SIMON RATTLE verläßt die Berliner Philharmoniker

  • Nun frage ich mich nach den Eindrücken des gestrigen Tages, ob es noch zeitgemäß ist, dass da 123 - oder waren es nicht 124 Orchestermusiker? - abgeschirmt zusammensitzen, einen bestimmen und der soll es dann aus dem Stand heraus machen, soll seine gesamte Lebens- und Karriereplanung nach diesem Votum ausrichten, soll einfach Ja sagen, ohne schriftlichen Vertrag, ohne genaue Geldzusagen, ohne Einblick in die vielen Details, ohne Berlin näher zu kennen. Warum denn nur? * Weil es eben kein besseres Orchester geben soll auf der Welt als die Berliner Philharmoniker... ? Ich weiß ja nicht. Die Berliner Philharmoniker sollten über das Verfahren nachdenken, weil es es mir total überholt scheint und an Selbstüberschätzung grenzt.


    Völlig richtig, der gestrige Tag bestätigt voll und ganz diese Meinung. Diese Demokratie funktioniert so nicht. Soll wirklich der letzte Pultgeiger eine so existenziell wichtige Frage bestimmen dürfen? Aber da das Orchester nun einmal über das auf der ganzen Welt(!) einmalige Recht verfügt, sich seinen Chef selber aussuchen zu dürfen, werden sie sich dieses Recht nicht nehmen lassen. Wie ist die Lage jetzt? Alle infrage kommenden Kandidaten sind erstmal in irgendeiner Weise beschädigt. Ob Nelsons wirklich abgesagt hat, kann ich mir schwer vorstellen, er wäre ein junger aufstrebender moderner Dirigent, der das von Rattle Aufgebaute fortsetzen könnte. Als ich den "Zarathustra" mit ihm im letzten Oktober erlebte, kam es mir vor, als würde ich dieses Stück zum ersten Mal hören, so grandios fand ich seine Interpretation. Und das Publikum will ihn. Beim umjubelten Nelsons-Konzert vor wenigen Wochen sagte meine Platznachbarin zu mir, wenn Thielemann es wird, kündigt sie ihr Abonnement. Ich bestreite Thielemanns Fähigkeiten in keiner Weise, aber er polarisiert nun einmal und ist musikalisch mit seinem Repertoire schwer vermittelbar. Er kann wunderbaren Bruckner und muss Mahler nicht mögen, das hat er mit anderen gemeinsam (Wand, Celibidache) aber kann er Mozart? Die Dresdner sind wohl zufrieden mit ihm, dann bleibt er eben dort. Jetzt wird es ganz schwer. Wie soll eine Mehrheit bei der nächsten Wahl erreicht werden? Wenn es noch einmal so ausgeht, das wissen alle, werden die Karten irgendwie neu gemischt. Dann muss es eine Entscheidung "von oben" geben. Also diskutieren wir bis dahin munter weiter, aber dass ein völlig neuer Name die Mehrheit finden soll, kann ich mir schwer vorstellen.
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Kann man von einem Herrn L. (allein schon die Ausdrucksweise a la "Herr T."...) in Bezug auf Thielemann etwas anderes als giftige Pfeile vernehmen? Bisher offensichtlich nicht, was solche hämischen Aussagen sehr relativiert.


    Nein, natürlich konnte man noch nie etwas anderes dazu vernehmen und wird es wohl auch nie...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wer sucht denn anderswo den Chef aus? Da gibt es vermutlich ein Komittee mit einigen Orchestermusikern und irgendwelchen "Geschäftsführern" (BWLer mit Musik als Nebenfach oder umgekehrt...). Ob das besser ist?
    Es ist ja keine Einstimmigkeit erforderlich, abgesehen davon, dass auch ein Geiger am letzten Pult der Berliner Philharmoniker ziemlich sicher ein besserer Musiker ist als ein typischer "Geschäftsführer". Dass eine knappe Entscheidung keine gute Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist, finde ich ziemlich einleuchtend.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Geht man davon aus, dass es gestern tatsächlich einen Streit der beiden Lager Thielemann vs. Nelsons gegeben hat - und auch wenn es sich hier um ein rein hypothetisches "Könnte" handelt, wird das Feuilleton dies zu einem "Bestimmt" umzudeuten verstehen, so ist nun (sicher vollkommen unbeabsichtigt, aber vielleicht zumindest für das Orchester vorhersehbar) erreicht, was man ja eigentlich vermeiden wollte:


    Wird in einem Jahr einer der beiden Favoriten tatsächlich gewählt, besteht die Gefahr, dass der Andere schmollt. Diese Situation ist bekannt (Abbado/Maazel) und man wollte ihr mit dem geheimen Verfahren ja explizit aus dem Weg gehen. Andererseits ist nicht ernsthaft anzunehmen, dass sich die Lager innerhalb eines Jahres wesentlich verschieben werden; jedoch, wählt man dann einen Dritten, wird diesem immer der Ruf der eigentlich ungewollten Kompromiss-Lösung anhaften, was mir ebenfalls keine gute Arbeitsgrundlage zu sein scheint. Hinzu kommt, dass vollkommen unklar ist, wie stark die Differenzen tatsächlich sind. Es besteht also die Gefahr, das sich in den nächsten Monaten im Orchester fraglos starke Musikerpersönlichkeiten mit verschränkten Armen gegenüber sitzen.


    Offenbar also ist das Verfahren der Chefdirigentenwahl zumindest in dieser Konstellation gescheitert. Die Berliner Philharmoniker dürften jetzt gut beraten sein, sehr viel miteinander zu reden und eventuell auf eine Wiederholung der Veranstaltung in dieser Form zu verzichten - insbesonder, da der Außendruck in einem Jahr noch viel stärker sein wird. Wünschenswert wäre eine Ergebnisfindung im Stillen, so dass irgendwann in zehn, zwölf oder vierzehn Monaten der Orchestervorstand vor die Presse treten kann, um "einfach" den neuen Chefdirigenten zu verkünden.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Bei zwei anderen der landläufig zehn bedeutendsten Orchester der Welt, dem London Symphony Orchestra und dem Concertgebouworkest Amsterdam, erfolgte die Chefdirigentenwahl still und heimlich und offenbar deutlich problemloser. Ich bezweifle, dass man die beiden im Blindtest von den Berliner Philharmonikern problemlos unterscheiden könnte. Das gilt im Übrigen für viele andere Orchester ebenso. Dieses Dunkle, sog. "Deutsche" findet man genauso bei den Helsinkier Philharmonikern, die von manchen in diesem Forum wohl als hinterletztes Provinzorchester bezeichnet würden (hört euch mal den zweiten Sibelius-Zyklus von Segerstam an, da dachte ich öfter, dass die genauso gut klingen wie die Berliner).


    Es wurde ja hier schon geschrieben: Wieso sollte sich Christian Thielemann dieses Orchester eigentlich überhaupt antun? In Dresden ist er ein Superstar, in Berlin wäre er als Chefdirigent stark umstritten und hätte einen in sich gespaltenen Klangkörper unter sich. Auch wenn hier gebetsmühlenartig eine vermeintliche Sonderstellung der Berliner Philharmoniker postuliert wird, kann man Gleichwertiges in Dresden (Staatskapelle), Leipzig (Gewandhausorchester), München (BR SO), Köln (WDR SO) und Hamburg (NDR SO) hören. Nichts jedenfalls, was so ein Affentheater, wie gestern in Berlin geschehen, rechtfertigen würde. Ob der 11. Mai 2015 der angeblichen Sonderstellung der Berliner Philharmoniker geschadet hat, wird die Zukunft erweisen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Dieses Dunkle, sog. "Deutsche" findet man genauso bei den Helsinkier Philharmonikern, die von manchen in diesem Forum wohl als hinterletztes Provinzorchester bezeichnet würden


    Das ist generell das Problem, das von manchen Forianern nicht als solches erkannt wird. Es ist genügend, wenn ein Orchester ausgezeichnet spielt - es braucht auch ein IMAGE oder eine LEITFIGUR, Und natürlich war das Orchester unter Furtwängler ein anderes als unter Karajan. Aber Karajan war nun mal der logische Nachfolger - vielleicht allein schon dadurch, daß er zu Lebzeiten so von Furtwängler bekämpft wurde, welcher sogar seiner Schallplattenfirma EMI ein Ultimatum stellte ......
    Als Futwängler schliesslich tot war soll es ein Telegramm an Karajan mit den Wirten "Der König ist tot - es lebe der König" gegeben haben. Ich weiß nicht was hier Realität und was hier Legende ist - Tatsache ist, das diese Geschichte Verbreitung fand und Karajans Unangreifbarkeit sicherstellte. Nach Karajans Tod 1989 wäre vermutlich Celibidache der Einzige gewesen der das Orchester weltweit medienwirksam hätte weiterführen können.
    Und heute ? Ich glaube, das Orchester weiss sehr gut, daß die Entscheidung über den neuen Chefdirgenten eine POLITISCHE - keine ausschliesslich künstlerische ist. Etwa die Frage betreffend "weltoffen" oder "elitär". Hier geht es um Imagefragen um Repertoirefragen und welches Publikum man in Zukunft an sich binden will. Ein "polarisierender" Dirigent - wer immer es auch sei - verschafft mehr mediale Aufmerksamkeit und ist eher in der Lage die Einzigartigkeit des Orchesters zu betonen. Wichtig aus meiner Sicht ist vor allem die Positioniernung am Tonträgermarkt. Das Publikum muß überzeugt davon sein, für ein Weltspitzenklasseorchester mit scharfem Profil - mehr Geld zu investieren als für eines aus einer Stadt mit einem Dirigenten, deren Namen man weder aussprechen kann - noch will.
    Ich weiß - ich werde hier - wie soeben - sehr dezent angegriffen - aber was ich hier behaupte ist keine persönliche Meinung - sondern Realität. Stellt man einen nicht total versierten Klassikkunden vor die Wahl eine Aufnahme eines Werkes zu erstehen, so wird er in den meisten Fällen sagen: "Da nehme ich liebe die mit Karajan - da weiß man was man hat"
    Und solche einen Dirigenten wünscht sich die Plattenindustrie: "Karajan steige herab"


    Übrigns sind die Berliner nicht das einzige Orchester weltweit, das sich seinen Chef aussuchen kann, die Wiener geniessen das gleiche Privileg - indes sie wollen keinen "Chefdirigenten".


    Vielleicht folgen die Berliner in Zukunft diesem Vorbild - auch wenn ich mir das nur schwer vorstellen kann.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Natürlich ist die Ansicht, dass man mit Karajan gar nicht daneben greifen könne, sehr weit verbreitet. In der Tat ist wohl kaum eine seiner Aufnahmen weniger als zumindest "überdurchschnittlich", was teilweise heftige Kritik nicht per se ausschließt. Reden wir etwa vom bereits erwähnten Schubert, so wird man den doch selbst im Falle einer Ablehnung als "auf hohem Niveau misslungen" bezeichnen müssen (das ist übrigens meine Meinung nicht, der ist sogar besser als sein Ruf).


    Jetzt sind wir wieder bei Karajan und Furtwängler angelangt. Deren Mythos ist schlichtweg unübertrefflich, das wird nicht einmal ein Thielemann schaffen, selbst wenn er doch noch neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker würde.


    Zurück zum Orchester: Ein Sir Simon Rattle, der nun dreizehn Jahre den Berlinern vorsteht, ist für viele wohl durchaus eine Leitfigur, auch wenn nicht in der Ausprägung wie Wilhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan (die ja auch wie Tag und Nacht waren). Die erwähnten Helsinkier hatten zwölf Jahre lang Leif Segerstam als Chefdirigenten, auch nicht eben kurz. In Nordeuropa wird man dieses Orchester folglich durchaus konkret mit seinem Namen verbinden. Oder nehmen wir das Hallé Orchestra in England, das früher mit dem Namen Sir John Barbirolli untrennbar verbunden war. Heute haben sie, seit fünfzehn Jahren, Sir Mark Elder, der auf mindestens zwanzig kommen will.


    Dass die Berliner Philharmoniker kein Image mehr hätten, glaube ich eigentlich nicht. Unter Rattle wurde die Digital Concert Hall eingeführt, damit die allermeisten Konzerte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und das in allerbester Ton- und Videoqualität. In der höchstmöglichen Einstellung wird man keinen Unterschied zu einer DVD oder Blu-ray mehr feststellen. Insofern haben die Berliner Philharmoniker zumindest hier etwas Wichtiges angestoßen. Das wird von der Ära Rattle ganz sicher in Erinnerung bleiben.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Das ist generell das Problem, das von manchen Forianern nicht als solches erkannt wird. Es ist ...genügend, wenn ein Orchester ausgezeichnet spielt - es braucht auch ein IMAGE oder eine LEITFIGUR

    Ist hier das Wort "nicht" vor "genügend" vergessen worden?


    Wenn es so sehr um die Aufnahmen gehen soll, dann ist für mich als Hörer und Käufer doch erst einmal wichtig, wie denn so ein Werk entweder unter Nelsons oder Thielemann oder sonst wem klingt. Wenn nun jemand ein gewünschtes Image ( wie ist denn das Image z.B. von Nelsons, außer dass er ein toller Musiker sein soll?) mitbringt, aber es bei dem anderen besser klingt, der wieder ein anderes Image verkörpert, ist es dann richtig, den zu nehmen, der auf den Covern wie damals Karajan mit von hinten beleuchteten Haaren irgendwie verkäuflicher wirkt? Das wäre doch schlimm. Was dabei unter die Räder käme, ist der doch eigentlich zum Programm gewordene Anspruch der höchstmöglichen künstlerischen Qualität, den das Orchester an sich selbst stellt.



    Wichtig aus meiner Sicht ist vor allem die Positioniernung am Tonträgermarkt.

    Machen sie denn noch so viele Aufnahmen? Oder ist es nicht eher so, dass sie sich vornehmlich auf das Internet mit der Digital Concert Hall verlegt haben - für mich leider.
    Da gibt es einige ausgewählte Sachen wie die Schumann-Symphonien mit Rattle oder auch eine Schubert-Reihe mit Harnoncourt, die es auch auf offline-Tonträgern zu haben gibt. Ich frage mich, ob die Bedeutung von Aufnahmen gegenüber der Karajan-Zeit mit den vielen gelben LPs im Schaufenster der Klassikläden (die es heute kaum noch gibt) generell sehr abgenommen hat.



    Ich glaube, das Orchester weiss sehr gut, daß die Entscheidung über den neuen Chefdirgenten eine POLITISCHE - keine ausschliesslich künstlerische ist.

    So lange die künstlerische Seite die absolut überwiegende ist, geht es ja noch, denn meinem Eindruck nach wollen sie doch dort weiterhin vor allem eines: Kunst betreiben.
    Die Politisierung von künstlerischen Inhalten ist für mich oft eine Instrumentalisierung. Ob es nun von rechts oder links kommt, ist mir bei meiner Ablehnung solcher Dinge völlig egal. Mir geht es um Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms uvm....wenn es um die Berliner Philharmoniker geht.
    Auch bei einem Dirigenten sollte es egal sein, wie er denn politisch steht. Mir gefällt die Pastorale mit Thielemann, völlig egal, ob er nun CDU, SPD oder gar Die Linke wählt.
    Sollte ich damit alleine darstehen, dann wäre das im Sinne der Musik und der Kunst eine traurige Erkenntnis.



    Ich weiß - ich werde hier - wie soeben - sehr dezent angegriffen - aber was ich hier behaupte ist keine persönliche Meinung - sondern Realität.

    Von mir wirst Du da jedenfalls nicht angegriffen, sondern ich stellte nur Deiner Sicht der Realität hinsichtlich des angeblichen klanglichen Verfalls der Berliner Philharmoniker seit Karajans Abgang gegenüber, wie ich diese Dinge höre. Die Sache mit Verkaufsimage und Leitfigur etc. ist dann wieder eine andere Baustelle.



    Stellt man einen nicht total versierten Klassikkunden vor die Wahl eine Aufnahme eines Werkes zu erstehen, so wird er in den meisten Fällen sagen: "Da nehme ich liebe die mit Karajan - da weiß man was man hat"

    Es könnte für den nicht versierten Klassikkunden zutreffen, aber nach meinem Eindruck war das eher früher so. Heute hat sich da eine Menge geändert.
    Zufälligerweise habe ich gerade dazu etwas im Thread über die heutigen Dirigenten, derentwegen man sich eine Aufnahme kaufen würde, geschrieben, ganz knapp bevor ich diesen Beitrag hier las:



    Ich denke, dass für einigemaßen kundige Hörer die Zeiten entgültig vorbei sind, bei denen man in einem Klassikladen die Scheiben durchblättert und dann einfach so "wegen des Namens" sich etwas von einem bestimmten Dirigenten mit dem Hinweis "der ist ja so der Beste, nicht wahr?" zulegt. Früher war das für so manchen Karajan-Kunden durchaus üblich.

    Durch den Siegeszug des Internets hat sich daran durchaus etwas geändert, meine ich. Man kann es überall hören ( man denke nur an Spotify und dergleichen) oder bei amazon oder jpc in das Meiste hineinhören. Da sich der Vertriebsweg weg vom Plattenladen und hin zur Online-Bestellung geändert hat, bietet sich das ja an. Auf so etwas wie "Beratung im Plattenladen" muss man heute ja wohl durchgehend verzichten. Die Aussagen, die ich da früher von den Verkäufern bei JPC oder anderen Läden in Bielefeld hörte, wären da für mich eh komplett wertlos. Wenn dann bei Media-Markt oder bei Saturn heute noch ein paar Klassik-CDs herumstehen, dann sollte man das dort herumlaufende Personal besser nicht auf die Kennzeichen des Rattelschen Brahms im Vergleich zu Gardiner oder Karajan ansprechen....


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Wenn es so sehr um die Aufnahmen gehen soll, dann ist für mich als Hörer und Käufer doch erst einmal wichtig, wie denn so ein Werk entweder unter Nelsons oder Thielemann oder sonst wem klingt. ( wie ist denn das Image z.B. von Nelsons, außer dass er ein toller Musiker sein soll?)

    Im Unterschied zu anderen "tollen Musikern" gibt es von Nelsons auch beachtliche Einspielungen, wie z.B. die 5. Tschaikowsky, 9. Dvořak, 8. Schostakowitsch, die ich dir allesamt empfehlen würde. Außerdem hat er Charisma!



    Wichtig aus meiner Sicht ist vor allem die Positioniernung am Tonträgermarkt.

    Eben das ist bei den Berliner Philharmonikern ziemlich unwichtig geworden. Abgesehen von der hier erwähnten Digital Concert Hall, die bereits rund 400000 Nutzer hat (mich nicht), haben sie sich inzwischen ein eigenes Label geschaffen und sind somit von den großen Plattenfirmen unabhängig geworden. Das ist natürlich für diese eine große Marktschwächung. Ein neuer Chefdirigent müsste das mitmachen.



    Zitat

    Die Politisierung von künstlerischen Inhalten ist für mich oft eine Instrumentalisierung.

    Es geht hier sicher nicht um Parteipolitik. Abbado stand politisch links, was dem allgemeinen Mainstream auch entsprochen hat. Wofür Rattle steht, weiß ich nicht und ich will das auch nicht wissen, weil es mir wirklich nur um die Musik geht. Aber ganz bestimmt wollen die Berliner Philharmoniker weltoffen und aufgeschlossen für neue Entwicklungen sein, so gibt es jetzt schon ein umfangreiches "Education-Programm" mit diversen Projekten, Kinder- und Familienkonzerte, Schulorchestertreffen, Ferienprojekte u.a. Das soll sicher weitergeführt werden. Und das ist auch ein bisschen Politik.


    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Das gestrige Wahldesaster wäre zu vermeiden gewesen, wenn man rechtzeitig das Wahlprocedere reformiert hätte. Nun hat sich gezeigt, daß es so nicht funktioniert.
    Eine Stellenausschreibung des Chefdirigentenpostens würde Klarheit darüber schaffen, wer an dem Posten interessiert ist.
    Aus der Zahl der Bewerber ließe sich in 3 Wahlgängen ein geeigneter Kandidat finden, beim 3. Wahlgang müßte die einfache Mehrheit der Stimmen entscheiden.
    Statt dessen wurde gestern fast 12 Stunden diskutiert und kein einziger Dirigent erhielt die absolute Mehrheit der Stimmen.
    Oder aber es war so, daß Dirigenten gewählt wurden, die die Wahl nicht annehmen wollten?
    Die ganze Welt lacht über diese Provinzposse.
    Schnell beeilen sich die Medien, aus der Niederlage einen Erfolg zu machen.
    Es braucht noch 1 Jahr Zeit, damit sich die Musiker beraten können.
    Ja was haben sie den bisher getan, es war Zeit genug, sich zu beraten?
    Man hätte den Wahltermin verschieben können, wenn die Zeit zu knapp bemessen war.
    Der gestrige Wahltag hat gezeigt, daß keiner der weltbesten Dirigenten gut genug für die Berliner Philharmoniker ist.
    Gut für die Dirigenten, die sich schon anderswo für die nächsten Jahre verpflichtet hatten.
    Wer will bei den Berliner Philharmoniker eigentlich Chef werden?
    Warum zieren sich alle statt sich zu bekennen?
    Sind die Berliner Philharmoniker wirklich unabhängig in ihrer Wahlentscheidung?
    Die "Deutsche Bank" ist der Hauptsponsor der Berliner Philharmoniker.
    Was ist, wenn ein gewählter Chefdirigent dem Hauptsponsor nicht gefällt?
    Gibt es dort keine Lobby der Sponsoren, die versucht, Einfluß auf die Wahl zu nehmen?
    Welcher künftige Chefdirigent will sich damit abfinden, daß seine Aufnahmen nur auf dem hauseigenen CD-Label erscheinen?
    Ein Label, das 1 bis 2 Klassikalben im Jahr heraus gibt, in Leinen gebunden für 50 bis 80 Euro? Noch dazu in einem Format, das kaum in ein normales CD-Regal passt?
    Die Vermarktung in der Digital Concert Hall (Deutsche Bank und Sony) ist auf zahlende Zuschauer beschränkt. (Jahresabo ca.150 Euro). Da würde der sozial engagierte Dudamel mit dem Kopf schütteln.
    Von Andris Nelsons ist bekannt, daß er sich (noch) nicht für längere Zeit an ein Orchester binden will. (Hat er in einem Filmbericht über seine bisherige Karriere behauptet).
    Christian Thielemann hat in Interviews zumindest den Eindruck hinterlassen, dass er für den Chefdirigentenposten zur Verfügung gestanden hätte. Nun hat er aber eine Abfuhr bekommen.
    Vielleicht ändert sich alles schon im September 2015.
    In diesem Jahr wollen die Berliner Philharmoniker keinen neuen Chefdirigenten mehr wählen. Doch am Tag nach ihrer ergebnislosen Marathonsitzung kündigten sie immerhin einen Zwischenschritt an: Im September soll neu über die Suche nach einem Nachfolger von Simon Rattle beraten werden.

    mfG
    Michael

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  • Ich finde, man sollte das jetzt alles nicht so hoch hängen. Ja, sie haben keinen Kandidaten gefunden, für den es eine Mehrheit gab und vermutlich ein prominenter Kandidat ist dadurch "verbrannt". Aber der Untergang des Abendlandes ist es nicht.
    Vielleicht sollte man sich anschauen, wie es die Universitäten machen, wenn Sie einen neuen Rektor suchen, da gibt es eine Findungskommission, die potentielle interessierte Kandidaten interviewt, dann den aus ihrer Sicht geeignetsten vorschlägt und der Senat stimmt zu oder lehnt ab. In der Regel stimmt er zu, denn die Findungskommission führt vorab viele Gespräche, um große Antipathien und Bedenken im Vorfeld auszuräumen. Und wenn das bei bestimmten Kandidaten nicht gelingt, dann werden sie gar nicht erst vorgeschlagen.

  • Zitat

    Die ganze Welt lacht über diese Provinzposse.

    Da gibts eigentlich nichts zu lachen.
    Einerseits gibt es kaum einen Kandidaten (von einer Ausnahme abgesehen) der wirklich als "Leitfigur" taugen wurde -
    andrerseits sitzen die guten Dirigentenauf gut dotierten Posten uns sehen kaum eine Veranlassung von dort wegzugehen.
    Durch gewisse Trends der Zeit hat eine Nivellierung des Niveaus stattgefunden, einstige Mittelklasseorchester sind aufgestiegen - Die Spitzenorchester sind für die Tonträgergesellschaften bedeutungsloser und vor allem zu teuer geworden.



    Zitat

    Schnell beeilen sich die Medien, aus der Niederlage einen Erfolg zu machen.

    Ich sehe hier weder Niederlage noch Erfolg - lediglich eine schwierige Patt -Situation..



    Zitat

    Der gestrige Wahltag hat gezeigt, daß keiner der weltbesten Dirigenten gut genug für die Berliner Philharmoniker ist.

    Das könnte schon sein - vor allem nicht PROFILSCHARF und DEUTSCH genug.



    Zitat

    Wer will bei den Berliner Philharmoniker eigentlich Chef werden?

    Sicher nicht so viele, wie man uns glauben machen möchte. Über jedem künftigen Chefdirigenten schweben die beiden Damoklesschwerter Karajan und Furtwängler. Ich befinde mich in einem eigenartigen Zwiespalt:
    Einerseits möchte ich den Berliner Philharmunikern raten, Thielemann zu holen
    Andrerseits möchte ich Thielemann raten, ein solches Angebot auf keinen Fall anzunehmen.
    Wenn er geschickt ist dann wird SEIN Orchester bald begehrter sein als die Berliner



    Zitat

    Sind die Berliner Philharmoniker wirklich unabhängig in ihrer Wahlentscheidung?
    Die "Deutsche Bank" ist der Hauptsponsor der Berliner Philharmoniker.
    Was ist, wenn ein gewählter Chefdirigent dem Hauptsponsor nicht gefällt?
    Gibt es dort keine Lobby der Sponsoren, die versucht, Einfluß auf die Wahl zu nehmen?

    Kaum - die meisten Sponsoren haben eigentlich weder Interesse daran noch Ahnung davon -
    Die Hauptsache ist der Werbeeffekt.



    Zitat

    Welcher künftige Chefdirigent will sich damit abfinden, daß seine Aufnahmen nur auf dem hauseigenen CD-Label erscheinen?
    Ein Label, das 1 bis 2 Klassikalben im Jahr heraus gibt, in Leinen gebunden für 50 bis 80 Euro? Noch dazu in einem Format, das kaum in ein normales CD-Regal passt?

    Eine richtige Entscheidung - die angestrebte Klientel wird das bezahlen - der Rest bleibt draussen.



    Zitat

    Die Vermarktung in der Digital Concert Hall (Deutsche Bank und Sony) ist auf zahlende Zuschauer beschränkt. (Jahresabo ca.150 Euro). Da würde der sozial engagierte Dudamel mit dem Kopf schütteln.

    Ja - da sollte er für die Caritas dirigieren und nicht ein Elite-Orchester. Mir war es ohnedies suspekt, daß sein Name immer wieder genannt wurde. Hier könnte ich mir vorstellen daß ein großes Bankhaus als Sponsor Unbehagen verspürte.



    Zitat

    Christian Thielemann hat in Interviews zumindest den Eindruck hinterlassen, dass er für den Chefdirigentenposten zur Verfügung gestanden hätte. Nun hat er aber eine Abfuhr bekommen.

    Das ist eine gewagte Behauptung - nein sogar zwei ....


    Im meiner Eigenschaft als Betreiber des Tamino Klassikforums danke ich den Berliner Philharmonikern für ihr verantwortungsvolles Zaudern. Denn dieser interessante Threads mit bisher 340 Beiträgen und 17 033 Seitenaufrufen - er wäre eigentlich in den nächsten Tagen beendet gewesen - wird noch monatelang weiterlaufen - und er hat - wie es scheint - noch ein beachtliches Potential.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Statt dessen wurde gestern fast 12 Stunden diskutiert und kein einziger Dirigent erhielt die absolute Mehrheit der Stimmen.

    Wer sagt denn das, dass niemand 55% oder 60% der Stimmen erhalten hat? Gefordert war nicht nur eine absolute Mehrheit, sondern eine "deutliche Mehrheit" - 40% oder 45% Nein wäre da wohl schon zuviel.



    Die ganze Welt lacht über diese Provinzposse.

    Hauptstadtposse bitteschön!



    Was ist, wenn ein gewählter Chefdirigent dem Hauptsponsor nicht gefällt?

    Ich glaube nicht, dass die Deutsche Bank da künstlerisch kompetent ist oder sich auch nur kompetent fühlt, um da mitreden zu wollen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ach bin ich froh, dass es auch noch andere Dirigenten gibt, die nicht diesen Rummel brauchen um ganz vorzügliche Musik mit ihrem ganz vorzüglichen Orchester zu machen, z. B. Nott mit den Bambergern/Bayerische Staatsphilharmonie.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ach bin ich froh, dass es auch noch andere Dirigenten gibt, die nicht diesen Rummel brauchen um ganz vorzügliche Musik mit ihrem ganz vorzüglichen Orchester zu machen, z. B. Nott mit den Bambergern/Bayerische Staatsphilharmonie.


    zweiterbass


    Da muss ich Dir jetzt aber wirklich zustimmen!


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Deutscher, wärmer und großartiger als jetzt haben sie im dafür geeigneten Repertorie nie geklungen, wovon auch Tonträger zeugen. Das gilt für die Romantiker wie Brahms, Bruckner, Wagner, aber auch für Mozart und Haydn unter Rattle, der einfach vorzüglichst gespielt wird. Nie haben die Berliner Philharmoniker den Mozart seit Böhm schöner und überzeugender gespielt.

    Ja, welcher große Komponistenname fehlt denn in dieser Auflistung? Vor allem doch der Herr "van", aus Bonn gebürtig. Ihn haben die Berliner seit Karajan wahrscheinlich nie wieder annähernd so konsequent "titanenhaft-teutonisch" gespielt, wie es nicht nur dem allgemeinen Klischee entspricht, sondern keineswegs selten auch dem einzelnen Werk (Bsp.: "Eroica") wunderbar gut tut.
    ABER, weil ich einem bekennenden Thielemann-Befürworter, der obendrein sich mit dem Logo des primus inter pares schmückt, nur ungern widersprechen möchte, sei die Frage in den Raum gestellt, ob nicht dieser ziemlich deutlich veränderte Beethoven-Ansatz innerhalb des nominell identischen Klangkörpers außer an dem einsamen Mann am Pult, der ja funktionsbedingt instrumentale Enthaltsamkeit üben muss, mindestens ebensosehr daran liegen dürfte, dass das "Personal" zu nicht unerheblichem Teil seit der Ära des legendären Herbert K. ausgetauscht und durch ein jüngeres, mit z.T. stark moderneren und von der Pop-Kultur imprägnierten Interpretationsstil-Vorstellungen aufgefrischt wurde.
    Zumindest insoweit ist gegen das von Alfred, dessen punktgenaue Formulierungen zu diesem Thema für mich absolut herausragend sind [Schmeichelei beabsichtigt :thumbsup: ],
    ins Feld geführte "Presse"-Zitat kaum irgendetwas einzuwenden. Denn Rattles Beethoven klingt leider, in krassem Gegensatz zu demjenigen von sowohl Furtwängler wie Karajan, verwechselbar, weil ihm die analytisch-vergeistigte Profilschärfe für Beethovens Werk um ein hörbares Maß zuviel fehlt, die Profilschärfe, die er sonst hier und da, bei Sibelius vielleicht am deutlichsten, sein eigen nennen kann.



    ich weiß auch nicht, was es bringen soll, wenn man den Ruf der Einzigartigkeit der Wiener Philharmoniker immer wieder als "nicht auszurotten" postuliert, dann aber im nächsten Satz versucht, eben jenen Ruf der Einzigartigkeit der Berliner Philharmoniker als schon längst ausgerottet hinzustellen.

    Hierzu fällt mir spontan, ohne Nachdenken, eine TV-Interview-Äußerung vom unvergessenen Georg Solti ein (dessen Vornamen übrigens unsere "weltoffenen" Radio-Moderatoren seit Neuestem gerne in englischer Fassung aussprechen X( ): "Der Streicherklang der Wiener Philharmoniker ist etwas Einmaliges."
    Und ich bilde mir ein, diese Besonderheit der Wiener Geigen in hochwertigen CD-Produktionen heraushören zu können, was dadurch ja noch wesentlich vereinfacht wird, weil man nach einer Weile aufmerksamen Hörens weiß, dass nur wenige Orchester auf der Welt für solche Perfektion in Betracht kommen..



    Zitat

    Eine „Demokratisierung“ fand für viele Hörer auch in klanglicher Hinsicht statt: Die Berliner, früher ganz eindeutig zunächst das „Furtwängler-Orchester“, dann das von Herbert von Karajan, wurden zu einem durchaus verwechselbaren Klangkörper. Mit den „diktatorischen“ Strukturen ging auch die Unverwechselbarkeit verloren.

    In diesem schon erwähnten und mich insgesamt vollauf überzeugenden Zitat der Wiener "Presse" möchte ich den Blick der geneigten Leserschaft auf ein Wort lenken, das gerade jetzt, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des sog. Kalten Krieges und des Kommunismus in Osteuropa, so oft sinn- und zweckwidrig benützt, sprich: verfremdet wird, dass kaum noch jemand zu wissen scheint, was eigentlich dieses Wort bedeutet: Demokratisierung.
    "Demos" heißt auf Altgriechisch, was normalerweise als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden sollte, "Volk" oder, um politisch nicht anzuecken, im moderneren, weltoffenen Verständnis "Bevölkerung".
    Doch immer dann, wenn diejenigen, deren Berufs- oder Interessensgruppe weit öfter als 1x täglich "Demokratie" / "Demokratisierung" / "Bürgergesellschaft" im Munde führt, von einem damit angesprochenen Subjekt, einem Bestandteil dieser Bevölkerung / einem Bürger darum ersucht werden, in klaren, zielführenden Worten zu konkretisieren, mit welchem Inhalt sie diesen Wohlfühlbegriff mit Leben zu erfüllen gedenken, ist Schweigen oder bestenfalls eine ausweichende, leicht verschämte Reaktion festzustellen von seiten eines Politikers / Journalisten / Wirtschaftsbosses oder, wie ggf. hier, Kulturbetriebsmanagers.
    Was ich damit sagen will, läuft hinaus auf folgenden
    QL ö s u n g s v o r s c h l a gQ:
    Wäre es nicht das Normalste und auch wirtschaftlich Sinnvollste von der Welt, dass die Berliner Philharmoniker (prinzipiell natürlich jedes andere Spitzenorchester auch) ihr Publikum, ihre "Zielgruppe", also all diejenigen, deren Kommen in die Philharmonie-Konzerte und deren CD-Käufe garantieren, dass ihr favorisiertes Orchester nicht vor halbleeren Rängen auftreten oder irgendwann sogar die "Schotten dicht machen" muss, entweder vor Ort, also in diesem Fall in Berlin, aber selbstverständlich primär via eigener Internetseite dazu einladen, ihre Meinung kundzutun, wen sie, die neben dem Hauptsponsor lebenswichtigen "Privatfinanciers" der Philharmoniker, denn von ihrer Warte, ihrem "Empfängerhorizont" aus, als den geeignetsten Nachfolger sehen ??


    Um keinem Mitglied der Berliner Philharmoniker, der von diesem Vorschlag erfährt oder ihn vielleicht hier selbst liest, die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben, füge ich die notwendige Ergänzung in vorauseilendem Gehorsam gleich hinzu: Das Letztentscheidungsrecht muss den Musikern vorbehalten bleiben, eine Bindungswirkung - vgl. Schweizer Volksabstimmungen - wäre selbst in indirekter oder abgeschwächter Form absurd.
    Aber in einem Punkt würde ich eine Wette eingehen wollen: Eine solche Internet-Umfrage würde mehr als nur eine einzige Überraschung zu Tage fördern, und zwar sowohl hinsichtlich der Auswahl der Kandidatennamen als auch hinsichtlich der prozentualen Verteilung auf die medial favorisierten Namen (Thielemann, Nelsons).
    Mit anderen Worten: Die veröffentlichte Meinung dürfte auch in der Frage des neuen Berliner Chefdirigenten relativ stark von der tatsächlichen Meinung der Zielgruppe divergieren, so man sich überhaupt erst einmal der Mühe unterzieht, dieselbe zu ermitteln.
    Wohlan, Ihr Lieben, mit diesem Vorschlag hoffe ich jetzt, *berühmt* zu werden ... :jubel: :jubel: :jubel:

  • Die "Positionierung auf dem Tonträgermarkt" ist heute weitgehend irrelevant. Dieser Markt ist seit 20 Jahren auf dem absteigenden Ast, was nicht an Personen, sondern an Strukturen und technischem Fortschritt liegt.
    Das haben die Berliner schon länger erkannt und anscheinend erfolgreich mit der wegweisenden "Digital Concert Hall" darauf reagiert. Da liegt erst einmal die Zukunft.
    Dass das in den 1960ern bis 80ern, vielleicht sogar noch 90ern anders war, hat nicht viel mit Karajan vs. Abbado oder Rattle zu tun, sondern schlicht und einfach damit, dass das die 30 Jahre waren, in denen Spitzenkräfte mit Platten sehr viel Geld verdienen konnten. Diese Zeiten sind vorbei, aber es gab das Orchester auch viele Jahrzehnte als Spitzenorchester, BEVOR Platten relevante Einkünfte brachten.


    Zumindest einige Solisten des Orchesters sind heutzutage berühmter als Dirigenten. Pahud war schon ein Starflötist, da war Thielemann noch hoffnungsvoller Nachwuchs und auch Albrecht Mayer ist zB mir geläufiger gewesen als Nelsons, Nezet-Seguin und andere Nachwuchsdirigenten. (Mich würde nicht wundern, wenn Mayer mehr Platten verkauft als so mancher Dirigent, was natürlich auch an sehr geschickter Vermarktung dieser "Konzept-Alben" liegen kann.)
    Ich vermute einfach mal, dass das auch einen anderen "Führungsstil" verlangt. Solche Musiker erwarten, dass ihr kreatives Potential auch entsprechend genutzt wird.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Da muss ich Dir jetzt aber wirklich zustimmen!


    Da "muss"( :hahahaha: ) ich mich jetzt aber wirklich freuen!


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Ich bin am 16.05. bei der "Orgel-Arena" dabei.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ja, welcher große Komponistenname fehlt denn in dieser Auflistung? Vor allem doch der Herr "van", aus Bonn gebürtig. Ihn haben die Berliner seit Karajan wahrscheinlich nie wieder annähernd so konsequent "titanenhaft-teutonisch" gespielt, wie es nicht nur dem allgemeinen Klischee entspricht, sondern keineswegs selten auch dem einzelnen Werk (Bsp.: "Eroica") wunderbar gut tut.

    Diese Beschreibung mit "titanenhaft-teutonisch" passt wohl eher auf den Beethovenstil der Herren Furtwängler und Thielemann, beim letzteren jedenfalls bei den Symphonien 3, 5 und 9 deutlich erkennbar. Bei Karajan muss man wohl von einer nach vorne strebenden Dramatik sprechen, in die sein Klangstrom-Personalstil verwoben ist. Klanglich betonte er nicht so sehr das dunkle "deutsche" Klangbild, sondern seinen eigenen Hochglanz-Karajan-Sound, der sich durch hohe Brillianz und große Strahlkraft auszeichnete. Man denke nur an den letzten Satz der 5. in der letzten Digitalaufnahme. Man braucht schon High-End-Equipment, um diese durch Mark und Bein hindurchgehende Strahlkraft in voller Pracht genießen zu können. Karajans Beethoven kommt mit weniger Nachgeben im Agogischen als Furtwängler und Thielemann aus. Seine Ergebnisse wirken da im Vergleich etwas härter durchgeschlagen und sportiv-drängender. Für die frühen Symphonien geht sein Konzept m.E. weniger gut auf. Sie ertrinken im zuwenig differenzierten und artikulierten Legatostrom, ein Fehler, den Thielemann nicht begeht. Die Symphonien 3, 5, 7, und 9 indes sind bis heute aus meiner Sicht unerreicht. Karajan hat aber wie gesagt seine ihm eigene Version des Schönklangs zelebriert. Bei Thielemann und Furtwängler klang das Orchester m.E. "deutscher".


    Rattles Beethoven kenne ich nur von der alten Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern. Wie er ihn heute in Berlin spielt, weiß ich leider nicht.
    Für mich ist die starke Betonung des Online-Vertriebs ohnehin keine gute Sache, weil ich an den offline-Tonträgern unbedingt festhalten will. Ich glaube auch nicht, dass ich online die hohe Qualität einer Blue-ray mit HD-Bild- und Ton bekäme, und wenn doch, dann gäbe es weder meine Internetverbindung noch mein darauf nicht vorbereitetes Equipment her.



    ABER, weil ich einem bekennenden Thielemann-Befürworter, der obendrein sich mit dem Logo des primus inter pares schmückt, nur ungern widersprechen möchte, sei die Frage in den Raum gestellt, ob nicht dieser ziemlich deutlich veränderte Beethoven-Ansatz innerhalb des nominell identischen Klangkörpers außer an dem einsamen Mann am Pult, der ja funktionsbedingt instrumentale Enthaltsamkeit üben muss, mindestens ebensosehr daran liegen dürfte, dass das "Personal" zu nicht unerheblichem Teil seit der Ära des legendären Herbert K. ausgetauscht und durch ein jüngeres, mit z.T. stark moderneren und von der Pop-Kultur imprägnierten Interpretationsstil-Vorstellungen aufgefrischt wurde.

    Ich gebe zu, ziemlich lange gebraucht zu haben, bis ich den Satz überhaupt verstehen konnte (kleine Bemerkung nebenbei...)
    Der These mit dem jüngeren Personal, dass den Beethoven mit Vorstellungen spielt, die "stark modern" und "von der Pop-Kultur imprägniert"wären, kann ich nur widersprechen und sie -noch vorsichtig- als enorm abwegig bezeichnen. Die Orchestermusiker spielen erst einmal so, wie es der Dirigent gerne hätte und behalten dabei -wenn möglich- ihren Hausklang bei. Für diese absurden Unterstellungen gibt es jedoch nicht den geringsten stichhalten Beweis. In welchen Stücken kann man das in welchem Takt bitteschön feststellen, und woran genau? Welche Übereinstimmungen in Sachen Artikulation und Dynamik kann man zwischen welchem Popsong und welchem Takt einer Beethoven-Symphonie unter Rattle in der Weise feststellen, dass der stilistische Ursprung in der Popmusik und nicht in der Wiener Klassik zu erkennen wäre?
    Wie kann es sein, dass sie einen klangschönen und überzeugenden Mozart und Haydn und vor allem einen Brahms und Wagner in herrlichem Wohlklang spielen, wenn sie doch angeblich jung und von der Popmusik "imprägniert" sein sollen? Darunter stelle ich mir eher so ein Jugend-Schulorchester vor, bei denen die Mädels und Jungs kaugummikauend in längeren Pausen mit ihrem Handy beschäftigt sind während andere gerade spielen (so etwas habe ich schon gesehen) und in ihrer Freizeit sich mit billigen Ohrstöpseln die ebenso billige Chartmusik antun. Wer die Aufnahmen, die Persönlichkeiten, die Anforderungsschwierigkeiten dort Mitglied zu werden und die Konzerte der Berliner Philharmoniker kennt, der weiß, dass solche bösartigen Spitzen mit "von Popmusik imprägniert" absolut jedweder Grundlage entbehren. Wir reden hier von einem, wenn nicht sogar DEM Spitzenorchester dieses Planeten.



    Zumindest insoweit ist gegen das von Alfred, dessen punktgenaue Formulierungen zu diesem Thema für mich absolut herausragend sind [Schmeichelei beabsichtigt :thumbsup: ], ins Feld geführte "Presse"-Zitat kaum irgendetwas einzuwenden.

    Ob man mit solchen selbst zugegebenen Schmeicheleien und der abwegigen, hier nicht schon gar nicht zutreffenden Erwähnung der HIP->Pop-These Alfreds bei diesem zu mehr oder weniger Ansehen gelangt, sei unserem geschätzten Foreninhaber gerne überlassen.....Mit Einschätzungen dazu halte ich mich besser zurück.



    ....weil ihm (Rattle) die analytisch-vergeistigte Profilschärfe für Beethovens Werk um ein hörbares Maß zuviel fehlt, die Profilschärfe, die er sonst hier und da, bei Sibelius vielleicht am deutlichsten, sein eigen nennen kann.

    Zunächst einmal fallen Haydn, Mozart, Brahms, Bruckner und Sibelius aus meiner Sicht nicht unter "hier und da".
    Aus welcher fachlichen Position heraus man derartig gewagte Aussagen wie oben machen könnte, ohne dabei in den Bereich des Unseriösen abzugleiten, wüsste ich auch einmal gerne. Dem genannten Furtwängler möchte ich weniger eine "analytische Profilschärfe" unterstellen (was eigentlich ist "analytisch-vergeistigt??), als vielmehr ein genialisches, oft auf den spontanen, einzigartig-unvorhersehbaren Moment setzendes Musizieren. Rattle wird schon eine Menge an analytischem Denken für seine Beethovenprojekte betrieben haben, ebenso wie ein Järvi oder auch ein Thielemann. Die Ergebnisse sind jeweils sehr unterschiedlich und mögen die verschiedenen Hörer mit sehr unterschiedlichem Grad für sich einnehmen können. Aber einem Mann wie Rattle ein mehr oder weniger unüberlegtes und unverstandenes Drauflos-Dirigieren bei Beethoven zu unterstellen, hielte ich für eine Anmaßung, weil nicht durch entsprechende Kenntnisse über das Zustandekommen einer solchen Sicht gespeist.



    Hierzu fällt mir spontan, ohne Nachdenken, eine TV-Interview-Äußerung vom unvergessenen Georg Solti ein (dessen Vornamen übrigens unsere "weltoffenen" Radio-Moderatoren seit Neuestem gerne in englischer Fassung aussprechen ): "Der Streicherklang der Wiener Philharmoniker ist etwas Einmaliges."

    Es könnte auch weise sein, nicht jeden spontanen Einfall als veröffentlichungswürdig zu bewerten, vor allem dann, wenn da so ein befremdlich-nationalistischer Unterton mitzuschwingen scheint, den man den Sympathisanten eines Flügels jener Partei in Deutschland zuordnen könnte, die sich gerade in einem dramatischen systemischen Richtungsstreit befindet.
    Inhaltlich gebe ich Solti gerne recht, wobei ich jedoch hinzufüge, dass die Berliner Philharmoniker meinem Eindruck nach sogar in der Lage sind, auf die Schönheit dieses Streicherklangs noch ein bisschen mehr Fülle, Weichheit und Wohlklang draufzusetzen, wie man es bei dieser exemplarischen Aufnahme des Requiems von Brahms unter Claudio Abbado im Wiener Musikvereinssaal sehr schön hören kann (die Youtube-Klangqualität wird dafür nicht ausreichend sein, so dass ich nur zum Kauf der Blue-ray raten kann):



    Zum schönen Streicherklang bei den Wiener Philharmonikern kommt dann aber der näselnde Oboenklang der Wiener Oboe hinzu. Hier ziehe ich den klarinettenhaften, runden Kuppelton eines Albrecht Meyer dem dünnen, etwas "quäkenden" Wiener Klang durchaus vor.



    Um keinem Mitglied der Berliner Philharmoniker, der von diesem Vorschlag erfährt oder ihn vielleicht hier selbst liest, die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben, füge ich die notwendige Ergänzung in vorauseilendem Gehorsam gleich hinzu.....

    Keine Sorge, das mit den Schweißperlen wird gewiss nicht geschehen.....



    Wohlan, Ihr Lieben, mit diesem Vorschlag hoffe ich jetzt, *berühmt* zu werden ... :jubel::jubel::jubel:

    Angesichts der Literatur des letzten Abschnitts zum Thema "Demokratisierung" wage ich die Einschätzung, das daraus nichts wird.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • "Titanenhaft-teutonisch" fand ich Karajans Beethoven nie. Da muss ich Glockentons Urteil beipflichten, der ihm andere Attribute beimisst. Für einen teutonischen Titanen muss man schon weiter zurück gehen, bis Furtwängler und vor allem Knappertsbusch. Letzterer lieferte 1956 mit den Berliner Philharmonikern die für mich definitive Deutung dieses Werkes, so nur von Furtwängler (besonders 1947 erstes Nachkriegskonzert) und Klemperer (besonders 1968 mit den Wienern und 1969 mit den Bayern), wenn auch anders, erreicht.



    Wenn das kein völlig anderer Orchesterklang ist als heute, dann weiß ich auch nicht. Das Orchester klang ja schon wenige Jahre später, bei Karajans berühmten Zyklus von 1961/62, ganz anders. Viel weniger "deutsch", wenn man dieses Wort denn unbedingt bemühen will, viel moderner und weniger "wagnerisch". Thielemanns Interpretation wirkt für mich im Vergleich geradezu schmalbrüstig. Allerdings gibt es m. W. nur eine mit den Wienern, aus Berlin bisher wohl nur die "Eroica".


    Ernüchternd stellt man da fest, dass auch Thielemann dieses Klangideal nicht wiederbeleben wird.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wenn man die Pressemitteilungen liest, sieht es so aus, dass die Beliner in dieser Situation das Opfer ihres eigenen Mythos zu werden drohen.


    Der allergrößte ist der vom angeblich besten Orchester der Welt. Dazu kann man eigentlich nur in des Knaben Wunderhorn blasen :D :


    Du glaubst, du bist der Schönste
    Wohl auf der ganzen weiten Welt,
    Und auch der Angenehmste
    Ist aber weit, weit gefehlt!


    Aus dieser Selbstüberschätzung der Berliner - es gibt mindestens 10 Orchester auf der Welt, die auf dem selben exquiten Niveau musizieren - ergeben sich unnötige Komplikationen und einfach eine Realitätsblindheit. Die Berliner meinen offenbar, für jeden Dirigenten sei der Chefposten in Berlin die Erfüllung des Lebenstraumes, so dass sie sofort ihre Zelte abbrechen wo sie auf der Welt auch gerade sind und das Angebot natürlich mit überschwänglicher Freude annehmen. Dahinter steht der Mythos Karajan: Wir sind die Besten und haben den besten Dirigenten der Welt. Also ist der, der von uns gewählt - besser "erwählt" wird - damit gekrönt zum zweiten Karajan - natürlich für die Ewigkeit. Alles Quatsch! Die Dirigentengeneration von heute kalkuliert ganz pragmatisch, was die Vorzüge und Nachteile einer solchen Anstellung in Berlin für sie sind als gleichwertige Alternative zu London, Amsterdam, Dresden oder New York. Sicher finden sie das höchst reizvoll und auch eine große Ehre. Aber das Karajan-Erbe ist auch eine Bürde und Last. Da wird ein Erwartungsdruck aufgebaut mit allen Äußerlichkeiten, die mit der Musik selber wenig zu tun haben und es wird deshalb sicher einige geben, die genau aus dem Grund sagen: Ich bleibe da, wo ich bin, da kann ich wie ich es möchte nach meinen Vorstellungen einfach nur Musik machen. Die Vorstellung, dass man als Dirigent besonders geadelt wird, wenn man Chef eines Spitzenorchesters wie die Berliner ist und nur dann wirklich "bedeutend", haben schließlich nicht zuletzt Celbidache und Günter Wand widerlegt. Das sind alles wiederum völlig realitätsfremde Mythen.


    Ein weiterer Mythos ist der, dass angelblich Karajans Nachfolger den Klang des Orchesters ruiniert hätten und man jetzt endlich wieder einen zweiten Karajan braucht. Der Eigenklang wird einfach nicht (allein) durch den Dirigenten gemacht. Die Tschechische Philharmonie z.B. hat einen unverwechselbaren Eigenklang, den man sofort erkennt: die "böhmischen Bläser". Kein anderes Orchester der Welt klingt so. Woran liegt das? Nicht primär an Talich, Ancerl oder Neumann, sondern einfach daran, dass nur Musiker im Orchester angestellt werden, die in Prag ihre Ausbildung erfahren haben. Ähnliches gilt für die russischen Orchester, wo man eben den "russischen" Bogenstrich nur in Moskau oder St. Petersburg, aber nicht in London oder New York lernen kann. Für die Wiener gilt Entsprechendes. Die Berliner Philharmoniker haben immer eine andere Einstellungspolitik gehabt. Die besten Instrumentalisten wurden eingestellt, woher sie kamen, war relativ egal. Es gibt nun mal die Globalisierung und damit zusammenhängend die Angleichung von Ausbildungsstandards überall auf der Welt. Das führt zu einer Professionalisierung aber auch Angleichung im Klang. Das läßt sich nicht aufhalten. Auch die Bläser der Tschechischen Philharmonie klingen heute nicht mehr so böhmisch wie früher. Das liegt aber nun wirklich nicht daran, dass zwischenzeitlich mal Nicht-Tschechen wie Ashkenazy oder Albrecht das Orchester geleitet haben.


    Simon Rattle hat mal schön die Leistung seines Vorgängers Claudio Abbado beschrieben: Das Orchester ist erheblich flexibler geworden als unter Karajan. Man darf doch die internationale Konkurrenz nicht vergessen! Wenn man mit den anderen Musikzentrum der Welt mithalten und nicht ins nationalistische Abseits geraten will, muß man sich diesem internationalen Vergleich stellen. Und es ist heute wirklich nicht mehr ein Einheitssound für alles a la Karajan gefragt. Ein Orchester muß verschiedenste Musik realisieren mit ganz unterschiedlicher Ästhetik. Dazu gehört, dass es den Klangvorstellungen verschiedenster Dirigenten genügen muß. Wenn Pierre Boulez seinen Debussy in Berlin dirigiert, dann will er alles, nur keinen Karajan-Sound! Und deshalb war Abbado zu seiner Zeit genau der richtige Mann am richtigen Platz. Er hat dem Orchester seine Weltstellung gesichert.


    Auch das Verhältnis von Dirigent und Orchester unterliegt dem zeitlichen Wandel. Die Vorstellung, dass nur Orchesterdespoten die überzeugensten Leistungen bringen und "Demokratisierung" dem künstlerischen Ergebnis schadet, ist auch wieder nur ein Mythos. Claudio Abbado wird von allen Musikern immer wieder als charismatischer Dirigent beschrieben. Er erreichte sein Ziel - leise und fast schüchtern wie er war - vornehmlich durch nonverbale Kommunikation. Entscheidend ist aber doch nun, was dabei herausgekommen ist: Er hat seine Vorstellungen so ganz genau umgesetzt (man höre nur mal seine Tschaikowsky-Aufnahmen aus Wien und Chicago, die gleichen klangästhetisch einander wie ein Ei dem anderen), wie es manch andere mittelmäßige Dirigenten mit altmodisch autoritärem Gehabe nie im Leben geschafft haben. Wer den Musikern mehr Selbstbewußtsein gibt, fördert das Engagement und bekommt ohne es zu fordern so die Ergebnisse viel leichter, die er haben will.


    Gegen die Orchesterdemokratie ist auch nichts wirklich Substanzielles einzuwenden. Die Berliner haben mit den beiden letzten Entscheidungen bewiesen, dass ihre Wahl richtig war. In diesem Fall haben sie - offensichtlich nicht ohne eigene Schuld - einfach das falsche Verfahren gewählt. Im deutschen Bundestag wird bei schwierigen Entscheidungen auch erst einmal sondiert, bevor man zur Abstimmung schreitet. Da hätte man im Vorfeld sich selber erst einmal ganz unvoreingenommen klar machen sollen: Was ist die Marktlage, wer will überhaupt? Und was wollen wir eigentlich? Wenn man da noch nicht zu einer gemeinsamen Linie gekommen ist, kann auch kein Ergebnis herauskommen. Vielleicht hilft diese Erfahrung den Berlinern ja, mit etwas weniger Selbstmystifizierung den Realitäten ins Auge zu sehen und eine pragmatisch kluge Entscheidung zu treffen. Die Zeit, wo Dirigenten das Engagement in Berlin als Lebensaufgabe bis zum (bitteren) Ende betrachteten, ist doch ein für allemal vorbei. Es kann nur noch um den besten "Lebensabschnittsgefährten" gehen. Und objektiv gesehen ist die Situation wohl auch deshalb schwierig, weil die eine prägende Dirigentengeneration schon fast völlig abgetreten ist bzw. einfach zu alt und die neue vielleicht noch zu jung, sich gerne selber noch etwas mehr Erfahrung erlauben will, bevor sie an einen so traditionsträchtigen Ort wie Berlin geht. Als junger Fußballer zu früh zu Bayern München zu wechseln, kann ja auch ein sehr großer Fehler sein. ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich hätte große Lust, jeden Satz Deines Beitrags 352 zu unterschreiben, lieber Holger.
    Man hätte die Dinge einfach nicht besser zusammenfassen können - Hut ab und Daumen hoch :thumbup:


    LG
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Falls noch weitere Zustimmungspostings für Holger dazukommen wollen, so hoffe ich nicht, diese mit meinem Beitrag zu stören. Wer will, darf also auch noch nach mir zustimmen :D .....


    Auf die Gefahr hin, von der BPO-Diskussion zu einer Beethoven-Interpretationsdiskussion abzuschweifen, möchte ich es dennoch wagen, auf Beitrag 351 einzugehen.
    Die teutonischen Eigenschaften, die Joseph II der beeindruckenden Kna-Aufnahme zuspricht, höre ich auch so.
    Mit HIP hat das garnichts zu tun, aber was für eine faszinierende und wuchtige Musikalität! Auch wenn das zu Beethovens Zeit garantiert nie so geklungen hätte, halte ich solche Interpretationen dennoch für sehr legitim, weil das Werk auch eine solche Beleuchtung mühelos hergibt. Ob Beethoven so eine Deutung beabsichtigte oder gutfände, könnte nur er beantworten. Aber in seinem Werk sind die Gene für eine solche Darstellung auf jeden Fall auch enthalten, ebenso übrigens auch wie das "Wagnerische", das Karajan im zweiten Satz der Eroica bei manchen Blechbläserstellen so eindrücklich hervorarbeitete.



    Thielemanns Interpretation wirkt für mich im Vergleich geradezu schmalbrüstig.

    Nun, vom ebenfalls voll-dunklem Klang her finde ich das eher nicht, aber hier spielen ja auch nicht die Berliner, sondern die Wiener Philharmoniker, und ein paar Jährchen liegen dann wohl auch dazwischen ;) Mit Karajan oder Harnoncourt im Ohr kam mir Thielemann schon sehr gewichtig und "furtwänglerisch", von mir aus auch "teutonisch" vor (von Järvi mit den Bremern fange ich da gar nicht an....)
    Dass es gegenüber Kna noch etwas leichter klingt, liegt m.E. vornehmlich am noch langsameren Tempo des großen Alten. Einen gewaltig unterschiedliche Auffassung (man höre nach dem Kna einmal in Järvi hinein....) kann ich da eher nicht erkennen. Es scheint mir eine ähnliche Richtung zu sein, allerdings so, wie man den Teutonen heute spielen kann, ohne unglaubwürdig zu werden.


    Hier kann man Thielemann hören:



    Man verzeihe mir die weitere Abschweifung, aber hier gäbe es noch so eine sehr klassische Variante mit Karl Böhm, von der Grundauffassung her ebenfalls "im Alten Stil" (dem Karajan bei seiner 5. ja gerade seine nach vorne drängende Dramatik im sportiveren Tempo und strahlendem Klang entgegensetzte, was mich als Jugendlichen sehr begeisterte - heute mag ich beides...) dirigiert:



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Im meiner Eigenschaft als Betreiber des Tamino Klassikforums danke ich den Berliner Philharmonikern für ihr verantwortungsvolles Zaudern. Denn dieser interessante Threads mit bisher 340 Beiträgen und 17 033 Seitenaufrufen - er wäre eigentlich in den nächsten Tagen beendet gewesen - wird noch monatelang weiterlaufen - und er hat - wie es scheint - noch ein beachtliches Potential.


    Das ist doch ein gutes Zeichen. Ebenso wie die Tatsache, dass die Neubesetzung eines Chefdirigentenpostens eine internationale mediale Aufmerksamkeit erfährt, die man sonst nur von Trainerwechseln bedeutender Fußballvereine kennt. Man könnte dies sogar als Beleg dafür nehmen, dass die Berliner Philharmoniker eben doch noch einen ganz besonderen Status in der Musikwelt haben, Alfreds Unkenrufen zum Trotz. :P

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Trotzdem sollten wir hier vielleicht dem Beispiel der Berliner Philharmoniker folgen und dieses Thema erst einmal ein bissl ruhen und sacken lassen...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ein paar Dinge muss ich, da ziemlich hart angefasst, allerdings noch gerade rücken, bevor dieses Thema einschlummern darf.


    Vorneweg ein genereller Rat an ALLE:
    Man sollte in Internetforen nicht alles, jeden Satz und jedes Wort, auf die Goldwaage legen bzw. mit Röntgenaugen durchleuchten und nicht, bildlich betrachtet, gegen jeden "Spatz", der einmal einen falschen Ton "gesungen" hat, sogleich mit (Wort-)Kanonen vorgehen. Die Gefahr ist naturgemäß bei manchen Mitgliedern größer als bei anderen, und wer wollte leugnen, dass es prickelnder ist, jemanden - vermeintlich - triumphal zu widerlegen als ihm in allem kleinlaut beizupflichten.
    Erstens kommen längst nicht alle Forianer aus dem - einschlägig - wissenschaftlich-professionellen Bereich, sondern frönen einfach nur privat, und sei es auf beachtlichem Niveau, ihrer - hier musikalischen - Leidenschaft. Zweitens gibt es, alleine schon bedingt durch das auseinanderklaffende Lebensalter, große Erfahrungsunterschiede. Drittens überlegt der durchschnittliche Forianer nicht jeden Gedanken in allen möglichen Dimensionen und Konsequenzen durch, weil das enorm zeitaufwändig wäre, zumal wir das hier ja zwar "zum Wohl der Kunst", aber als unentgeltliches Hobby und nicht dem schnöden Mammon zuliebe tun.
    Und viertens, hier scheint mancher Klassikfreund, ganz unabhängig von TAMINO, ein nachhaltiges Defizit zu besitzen, gibt es auch in dem so elitären und im Kern der Sache fraglos ernsten, fast "heiligen" Bereich der Klassischen Musik eine Komponente, ohne die das menschliche Leben für viele, so auch für mich, überhaupt nicht zu ertragen wäre: Humor! Oder um es anders zu sagen: Menschen, insbesondere Interpreten und Komponisten, ohne Humor wirken auf mich befremdend bis unheimlich. Vielleicht sollte man sich in Zukunft angewöhnen, beim Zitieren bestimmter Mitglieder ein *Humor Anfang* und "Humor Ende* hinzuzufügen, wenn schon ein Smiley oder eine ähnliche Animation nicht mehr ausreicht.



    Konkret:
    Meine Aussage "von der Pop-Kultur imprägniert" war, aus meiner Sicht logischerweise, erkennbar nicht so zu verstehen, dass die Jüngeren, ab etwa 1970-80 Geborenen aus der erlesenen Schar der Berliner Weltklasse-Philharmoniker das klassische symphonische Repertoire im Stil von Pop-Interpreten angehen, dass also irgendein Songtitel irgendeines Pop-Sängers oder einer Rock-Gruppe direkten Einfluss darauf hätte, wie die Berliner bestimmte Solo-Passagen klassischer Kernwerke spielen. So kindlich-naiv denke ich nicht!
    Im übrigen, und hierin lag in der Reaktion eine bewusste Verzerrung, habe ich den Gedanken als Frage, und gerade nicht als "These", also eigene Überzeugung, formuliert. Das sind zwei verschiedene paar Schuhe. Es ging darum herauszufinden, welche andere Ursache der von der Wiener "Presse" und von mir bejahte verwechselbare Beethoven-Klang unter Rattle, von Alfred "internationaler Einheitsbrei" genannt, was m.E. zutrifft, noch haben könnte, WENN es möglicherweise doch nicht am Dirigenten liegt.


    Was - erkennbar - gemeint war, ist die Mentalität- bzw. Zeitgeistprägung, so wie etwa Simon Rattle, Jahrgang 1955, ob er es wollte oder nicht, in seiner Jugend eine andere Sorte von Unterhaltungsmusik zu hören bekam als ein Karajan oder Furtwängler. Und das gilt für die Orchestermusiker prinzipiell genauso.


    Dieser Punkt ist keineswegs nur von sekundärer Bedeutung, sondern ein zentrales Problem der Interpretation klassischer Musik, das man als Postulat in etwa so umschreiben kann:
    Die Wiedergabe eines Werks aus einer bestimmten Stilepoche hat alle späteren, zum Zeitpunkt der Komposition noch nicht existenten Stilepochen gedanklich auszublenden, will sie der stilistischen Eigentümlichkeit des Werks und dem historischen Kontext gerecht werden.
    Eben deshalb scheitert ein Horowitz an Schubert, weil er ihn so spielt, als hätte Schubert schon die Werke von Chopin, Liszt oder Rachmaninow gekannt.


    Dass Rattle Beethoven hoch schätzt und sich auch vermutlich redlich um ihn bemüht, habe ich nie bestritten und werde es auch nicht tun.
    Aber wie sagt der Lateiner so zeitlos treffend: Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.
    Zu diesem Ergebnis komme ich, nebst vielen anderen, beim Vergleich des Rattle'schen Beethoven mit parallelen Aufnahmen unter Furtwängler, Karajan, Giulini, Kleiber, etc. etc.
    Mir die Aussage "unverstandenes Drauflos-Dirigieren bei Beethoven" in den Mund zu legen, ist bei weitem überspannt!




    Und zu dem Vorwurf eines "befremdlich-nationalistischen Untertones" erspare ich mir den angemessenen Kommentar, den ich im Kopf habe.
    Abwegig ist noch das freundlichste Wort, das mir dazu einfällt.
    Georg Solti kam 1912 im damaligen Österreich-Ungarn zur Welt, das sich, da schon damals die Ungarn wesentlich leichter Deutsch lernten als umgekehrt Österreicher Ungarisch, auf die gemeinsame Amtssprache Deutsch verständigt hatte. Soltis Geburtsname lautet György Stern. Er wuchs also nicht nur in einer ungarisch-deutschen Sprachumgebung auf, sondern trug auch zusätzlich einen deutschen Familiennamen, den sein Vater übrigens laut Wikipedia zeitlebens beibehielt, weil er der Magyarisierungswelle der 1920er Jahre trotzte.
    Soltis Deutsch war fast makellos und er fühlte sich, da so von Jugend an sozialisiert, in der deutschen Sprache wesentlich mehr "zuhause" als im Englischen, ja fast noch mehr als im Ungarischen. Wenn also heutige deutsche Radio-Moderatoren, um besonders weltoffen und polyglott rüberzukommen, den Vornamen dieses Mannes auf Englisch aussprechen, nur weil er britischer Staatsbürger war, dann ist das an Lächerlichkeit kaum noch zu steigern. Und das ist und bleibt meine Meinung auch in anderen vergleichbaren Fällen.

  • Du hast gesprochen, hast uns guten Rat erteilt. Ich habe Deinen Beitrag mehrfach gelesen und nicht so recht verstanden, was Du uns hast sagen wollen. So bleibe ich ratlos zurück. ?(

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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