Zyklus der Verzweiflung - Schuberts Winterreise

  • Ich habe beide Aufnahmen in meinem Bestand, leiber Holger. Du wirst viel Freude an ihnen haben. Vor allem die Aufnahme mit Jörg Demus halte ich für eine der stärksten, die ich von ihm habe.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich habe beide Aufnahmen in meinem Bestand, leiber Holger. Du wirst viel Freude an ihnen haben. Vor allem die Aufnahme mit Jörg Demus halte ich für eine der stärksten, die ich von ihm habe.


    Das glaube ich auch, lieber Willi! :) Zwischen den Aufnahmen liegen 13 Jahre - auch das macht den Vergleich spannend. Ich hoffe nur, die deutsche Post beeilt sich ein bisschen... :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Aber warum denn immerzu diese alten Interpretationen der "Winterreise". Fischer-Dieskau hin und her, - so gut dieser als sängerischer Interpret der "Winterreise" ist: Es gibt doch so viele neue und interessante.
    Und Alfred Schmidts Vorschlag war ja doch höchst sinnvoll, wenn er meinte:
    "Die Winterreise HEUTE - wo die Winterreise-Einspielungen der letzten 15 Jahre (also etwa ab 2000) kurz beschreiben werden können - und zwar in Bezug auf ihre Werksauffassung, wie also der Text ausgedeutet wird. Die "berühmten Alten" werden bewusst ausgeklammert, dürfen aber am Rande (!!) zum Vergleich kurz erwähnt werden."


    Nachdem ich die letzten Beiträge hier gelesen habe, ist mir sozusagen "der Kragen geplatzt", und ich wurde tollkühn, - mit einer Thread-Initiative, lautend: "Schuberts >Winterreise< post Fischer-Dieskau".

  • Lieber Rheingold1876,


    wenn du damit Siegfried Vogel meinen solltest - den schätze ich als Opernsänger wirklich über die Maßen, aber nicht wirklich als Liedsänger - ein Urteil, das maßgeblich vom Anhören seiner eingespielten "Winterreise" herrührt. Seit ich denken kann und Oper- und Konzertaufführungen besuche, also seit ca. 1990, hat er überhaupt keine Liederabende gegeben, in den 25 Jahren seiner Ensemblezugehörigkeit zur Staatsoper Berlin davor hat er dort 3-4 Liederabende gegeben, davon 3x "Die Winterreise". Der Zyklus muss ihn also (beinahe als einziges im gesamten Liedbereich) tatsächlich beschäftigt haben, dennoch überzeugt mich als auf CD dokumentierte Ergebnis nicht wirklich


    Lieber Stimmenliebhaber, damit hatte ich Siegfried Vogel gemeint. Seine "Winterreise" lauft bei mir - ich sage das mal bewusst etwas lax - unter "interessant". Mich beeindruckt die Fülle seines Vortrages, der nicht so sehr um Feinheit und Verästelung bemüht ist. Da wäre auch für seine Verhältnisse noch mehr drin gewesen. Trotzdem beeindruckt mich seine Interpretation, weil ich sie auch sehr ehrlich und im guten Sinne schlicht empfinde. So seltsam es klingen mag, aber ich fühle mich durch diese Aufnahme immer sehr an seinen Gurnemanz erinnert, den er über weite Strecken betont liedhaft anlegte. Es ist ein Jammer, dass es davon keine offizielle Aufnahme gibt sondern nur diese Szenen als private Mitschnitte.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • So seltsam es klingen mag, aber ich fühle mich durch diese Aufnahme immer sehr an seinen Gurnemanz erinnert, den er über weite Strecken betont liedhaft anlegte. Es ist ein Jammer, dass es davon keine offizielle Aufnahme gibt sondern nur diese Szenen als private Mitschnitte.

    Lieber Rheingold1876,


    ja, das ist in der Tat ein Jammer, dass es keinen offiziellen Gurnemanz von Siegfried Vogel gibt, er ist nach wie vor mein live erlebter Lieblings-Insterpret in dieser Rolle (obgleich Kurt Moll, Matti Salminen und René Pape auch überragende Gurnemänze waren). Allerdings war Vogel eben wirklich in allererster Linie Opernsänger, er sang den Gurnemanz mehr als 30 Mal allein in Berlin (in beiden Kupfer-Inszenierungen, in der zweiten 5x im Jahre 1995), immerin 6x an der Wiener Staatsoper, dazu in Dresden (Premierenbesetzung 1998, letzte Reprisen 1994), Chemnitz, Brüssel, Braunschweig und wohl auch an einigen weiteren Bühnen, zuletzt 3x im November 2000 in Washington unter Heinz Fricke. So sehr wie mit dem Gurnemanz hat er sich mit der "Winterreise" nicht auseinandergesetzt und nach sie 1980 wohl gar nicht mehr live gesungen - und ich finde, das hört man auf der Aufnahme auch. Schon beim "Fremd bin ich eingezogen" fehlt mir einfach das Höhenpiano, das klingt mir nicht vollendet genug, was natürlich auch seinen Reiz haben kann, in diesem Fall aber für mich nicht hat - das reizt mich persönlich die "Winterreise" des genuinen Liedsängers Siegfried Lorenz weit mehr. Dessen Abschiedliederabend von der Staatsoper Berlin 1995 mit eben der "Winterreise" war atemberaubend!!! Lorenz war mein prägender Lied- und Konzertsänger, während Vogel mein prägender Opersänger war.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Aber warum denn immerzu diese alten Interpretationen der "Winterreise". Fischer-Dieskau hin und her, - so gut dieser als sängerischer Interpret der "Winterreise" ist:


    Warum? Der Mitschnitt mit Pollini ist von den Salzburger Festpielen 1978. Das hörte ich damals im Radio - und Jahrzehnte später wird dies zu meiner Freude endlich veröffentlicht! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Von wegen immer nur die alten Aufnahmen! "Es gibt doch so viele neue und interessante", schreibt Helmut, und ich kann ihm nur zustimmen.



    Auf diese Neuerscheinung, die aus dem Rahmen fällt, war ich besonders gespannt – auf die Einspielung mit dem in Israel geborenen Altus Zvi Emanuel-Marial. Er ist übrigens nicht der erste Sänger mit dieser Stimmlage, der sich die Winterreise vornimmt. Im Internet kursieren mehrere entsprechende Versuche, wenngleich auch nur ausschnittsweise. Chia Wee-Kiat aus Malaysia ist darunter. Sehr gewöhnungsbedürftig sind die Experimente des Countertenors und Stimmtrainers Reiner Philipp Kais, der sich vom Akkordeonisten Rudi Meier begleiten lässt. Nun also eine ganz offizielle Einspielung beim Label Thorofon (CTH2615), aufgenommen 2013 in Berlin. Der Auftakt dieser neuen CD nun ist bewegend in seiner Schlichtheit und in seinem natürlichen Fluss. Voraussetzungen für dieses Gelingen liegen aber auch im Lied “Gute Nacht” selbst. Es ist formal nicht sehr extrem, sondern musikalisch ausgeglichen. Schon die Nummer zwei, die “Wetterfahne” hat es in sich und geht nicht eben leicht über die Lippen. Die Dramatik nimmt zu. Im dritten Lied “Gefrorene Tränen” ist auch Tiefe gefragt, die nicht organisch angelegt ist in der Tessitura des Sängers. Es scheint, als müsse er sie künstlich erzeugen. Sie wirkt fremd, nicht zu seinem eigenen Organ gehörig. Über vierundzwanzig Lieder, für die Zvi Emanuel-Marial mit seinem Pianisten Philip Mayers gut siebenundsechzig Minuten braucht, stellt sich eine gewisse Redundanz ein. Ist es so, dass ein Altus diesen Brocken am Ende doch nicht durchhält? Technisch schon, nicht aber im Ausdruck? Es wäre wünschenswert, würde er weiter an der Winterreise arbeiten und in ein paar Jahren ein Resultat präsentieren, das ein größeres Spektrum hat. Seine Stärke ist die Mittellage mit ihrem leichten Hang zum Tremolo, was mir gefällt, weil ein Ausdruckmittel daraus wird. Dieses Tremolo ist wie ein kleines inneres Beben, es illustriert Unruhe, Unglück, Verzweiflung. Wer die CD nicht nur einmal hört, sondern sie mehrfach auf sich wirken lässt, vielleicht auch mal dieses oder jenes Lied einzeln herausnimmt, freundet sich am Ende doch noch mit der Interpretation an. Sie bleibt dann kein Fremdkörper mehr im Regal oder auf der Festplatte.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat

    Das hörte ich damals im Radio - und Jahrzehnte später wird dies zu mei"ner Freude endlich veröffentlicht!


    Das ist ja schön, - aber doch eine ganz persönlich motivierte Reaktion auf meinen Einwand, - kein wirkliches Argument gegen die Sinnhaftigkeit von Alfreds Schmidts Vorschlag, sich doch einmal den neueren Interpretationen der "Winterreise" zuzuwenden, um herauszufinden, was die uns denn zu sagen haben.



    Und da lese ich gerade im Beitrag von Rheingold - und bin hocherfreut:
    "Von wegen immer nur die alten Aufnahmen! "Es gibt doch so viele neue und interessante"...
    Ich kenne diese von Dir angezeigte Aufnahme überhaupt nicht, lieber Rheingold, habe überhaupt wenig Kenntnisse von dem, was es an neuen Interpretationen auf dem Markt so gibt.
    Und deshalb würde ich mich wirklich - ich sag mal peinlicherweise, aber von Herzen - "riesig" freuen, wenn Du Deine, die meinigen weit übertreffenden Kenntnisse in den gerade von mir gestarteten Thread "Schuberts Winterreise post Fischer-Dieskau" einbringen würdest.

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  • Das ist ja schön, - aber doch eine ganz persönlich motivierte Reaktion auf meinen Einwand, - kein wirkliches Argument gegen die Sinnhaftigkeit von Alfreds Schmidts Vorschlag, sich doch einmal den neueren Interpretationen der "Winterreise" zuzuwenden, um herauszufinden, was die uns denn zu sagen haben.


    Alfreds Vorschlag in Ehren - aber meine persönliche Motivation berührt das in keiner Weise (und sie ist auch gegen Nichts und Niemanden gerichtet). Die Liedexperten mögen mein Interesse für Fischer-Dieskaus Winterreise für obsolet halten - mir ist das schlicht schnurzpipeegal.


    Schöne Grüße
    Holger


  • Eben habe ich die CD endlich bekommen! Obwohl ich heute mal wieder mit prosaischer Einrichtungsarbeit in der Wohnung beschäftigt bin, so habe ich mir doch einen kurzen Einblick gegönnt. Überwältigend! Da bedauert man es wirklich, nicht bis zum Ende diesem Ereignis lauschen zu können, was ich mir für später aufhebe. Den "Lindenbaum" (Nr. 5) habe ich mir danach auch nochmals in der Paarung Fischer-Dieskau und Jörg Demus angehört. Beide - Jörg Demus als auch Maurizio Pollini - waren Schüler von Arturo Benedetti Michelangeli. Aber wie unterschiedlich sie doch interpretatorisch vorgehen! Während bei Pollini die Musik fließt, kommt es Demus mehr auf die momentanen Schattierungen an. Sein Klavierpart wirkt "statischer", dem Moment verhafteter. Bei Pollini wird das Klavier aufgewertet, bekommt fast schon symphonische Qualität des dramatischen Aufbaus, des sukzessiven Fließens und Drängens. Fischer-Dieskau, der beim "Lindenbaum" die expressive Dramatik voll auskostet, bekommt durch Pollinis Klavierpart deutlich mehr Unterstützung - Demus agiert da wesentlich zurückhaltender. So wirkt alles zusammen deutlich "dramatischer" und überschauberer, die großen, die dramatische Sukzession definierenden Stimmungswechsel kommen klarer heraus. Obwohl auch Demus ein wirklich ganz ausgezeichneter Partner ist, gefällt mir Pollini hier besser: nicht nur klarer im Aufbau, präziser, sondern auch "schöner" - betörend tonschön ist das und zugleich zupackend und von großer dramatischer Verve, wenn es sein muß. Auch Pollini beherrscht die Kunst, den Stimmungswechseln Schuberts äußerst sensibel zu folgen. Eine Partnerschaft mit Fischer-Dieskau auf "Augenhöhe". Das ist nur ein erster Eindruck - das werde ich noch vertiefen. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit. Rheingold1876: "Wer die CD nicht nur einmal hört, sondern sie mehrfach auf sich wirken lässt, vielleicht auch mal dieses oder jenes Lied einzeln herausnimmt, freundet sich am Ende doch noch mit der Interpretation an."


    Da ich mich ja gerade in verschiedene moderne Interpretationen der "Winterreise" vertiefe, habe ich mir auch die von Dir, lieber Rheingold, oben vorgestellte Aufnahme mit dem Altus Zvi Emanuel-Marial zugelegt und versucht, Zugang zu ihr zu finden.
    Es ist mir, das möchte ich Dir mit großem Bedauern mitteilen, bis jetzt nicht gelungen. Ich kann mich mit dieser Stimmlage und auch mit der Art, wie die Lieder damit sängerisch interpretiert werden, ganz einfach nicht anfreunden. Aber das ist natürlich eine Sache des subjektiven Geschmacks, sagt also nichts über den Wert und die Bedeutung dieser CD-Produktion aus.



    Auf jeden Fall werde ich nicht nachlassen in dem Bemühen, doch diesen Zugang zu finden, der mir im Augenblick noch nicht gelingen will. Du selbst empfiehlst ja ein mehrfaches "Auf-sich-wirken-Lassen".
    Und vielen Dank für diesen Tipp. Von der Existenz dieser CD wusste ich nichts.

  • Unter der Überschrift „Die Eiszeit fällt in den Sommer“ wird in der gestrigen Stuttgarter Zeitung eine „zeitgemäße“ Winterreise-Aufnahme rezensiert, bei der Schauspieler die Texte sprechen und Schuberts Musik am Klavier erklingt. Gesungen wird nicht.

    Wer hat sich diese Hörspiel-Aufnahme schon angehört und wie wirkt sie?


    Freundliche Grüße Siegfried

  • Bin mal gespannt, was der Menschheit noch alles an Mätzchen einfällt, mit einer, wie das hier der Fall ist, im Grunde einen zerstörerischen Missbrauch darstellenden Aufführung von Schuberts historisch singulärem Werk "Winterreise" mediale Aufmerksamkeit zu erregen.


    Denn darum geht es dabei ja letzten Endes nur.

    Wie anders ließe sich sonst erklären, dass diese Leute die Tatsache völlig ignorieren, dass durch die Eliminierung der gesanglich deklamierten Melodik dieses Werk seiner musikalischen Aussage beraubt wird.

  • Ach, Helmut, warum soll das nicht gemacht werden dürfen? Ich habe - neugierig geworden - mal hineingehört und stelle fest, dass diese Produktion nur ganz wenig zu tun hat mit Schubert und seinem Dichter Müller. Im Kern hören wir Erfrahrungsberichte von Obdachlosen, die mit dem Zyklus abgelichen werden. Das ist - wich ich finde - eher ein gut gemeintes Unterfangen, das nichts ändern wird an den Dingen. Diese CD ist für ein Publkum gemacht, dass sie sich leisten lann. Was ich hörte, das waren zum Teil sehr empfindsame Berichte von Betroffenen, fast dichterisch. Die Realität, die ich als Bewohner einer sehr großen und harten Stadt tagtäglich wahrnehme, sind dann doch etwas anders. Kunst sublimiert. Das ist einerseits immer wieder sehr faszinierend, andererseits steckt auch eine Portion Verlogenheit drin. Der Bürger macht es sich auf dem teuren Ledersofa am CD-Player bei einem Glas guten Weines sehr gemütlich und lauscht betroffen, wie der gemeine Obdachlose seinem Schicksal noch ein bisschen Kunst abringen kann, um danach unter der Brücke zu liegen, während sich der Konsument in sein weiches Bett begibt. Gute Nacht!

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Rüdiger,


    Ich habe - neugierig geworden - mal hineingehört und stelle fest, dass diese Produktion nur ganz wenig zu tun hat mit Schubert und seinem Dichter Müller.

    Ich denke, das ist auch das Hauptproblem, und auch der Grund, warum Helmut daran Anstoß nimmt. An für sich ist das ja interessant, die Aussagen der Obdachlosen zu sammeln und mit Musik zu kombinieren, zumal hier auch wirklich hochkarätige Sprecher gewonnen werden konnten. Ich habe jedoch meine Zweifel, inwiefern jetzt ausgerechnet Schuberts Liedzyklus zur Untermalung geeignet ist; da hätte ich eher an entsprechende Blues oder Jazz-Musik gedacht. Zudem hätte ich es besser gefunden, wenn dafür eine eigene Musik komponiert hätte, anstatt das Ganze jetzt Schubert aufzupropfen und diesen Kunstlied-Zyklus als Vehikel zu nutzen, zumal ich denke, dass Schubert und Müller nicht einfach auf die Situation der heutigen Obdachlosen übertragbar ist.

    Kunst sublimiert. Das ist einerseits immer wieder sehr faszinierend, andererseits steckt auch eine Portion Verlogenheit drin. Der Bürger macht es sich auf dem teuren Ledersofa am CD-Player bei einem Glas guten Weines sehr gemütlich und lauscht betroffen, wie der gemeine Obdachlose seinem Schicksal noch ein bisschen Kunst abringen kann, um danach unter der Brücke zu liegen, während sich der Konsument in sein weiches Bett begibt.

    Das finde ich nicht unbedingt verlogen; man kann ja nicht davon ausgehen, dass der Zuhörer in derselben Situation sein muss wie diejenigen, die durch das Wort oder die Musik dargestellt werden, nur damit es authentisch oder weniger verlogen ist. Und wenn sich tatsächlich so etwas wie Betroffenheit oder gar Nachdenklichkeit einstellt, dann hat doch die Kunst ein ganz wichtiges Ziel erreicht und etwas bewirkt. Dafür muss der Zuhörer nicht neben seinem Bett auf dem kalten Fussboden schlafen; aber vielleicht spendet er etwas, kauft beim nächsten Mal eine Obdachlosen-Zeitung oder geht zumindest nicht mehr unfreundlich und achtlos an heimatlosen Menschen vorbei.


    liebe Grüße

  • Kunst sublimiert.

    Ja, das tut sie. Aber wenn es wahre ist, dann lügt sie dabei nicht.

    Schuberts "Winterreise" ist eine darin einzigartige Augen-Öffnung für die Wahrheit menschlicher Existenz mit den Mitteln musikalischer Kunst.

    Keiner, der sich als Rezipient deren Aussage innerlich öffnet und aussetzt, wird sich danach in der Haltung eines satt gewordenen Konsumenten mit einem "Gute Nacht" in sein weiches Bett begeben.

    Womit ich Deine Frage, lieber Rheingold, "warum soll das nicht gemacht werden dürfen?" wohl beantwortet haben dürfte.

    Natürlich "darf" es das. Aber es sollte nicht!

  • Ich würde mich normalerweise im diesem Thread nicht zu Wort melden, weil ich keine Experte für diesen Liedzyklus bin. Er gehört aber zu den wenigen Liedzyklen, die ich wirklich liebe und die mich schon lange Zeit begleiten.


    Zweitens finde ich die gesellschaftliche Dimension von Kunst immer schon interessant und bin auch gerne bereit, darüber zu diskutieren.


    Diese Beispiel sieht aber nach Missbrauch der Kunst aus und schädigt auf der einen Seite das Kunstwerk und desavouiert auf der anderen Seite das politische Anliegen. Schubert Liedzyklus zeigt die existenzielle Not eines Menschen aus seinem Inneren heraus, es handelt sich um eine existenzielle Einsamkeit. Das hat nun einmal gar nichts mit sozialer Ungerechtigkeit und der politischen Not von Obdachlosen zu tun. Keiner Seite wird dadurch ein gefallen getan.

  • Diese Beispiel sieht aber nach Missbrauch der Kunst aus und schädigt auf der einen Seite das Kunstwerk und desavouiert auf der anderen Seite das politische Anliegen.

    Es geht immer noch ein bisschen ärger:



    Zum Glück wurde hier nicht der komplette Zyklus vertont.

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

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  • Wenn bei der Interpretation der "Winterreise" gelegentlich auch sonderbare und gewöhnungsbedürftige Wege eingeschlagen werden - liegt das nicht auch ein wenig daran, dass dieses Werk so überstrapaziert ist? Wer kann die Aufführungen und Aufnahmen noch zählen? Mich wundert es also nicht, dass nach neuen Ansätzen gesucht wird. Neulich hatten wir hier im Forum - vor allem in Carusos so ertragreichem Neue-Stimmen-Thema den Sänger Philippe Sly im Gespräch. Der hat auch eine etwas anders geartete "Winterreise" aufgenommen, von der ich sehr angetan war. Ich kann es sehr gut verstehen, dass sich eine neue Generation den glorreichen Werken auf andere Weise zuwendet als vor vierzig, fünfzig Jahren. Auf der Opernbühne und mehr noch im Schauspiel findet das doch auch statt. Und es gab derlei Experimente auch schon im 19. Jahrhundert.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Wenn bei der Interpretation der "Winterreise" gelegentlich auch sonderbare und gewöhnungsbedürftige Wege eingeschlagen werden - liegt das nicht auch ein wenig daran, dass dieses Werk so überstrapaziert ist? Wer kann die Aufführungen und Aufnahmen noch zählen? Mich wundert es also nicht, dass nach neuen Ansätzen gesucht wird. Neulich hatten wir hier im Forum - vor allem in Carusos so ertragreichem Neue-Stimmen-Thema den Sänger Philippe Sly im Gespräch. Der hat auch eine etwas anders geartete "Winterreise" aufgenommen, von der ich sehr angetan war. Ich kann es sehr gut verstehen, dass sich eine neue Generation den glorreichen Werken auf andere Weise zuwendet als vor vierzig, fünfzig Jahren.

    Zuerst einmal möchte ich mich bedanken für den Hinweis, der mir etwas die Perspektive verschoben hat. Ich habe mir aus Neugier nun das Hörbuch geholt und mittlerweile mehrfach gehört. Ich möchte wissen worüber ich spreche.



    Es ist natürlich absolut legitim, die Interpretation an die Zeit anzupassen. Ebenso sind natürlich auch Mittel zulässig, die Abgegriffenes wieder neu und frisch erscheinen lassen. Alles andere wäre in meinen Augen nur dogmatisch. Kunst bleibt dadurch lebendig.


    Zuerst möchte ich das Anliegen des Vorhabens als sehr positiv herausstellen. Der Autor versucht Verständnis für Randgruppen beim Rezipienten zu erwecken. Er versucht das, indem er die gesellschaftlich Ausgestoßenen mit dem Protagonisten der Winterreise zusammenbringen möchte. Das Vorhaben an sich ist natürlich vollkomen in Ordnung.


    Der originale Liedzyklus verbindet in großartigerweise den Sprachatem der Müllerschen Lyrik mit der genialen Klaviermusik von Schubert, die hier eine fast einzigartige Konzentration erfährt. Die Frage, die sich meines Erachtens hier stellt ist, nachdem wir wissen was dieses Werk nicht ist, nämlich eine Interpretation von Schuberts Liedzyklus, was es denn nun ist.


    Wir haben einmal die Texte von Wilhelm Müller, Stefan Weiller und die Klaviermusik von Franz Schubert. Gelesen wird das Ganze von professionellen Schauspielern und Sprechern, die ihre Rolle ziemlich gut machen, soweit ich das beurteilen kann. Die Texte von Weiller werden hier nicht wirklich durch die Musik vergeistigt, sondern durch die Reihung mit den Gedichten von Wilhelm Müller artifiziert. Es gibt Stellen, wo das erstaunlich gut funktioniert


    Kapitel 16 01:30

    Kapitel 21 00:00


    und noch ein paar andere.


    Meistens sind das Stellen, wo die existenzielle Situation des Vertriebenen oder Alleingelassenen mit einem Gedicht von Müller ein poetisches Bild erzeugt. Leider gelingt das nicht so häufig, weil einfach die Situation hier anders ist. Es handelt sich häufig um Menschen, denen Fehler, die sie gemacht haben, durch die Gesellschaft nicht verziehen wurde. Da ist das Problem häufig die Gesellschaft und nicht die existenzielle Vereinsamung des Menschen. Da kann durch die Sentimentalität des Gedichtes sogar Kitsch entstehen, der der Sache an sich nicht förderlich ist.


    Die Musik von Schubert im Hintergrund (häufig vor oder nach dem passenden Gedicht) erscheint tatsächlich beliebig und ist etwas vergeudet.


    Ob mit diesem Werk das soziale Anliegen wirklich nach vorne gepuscht wird, oder ob es bei der einfachen Erkenntnis stehen bleibt, dass es manchen einfach nicht so gut geht, ist mir nicht klar. Die beim dritten male Hören aufkeimende Langeweile sehe ich nicht als positives Zeichen.

  • Noch ein neuer Versuch, sich diesem Liederzyklus zu nähern. Diesmal ganz ohne Worte



    Erst dachte ich, dass der Name Voyager Quartet eine schöne Idee für diese Produktion sei. Weit gefehlt! Das Ensemble besteht sei 2014.


    Ich bin hin- und hergerissen. Natürlich ist der Versuch mit einem Streichquartett eine interessante Idee, nur hört man leider im Stillen den Text immer mit (dafür kenne ich die Texte leider zu gut). Wie der Eindruck ohne wäre, kann ich nicht imaginieren :(. Der rauhe Klang des Quartetts passt allerdings ganz gut zum Zyklus. Sie haben etwa die Hälfte des Liedzyklus interpretiert, wobei das Ende vollständig zu Wort kommt.;)


    Übergänge zwischen den Liedern werden durch selbst komponierte Intermezzi geliefert. Durch die Modernität dieser kleinen Kompositionen werden sowohl Brücken zwischen den Liedern wie auch kurze Lichtblicke nach heute geliefert.

    Mich würde interessieren, ob das Konzept dem ein oder anderen gefällt und warum (nicht).

  • Mich würde interessieren, ob das Konzept dem ein oder anderen gefällt und warum (nicht).

    Ich gehöre zu jenen, denen das gefällt, lieber astewes. Diese Bearbeitung legt auf eine alternative Weise den tiefen musikalischen Gehalt der "Winterreise" offen. Lieber so als schlecht gesungen. ;) Wer die Phantasie aufbringen kann, sich den Gesang "wegzudenken" - was auch für mich fast schon ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil ich auch so am Wort hänge - wird seinen ganz persönlichen Gewinn daraus ziehen. Schließlich gab es auch in der Vergangenheit solche Bearbeitungen von Schubert-Liedern, die wie ein Nachdenken sind. Man denke nur an Liszt. Die große Verfügbarkeit von Einspielungen der originalen "Winterreise" empfinde ich mitunter auch als Hindernis, neue Interpretationswege zu versuchen. Die Puristen melden sich ganz schnell zu Wort, weil sie sich dem Original verpflichtet fühlen und glauben, es verteidigen zu müssen. Dadurch wird auch mancher Weg versperrt, es mal anders zu versuchen. Durch Bearbeitungen geht doch nichts kaputt und verloren. Das Original bleibt immer unangetastet. Da hatte es der erwähnte Liszt einfacher. Was dieses Voyager Quartet anzubieten hat, ist von großer Intensität. Die Musiker wissen, was sie tun. Danke, dass Du darauf gekommen bist.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat von Rheingold1876

    Lieber so als schlecht gesungen. ;)

    Lieber Rüdiger, ich höre das anders ;), ich mag zwar das auch gerne mit Streichquartett, aaaber z.B. so....


    ....das ist gut gesungen und gespielt!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Aber ja doch, lieber Fieso. So höre ich es natürlich auch gern oder "gerner". ;) Die Einspielung mir Christian Elsner ist mir wohlebaknnt. Und sie ist gut gelungen. Wäre sie nicht so gut gesungen, hätte ich auf die Stimme verzichten können. In diesem Sinne hatte ich mich ausdrücken wollen. Ich weiß nicht, wie oft ich die "Winterreise" gehört haben und wie viele Aufnahme es gibt. Da fällt ja eine Deutung mit Streichquartett allein nicht mal auf. Es ist und bleibt ein Experiment.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat von Rheingold1876

    Es ist und bleibt ein Experiment

    Lieber Rüdiger, dafür ....:thumbup::!:....und den vielen anderen Experimenten! :)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Eine neue "Winterreise" kommt über uns. Diesmal widmet sich Joyce DiDonato dem Werk:



    Bei JPC ist in der Vorankündigung zu lesen:


    Die amerikanische Mezzosopranistin wirft jedoch ein anderes Licht auf diesen geliebten Zyklus von 24 Liedern, indem sie deren Geschichte aus der Perspektive der Frau, der verlorenen Liebe, erzählt. Das Blatt Town Topics, Princeton, schreibt über DiDonatos Interpretation: "Die Frage, was mit der Frau geschah, die den Erzähler auf eine qualvolle Reise schickte, wurde in der Wilhelm-Müller-Dichtung, aus der Schubert den Text schöpfte, nicht beantwortet. DiDonato schuf auf der Bühne ein Szenario, diese Frau zu sein, aus dem Tagebuch des Erzählers zu lesen und auf die innewohnende Verzweiflung zu reagieren."

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Siegfried, danke für den Link. Ich hatte mir die Veranstaltung zwar vorgemerkt, den Termin dann aber wieder vergessen. Nun bin ich sehr gespannt. :)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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