einen Alt oder Mezzo ersetzt, was besonders in Duetten zu einem völlig anderen Klangbild führt.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe keine Ahnung, ob Vogl alle Lieder in originaler Lage gesungen hat. Ich weiß nicht mal, ob es eine verbindliche Originallage bzw. -tonarten gibt (ich dachte aber, die sei so, dass sie am besten von Tenören gesungen werden kann). Soviel ich weiß, werden bei Interpretationen von Bariton-Sängern auch gar nicht alle Lieder oder nicht alle in gleicher Weise transponiert.


    Ich weiß nur, dass mir beim Hören Unterschiede auffallen, die eigentlich nicht von der absoluten Tonhöhe abhängen können. (Es gibt auch einige Stücke, die m.E. höher eindringlicher wirken, zB "Die Post", wo also die absolute Höhe für mich eine gewisse Rolle spielt (freilich ist das zweischneidig, weil bei manchen Sängern "mein Herz, mein Herz" medizinisch bedenklich klingen kann ;)). Da ich relativ taub ggü. Tonartenverhältnissen bin, glaube ich eher nicht, dass mir geänderte Tonartenrelationen bei nicht durchweg konsequenter Transponierung aller Lieder auffallen würden, aber das ist bei besser ausgebildeten Hörern vermutlich auch anders.)


    Zwar müsste die Relation von Begleitung und Singstimme eigentlich immer proportional sein?, aber meiner Erinnerung nach wirkt zB die Passage ab "wie anders hast Du mich empfangen, Du Stadt der Unbeständigkeit..." deutlich anders mit Tenor und ich dachte immer, das läge an der relativen Lage von Stimme und Begleitung.
    Leider kann ich das momentan nicht konkreter beschreiben. Wie auch immer, schaden kann es jedenfalls nichts, auch mal einen Tenor zu hören.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

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  • schaden kann es jedenfalls nichts, auch mal einen Tenor zu hören.

    Habe ich schon mehrfach, live und auf Aufnahmen, ich empfinde aber einen (guten) Bariton als weit geeigneter für die Schubert-Lieder als einen Tenor.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Habe ich schon mehrfach, live und auf Aufnahmen, ich empfinde aber einen (guten) Bariton als weit geeigneter für die Schubert-Lieder als einen Tenor.

    Geht mir genau so, obwohl es mir logischer erscheint, mit einer hellen Stimmfärbung die Jugend des Protagonisten zu unterstreichen.
    So finde ich es letztlich nicht "geeigneter" sondern angenehmer.

  • Geht mir genau so, obwohl es mir logischer erscheint, mit einer hellen Stimmfärbung die Jugend des Protagonisten zu unterstreichen.
    So finde ich es letztlich nicht "geeigneter" sondern angenehmer.

    Ein lyrischer Bariton kann ja auch sehr hell und jugendlich klingen, aber eben auch düster und dunkel, und beides ist nötig, die Lieder habe ja oft einen riesigen Umfang von fast zwei Oktaven, und "in den tiefsten Felsengründen" klingt eben von einem lyrischen Tenor wenig abgründig, weil er in dieser Lage einfach nicht mehr soviel Substanz hat - so könnte ich viele weitere Beispiele für die Wichtigkeit der Tiefe in der "Winterreise" aufzählen. In der "Müllerin" ist diese bei Weitem nicht so wichtig.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • ... es sei denn, der Tenor heißt Jonas Kaufmann.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zit: "es sei denn, der Tenor heißt Jonas Kaufmann"


    Du willst doch damit, lieber farinelli, nicht etwa indirekt zum Ausdruck bringen, dass Jonas Kaufmann eine auch nur irgendwie diskutable, weil dem Werk in seiner musikalischen Aussage sängerisch-interpretatorisch gerecht werdende Aufnahme der "Winterreise" vorgelegt habe?
    Das würde mich nun wahrlich in Erstaunen versetzen!

  • Meine Lieben.


    Mit zunehmender Begeisterung lese ich, wie dieses Thema Euch fasziniert, 686 Beiträge ist dieser Thread schon lang. Von "Vertrockenen" kann also keine Rede sein. Dennoch glaube ich - nicht alle werden meiner Meinung sein - daß Schuberts "Winterreise" ZUSÄTZLICH weitere Threads verträgt. Beispielsweise ein Thread über Die Winterreise HEUTE - wo die Winterreise-Einspielungen der letzten 15 Jahre (also etwa ab 2000) kurz beschreiben werden können - und zwar in Bezug auf ihre Werksauffassung, wie also der Text ausgedeutet wird. Die "berühmten Alten" werden bewusst ausgeklammert, dürfen aber am Rande (!!) zum Vergleich kurz erwähnt werden. Ziel ist nicht, die "schönste" Aufnahme zu nominieren, sondern Auffassungsunterschiede herauszuarbeiten, bzw subjektiv zu bewerten zu bewerten. Wenn mindestens VIER Teilnehmer hier ihre Bereitschaft bekunden einen solchen Thread zu füttern, so starte ich in wenigen Stunden einen solchen. Es mag vielleich verwundern, daß ich solch einen Thread zwar ins Leben rufen würde, aber als "Schöngesangfetischist" kaum etwas dazu beitragen könnte.....
    Dennoch würde der Thread mich auch INTERESSIEREN - allerdings (vermutlich) nur mitlesend.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zit: "Von "Vertrocknen" kann also keine Rede sein."


    Lieber Alfred Schmidt,
    da hast Du wohl etwas missverstanden. Meine obige Feststellung, auf die Du hier Bezug nimmst, lautete:
    "Ein Liedforum, in dem nur die sachstrukturellen Gegebenheiten von Liedmusik zur Sprache kommen und der Aspekt ihrer sängerischen Realisierung nicht – oder nur unzureichend – Berücksichtigung findet, vertrocknet."


    Und weil ich - einfach aufgrund meiner Erfahrung hier - tatsächlich dieser Meinung bin, begrüße ich dieses von Dir hier vorgeschlagene Projekt aus voller Überzeugung.
    Beteiligen daran kann ich mich freilich nicht. Das tut mir leid, es ist aber angesichts des Grundkonzepts meiner Betätigung in Sachen Kunstlied in diesem Forum und meines Mangels an hinreichender Urteilskompetenz in Sachen Liedgesang ganz einfach unmöglich.

  • Zit: "es sei denn, der Tenor heißt Jonas Kaufmann"


    Du willst doch damit, lieber farinelli, nicht etwa indirekt zum Ausdruck bringen, dass Jonas Kaufmann eine auch nur irgendwie diskutable, weil dem Werk in seiner musikalischen Aussage sängerisch-interpretatorisch gerecht werdende Aufnahme der "Winterreise" vorgelegt habe?
    Das würde mich nun wahrlich in Erstaunen versetzen!

    :jubel:


    Lieber farinelli,
    nein, erstaunen würde es mich nicht - ich halte dies für unmöglich (soweit ich Dich zu kennen glaube).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich habe, liebe verehrte Taminos, nur richtiggestellt, daß ein lyrischer Tenor (z.B. in der Partie des Werther) durchaus abgründig und in tiefer Lage substantiell zu singen vermag - sofern er z.B. Jonas Kaufmann heißt.


    Zur Gerhaher-Winterreise hat ein von mir hochgeschätztes Taminomitglied bei einem der Werbepartner Diskutables zu bedenken gegeben. Dort zumindest findet Kaufmanns Schubertinterpretation viele Freunde.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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