War "HIP" ein "trojanisches Pferd" ?

  • Lieber Alfred!

    Diese Gruppe - eigenartigerweise habe ich gewisse Kontokte zu ihr - ist in Wahrheit sehr groß.


    Wie groß ist sie denn - und was bedeutet in diesem Zusammenhang groß?


    Genau die von Johannes Roehl beschriebene Gruppe ist zumindest tendenziell computerfeindlich - und wenn sie einen Computer durch ihr Umfeld aufgezwungen bekommenn hat, dann verweigern sie zumindest das Internet, und wenn das nicht, so beschränken sie sich aufs Notwendigste.


    Dieses Argument kann ich nachvollziehen. Dennoch lässt seine Wirksamkeit von Jahr zu Jahr nach, da die nachwachsenden Jahrgänge so selbstverständlich mit dem Internet aufwachsen wie wir mit Telefon und Fernsehen.


    Sie sind in der Regel Widerspruch nicht gewohnt und würden ihn speziell von Fremden nicht ertragen, fürchten "angegriffen " zu werden - und stehen Internetforen somit nicht als Diskussionspartner zur Verfügung.


    Das ist schon eher ein langfristig tragfähiges Argument.


    Ob klassische musik "Unterhaltungsmusik" ist ?


    Da gibt es mindestens zwei Aspekte.


    Als was hat der Komponist die Musik komponiert? Mozart hat die eine oder andere Serenade oder Kassation gewiss zur Unterhaltung komponiert, seine sechs Haydn-Quartette jedoch eher nicht.


    Und zweitens: Für was benutze ich die Musik? Da ich nicht beruflich den Tristan besuche, ist der Tristan per definitionem Unterhaltungsmusik für mich. - Andere Sichtweise: Wenn ich den Tristan nebenbei zur Unterhaltung höre, dann mache ich ihn für mich zur Unterhaltungsmusik.


    Der "eine" von J.R beschriebene User ist eine Ausnahme. Mehrere unglückliche Zufälle haben ihn ins Internet gespült - und auf Grund einer Verstrickung in einem Punkt dieses Netzes ist er darin gefangen, wie ein zappelndes Insekt, das sich nicht mehr daraus befreien kann. Er hat jedoch Schaden an seiner Seele genommen - musste im harten Training lernen Widerspruch zu ertragen.


    Mein Beileid. Widerspruch ertragen musste ich schon als Kind lernen - es ging beileibe nicht alles so, wie ich das wollte. Angefangen bei der Uhrzeit des Schlafengehens über die Zusammenstellung der Mahlzeiten bis hin zur Länge von Schulferien und vielen anderen Dingen des täglichen Lebens hatte ich oft eine andere Meinung als diejenigen, die darüber bestimmen durften und Widerspruch zu meinen Meinungen anmeldeten und durchsetzten. - War das bei Dir anders?


    Das führt meines Erachtens dazu, daß das Internet ein völlig verzerrtes Bild der Realität ergibt, oder - korrekter formuliert -nur einen relativ kleinen Kreis davon beleuchtet, der sehr spezifisch gefärbt ist.


    Das ist richtig! Wobei ich bei "völlig verzerrt" zaghaft widersprechen möchte und "unter Umständen verzerrt" für eine geeignetere Formulierung hielte.


    Das bedeutet aber, dass allen Argumenten wie "Die meisten Taminos sehen das so ... " die Stichhaltigkeit entzogen wird. Denn auch Tamino - als Teil des Internets - gibt ja ein verzerrtes und daher nicht repräsentatives Meinungsbild wieder.

  • das Manko vieler HIP-Lesarten m.E. keine Überexpressivität, sondern ein Mangel ans Ausdruck. Verglichen mit gewissen Glattbüglern, deren Namen ich nicht nenne, mag das nicht auffallen. Aber verglichen mit Mengelberg, Scherchen, Furtwängler, Schnabel, Juilliard Quartett usw.)


    Es so stehen zu lassen, erweckt den Anschein, als sei der bei MANCHEM HIP-Vertreter vermisste Ausdruck eines Mengelberg, Furtwängler, Schnabel geradezu naturnotwendig mit dem einzelnen Musikstück verbunden. Dabei muss die Frage, welche Ausdrucksebene dem Werk angemessen ist, von jeder Interpretation neu beantwortet werden. Möglicherweise kommen dabei immer mehr Vertreter der HIP zu der Auffassung, dass nur ein bestimmtes Maß an Ausdruck dem Werk verträglich sei. Das ist aber nicht für HIP typisch. Zu ähnlichem Schluss sind auch Musiker wie Günter Wand, Michael Gielen (der nicht HIP im engeren Sinn anstrebt, aber zu ähnlichen Ergebnissen kommen mag), Rene Leibowitz und viele andere gekommen. "Glattgebügelt" klingt's allemal trotzdem niemals - der Individualität der Werke sind gerade die Musiker, die Musik nicht auf "Ausdruck" fokussieren, möglicherweise bei der Vielzahl neben den Ausdruck tretender Parameter auf der Spur.

  • es gab hier ja einen netten nebenschauplatz bezüglich hip und regietheater, wo die widersprüchlichkeit der üblichen vorlieben thematisiert wurde.


    ich bin nicht widersprüchlich.
    :D


    ich möchte alles möglichst nahe am originalzustand erfahren, freue mich über jedes originalinstrument, über jeden originalen tanzschritt und jede barocke gestik und fühle mich durch "regietheater" abgelenkt, meide es. das ist mein recht, das darf ich.
    :P

  • netter Versuch! :hello: Verzeih mir die Bemerkung, aber Du hattest schon gekonnter argumentiert ... :stumm:


    Ich habe überhaupt nicht argumentiert, sondern dich etwas gefragt!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Wenn Du mich fragst, wo sich Böhm Eigenwilligkeiten geleistet hätte, fällt mir auf Anhieb nichts ein...


    Dann solltest du derartige Behauptungen unterlassen!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Ach, lieber Theophilus, muss ich Dir das wirklich logisch aufdröseln ... ich meine, das wäre eigentlich unter Deinem Niveau, das ich ansonsten sehr schätzen gelernt hatte. :no:


    Vielleicht ist es ja umgekehrt: Furtwängler, Klemperer, Böhm usw. haben sich Eigenwilligkeiten geleistet bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus - alleine die großen Unterschiede zwischen den Interpretationen dieser drei Ikonen sprechen ja schon für Richtigkeit dieser Behauptung. Die HIP-Ensembles sind dichter an der historischen Wahrheit, darum klingen sie auch einander vergleichsweise ähnlich! So rum wird ein Schuh draus.


    Meine Argumentation ist: Zwischen den Interpretationen von Furtwängler, Klemperer und Böhm gibt es große Unterschiede. HIP-Interpretationen liegen in der Regel dichter beieinander.


    Aus dieser Beobachtung heraus hatte ich geschlussfolgert, dass "Eigenwilligkeiten" - wenn überhaupt - dann doch am ehesten bei Furtwängler, Klemperer und Böhm zu vermuten seien.


    Du sagst jetzt, wenn ich keine Eigenwilligkeit bei Böhm auswendig benennen kann, dürfe ich dieses Argument nicht anbringen.


    Dazu ist vom logischen Standpunkt zu sagen: Wenn sich die Interpretationen von Furtwängler, Klemperer und Böhm aufgrund von Eigenwilligkeiten deutlichen unterscheiden, dann genügt es, wenn zwei von den drei genannten eigenwillig interpretiert haben. ?(


    Selbst wenn Böhm völlig werktreu (in welchem Sinne auch immer) musiziert hätte, wäre mein Argument nicht falsifiziert und ich sehe nicht, dass Du berechtigt wärest, mich aufzufordern, diese Argumentation zu unterlassen. :yes:


    Wenn Du es wirklich willst, suche ich Dir noch Stellen heraus, in denen Böhm werkuntreu interpretiert hat.

  • Zitat

    Zitat von Wolfram: Vielleicht ist es ja umgekehrt: Furtwängler, Klemperer, Böhm usw. haben sich Eigenwilligkeiten geleistet bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus...Zitat von Wolfram: Du sagst jetzt, wenn ich keine Eigenwilligkeit bei Böhm ausmachen kann, dürfe ich dieses Argument nicht anbringen.

    --Zitat Ende---


    Na, dann will ich mal versuchen, Wolfram beizuspringen:
    Kann man nicht eine extrem langsame Tempogestaltung als Eigenwilligkeit bezeichnen? In anderen Threads wurde dies auch immer wieder gemacht, und dabei tauchten auch immer wieder die o.a. Namen auf.
    Als Beispiel Böhms will ich seine Neunte Beethoven (1981) anfügen und sie einer Aufnahmen vom "anderen Ende der Fahnenstange" gegenüberstellen:


    Böhm: 18:38-10:50-18:15-28:37---76:31;
    Zinman:13:35-12:11-11:31-21:40---58:57;
    (1. Vers.)
    Zinman:13:35-12:11-11:31-21:28---58:45);
    (2. Vers.)
    Die alternative Satzdauer rührt laut Zinman da her, dass Beethoven ursprünglich in Takt 747 des Finales eine Generalpause eingetragen hatte, die er später wieder strich, und mittlerweile habe man sich so an die letztere Version gewöhnt, dass man es gar nicht mehr anders hören wolle.
    Selbst bei der längeren Zinman-Version ist Böhm noch 17:34 Minuten langsamer als Zinman, wobei man dessen Tempo natürlich auch als eigenwillig (schnell) bezeichnen könnte, aber das würde hier im Forum eher niemanden stören.


    Selbst bei einer Durchschnittsdauer von 64 Minuten der Neunten läge Böhm immer noch 12 Minuten und 34 Sekunden über dem Durchschnitt.
    Wenn das keine Eigenwilligkeit ist.
    Ich denke in dem Zusammenhang an Karajans Eroica von 1962. Da hatte man ihm von Seiten der Kritik auch schwer übel genommen, dass er die langsame "Tutti-Variation" wesentlich langsamer genommen hatte als andere.
    Nun solche Eigenwilligkeiten kommen auch bei HIP-Aufnahmen vor. Zum Beispiel fand ich es unerträglich, wie langsam Hogwood in der Neunten die alla marcia-Stelle mit dem Tenorsolo "Froh, wie seine Sonnen" förmlich dehnte, fast wie eine "Parodie", ein Begriff, der im Järvi-Thread auf Järvi gemünzt wurde.


    Viele Grüße


    Willi ?(



    P.S. Leider ist mir mein ganzer Beitrag als "Zitat" misslungen. Ich weiß auch nicht, warum.
    korrigiert, ksm

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    ich halte es für nicht unproblematisch, Böhms letzte Aufnahme vom November 1980 als Beispiel für eine "eigenwillige Interpretation" anzuführen.


    Für mich ist es die "sehr langsame Aufnahme eines 86-jährigen", denn die Tempi sind zwar insgesamt breit, aber zum einen stimmen sie in Relation zueinander und zum anderen war Karl Böhm (übrigens wie auch Furtwängler) einer der ganz wenigen Dirigenten, die sich trauten, das Schluß-Prestissimo auch als solches zu spielen.


    Natürlich kann man bereits das konsequente Nicht-Beachten der Metronomangaben als "Eigenwilligkeit" betrachten, aber selbst dann würde ich eher andere Aufnahmen Beethovens 9. nennen, zum Beispiel Leonard Bernstein (New York) oder Ferenc Fricsay.


    Bernstein: 15'25'', 10'40'', 17'36'' und 26'18''
    Fricsay: 16'45'', 10'35'', 18'03'' und 23'16''


    Bei igs. recht zügigen bis gemäßigten Tempi sind beide Dirigenten in Relation im Adagio zu langsam. Bei Fricsay könnte man noch anfügen, daß er das Finale zu zügig nimmt (in Relation zum ersten Satz beispielsweise) und Bernstein zu langsam (ebenfalls in Relation zum ersten Satz).


    Bei Böhm hingegen fällt kein Satz tempomäßig in Relation zueinander "aus dem Rahmen".


    Eine letzte Anmerkung: Die DGG hatte zeitweise Aufnahmen von Böhms letzter Aufnahme herausgebracht, in denen die Wiederholung der Introduktion des Scherzos nicht verzeichnet war (weil die Spielzeit einer CD zu damaligen Zeiten sonst überschritten worden wäre). Als die Spielzeit einer CD an die 80 Minuten heranreichte (oder gar überschritten werden konnte), wurde auch das "ganze Scherzo" gespielt und Karl Böhm kam auf 13'22'' (statt 10'50'').

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Kann man nicht eine extrem langsame Tempogestaltung als Eigenwilligkeit bezeichnen?


    Erstens: darum geht es nicht! Es geht um "Eigenwilligkeiten bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus"!


    Zweitens: Wenn man Zinman als Ausgangspunkt nimmt, kann man ohnehin nur zu recht seltsamen Ergebnissen kommen. Und wie kommst du auf eine Durchschnittsdauer von 64 Minuten? Das ist doch absolut lächerlich, selbst Toscanini benötigte 64:43!


    Mit 76 Minuten ist Böhms letzter Live-Mitschnitt auf der langsameren Seite. Aber in einem Konzertführer habe ich einmal gelesen: Spieldauer ca. 73 Minuten. Man wird heutzutage im Schnitt etwas schneller unterwegs sein, aber in einem repräsentativen Querschnitt von Schallplattenaufnahmen wirst du immer noch an die 70 Minuten Durchschnittsspielzeit haben. In dieser korrekten Annahme sind 76 Minuten etwas langsam aber nicht eigenwillig, und schon gar nicht über die Grenzen des Erträglichen hinaus.


    Außerdem ist das Grundtempo ohnehin schwer mit dem Begriff "eigenwillig" zu fassen. Da müsste es schon wirklich extrem werden, und da ist eher Zinman der Eigenwillige und nicht Böhm. Das eigenwillige kommt mehr innerhalb des Werkes zum Tragen, wenn der Dirigent bewusst gelegentlich aus dem gewählten Rahmen fällt. Und gerade das wirst du Böhm schwerlich unterstellen können. Egal wie einverstanden du mit seinem Grundtempo bist, die Proportionen innerhalb eines Werks hält er besser ein als die Mehrheit seiner Kollegen.


    Außerdem benötigt er in der Platteneinspielung mit den Wiener Philharmonikern 72:22 (Blomstedt z.B. 72:50, Furtwängler immer über 74, der flotte Karajan immer um 67, der ebenso flotte Maazel ca. 66, der nie langsame Abbado mit den Berlinern und(!) den Wienern ca. 72:40, der feurige Fricsay 68:20, Muti knapp 72, Klemperer zwischen 66 und fast 78(!), selbst HIP Harnoncourt mit seinem kleinen Orchester fast 67, Bernstein in Wien ca. 71 aber in Berlin fast 78 Minuten!), und liegt damit bei dieser Symphonie in bester Gesellschaft.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Lieber Theophilus,


    du scheinst meinen Beitrag doch nicht aufmerksam genug gelesen zu haben, denn sonst hättest du gelesen, dass ich eine langsame Tempogestaltung als Eigenwilligkeit in eine Frage gekleidet habe, damit habe ich keine negative Wertung vorgenommen.
    Im Gegenteil habe ich schon früher, als ich noch nicht bei Tamino war, in einem anderen Forum die Dauer von Böhms Neunter Beethoven verteidigt, indem ich ebenfalls auf die passenden Temporelationen hingewiesen habe und auf die ungeheure Spannung, mit der Böhm diese Sinfonie 1980 dirigiert hat, desgleichen auf die Leistung des Orchesters und der Solisten.
    Und selbstverständlich würde ich dann auch eine Abweichung in die andere Richtung als eigenwillig ansehen.


    Was meine Durchschnittsschätzung anbetrifft, so habe ich mit 64 Minuten tatsächlich zu niedrig geschätzt, aber ich verwahre mich dagegen, meine Schätzung als absolut lächerlich zu bezeichnen. In der Tat weisen meine 30 Aufnahmen der Neunten einen Durchschnitt von 68:26 Minuten auf. Damit liege ich zwar über meiner Schätzung, aber auch du liegst über meinem Durchschnitt, den ich durchaus als repräsentativ bezeichnen möchte.
    Ich bezeichne ja auch nicht deine Tempoangabe von Abbados Berliner Neunten als lächerlich, die ganz gewiss keine 72:40 gedauert hat, sondern 62:19 Minuten!!
    Damit ist Abbado in meiner Liste von 30 Aufnahmen an 5. Stelle hinter Zinman (58:57), Gardiner (59:43), Mackerras (61:00, 1996) und Mackerras (61:34, 2006). Übrigens hat Mackerras das Kunststück fertiggebracht, mit 81 Jahren (2006) die Sinfonie nur 34 Sekunden langsamer zu spielen als 1996. Welch ein Tempogefühl und welch eine Energieleistung.
    Die drei langsamsten Einspielungen sind (nach Norberts Korrektur der Böhm-Aufnahmezeit): Nr. 28: Barenboim (76:38 ), Nr. 29: Celibidache (78:43) und Böhm (79:03).
    Noch einmal: Langsam für mich nicht negativ besetzt, so lange es spannungsvoll musiziert ist, das gilt auch für Barenboim und Celi.
    Wenn Interesse besteht, liste ich meine anderen Aufnahmezeiten auch noch auf, um auch zu untermauern, dass die Auswahl wirklich repräsentativ ist. Die von Bernward wäre noch repräsentativer.


    Viele Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Lieber Theophilus,


    du scheinst meinen Beitrag doch nicht aufmerksam genug gelesen zu haben, denn sonst hättest du gelesen, dass ich eine langsame Tempogestaltung als Eigenwilligkeit in eine Frage gekleidet habe, damit habe ich keine negative Wertung vorgenommen.


    Ach ja? du schriebst: "Na, dann will ich mal versuchen, Wolfram beizuspringen:
    Kann man nicht eine extrem langsame Tempogestaltung als Eigenwilligkeit bezeichnen?"


    Wenn du Wolfram "beispringen" willst, dann doch nur in seiner These von Böhms "Eigenwilligkeiten bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus", ansonsten macht dein Beitrag für mich nicht viel Sinn.



    Zitat

    Im Gegenteil habe ich schon früher, als ich noch nicht bei Tamino war, in einem anderen Forum die Dauer von Böhms Neunter Beethoven verteidigt, indem ich ebenfalls auf die passenden Temporelationen hingewiesen habe und auf die ungeheure Spannung, mit der Böhm diese Sinfonie 1980 dirigiert hat, desgleichen auf die Leistung des Orchesters und der Solisten.

    Na schön, also was jetzt? Ist Böhm jetzt bei dieser Aufnahme "eigenwillig bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus" oder nicht? Pro Wolfram oder contra Wolfram? ;)



    Zitat

    Was meine Durchschnittsschätzung anbetrifft, so habe ich mit 64 Minuten tatsächlich zu niedrig geschätzt, aber ich verwahre mich dagegen, meine Schätzung als absolut lächerlich zu bezeichnen. In der Tat weisen meine 30 Aufnahmen der Neunten einen Durchschnitt von 68:26 Minuten auf. Damit liege ich zwar über meiner Schätzung, aber auch du liegst über meinem Durchschnitt, den ich durchaus als repräsentativ bezeichnen möchte.

    Dann verwahrst du dich eben dagegen. Aber für mich ist die Behauptung der durchschnittlichen Spieldauer von 64 Minuten derart absurd und so offensichtlich falsch, dass ich das beim besten Willen nicht anders bezeichnen kann. Wenn man mit Zahlen argumentiert, sollte man ein Mindestmaß an Genauigkeit an den Tag legen. Wenn man aber so über den Daumen peilt wie du, dann zeigt das im günstigsten Fall von einer gewissen Geringschätzung des Diskussionspartners, wenn nicht sogar Schlimmeres. Und wenn dein "repräsentativer" Durschnitt jetzt doch bei 68:26 liegt und ich von "an die 70 Minuten" schrieb, wieviel Diskrepanz kannst du da erkennen? Im Vergleich zu deinen viereinhalb Minuten Unterschied zwischen Behauptung und Wirklichkeit? Dabei fehlen in deiner "repräsentativen" Sammlung offenbar die langsamen Aufnahmen von Klemperer und Bernstein.



    Zitat

    Ich bezeichne ja auch nicht deine Tempoangabe von Abbados Berliner Neunten als lächerlich, die ganz gewiss keine 72:40 gedauert hat, sondern 62:19 Minuten!!

    Da hat mir meine Quelle offenbar einen Streich gespielt. Dabei habe ich mich noch insgeheim gewundert, dass die beiden Aufnahmen nahezu identische Zeiten haben sollten, da in meiner Erinnerung Abbado ansonsten mit den Berlinern flotter unterwegs war als mit den Wienern. Aber ich war zu bequem, die Angabe mit einer zweiten Quelle zu überprüfen - mein Fehler.



    Zitat

    Noch einmal: Langsam für mich nicht negativ besetzt, so lange es spannungsvoll musiziert ist, das gilt auch für Barenboim und Celi.

    Schön, aber was wolltest du dann zur Diskussion beitragen? Sind Furtwängler, Klemperer und Böhm jetzt "eigenwillig bis an die Grenzen des Erträglichen und darüber hinaus" oder nicht?


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Theophilus,


    ich habe keine Lust, mich weiter mit dir herumzustreiten, will aber dann doch meine gesamten Aufnahmen auflisten und überlasse es dir zu beurteilen, ob sie repäsentativ sind oder nicht:
    Abbado (Berlin), Barenboim, Bernstein (New York), Bernstein (Wien), Blomstedt, Böhm, Celibidache, Cluytens, Dohnany, Fricsay, Furtwängler (Bayreuth), Gardiner, Harnoncourt, Hogwood, Järvi, Jochum, Karajan I, Karajan II, Klemperer (1957), Leppard, Mackerras (Edinburgh), Mackerras (Liverpool), Masur, Muti, Norrington, Rattle, Sawallisch, Walter, Wand, Zinman.


    Grüße aus dem Münsterland


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Bravo Willi!


    Von meinem Lieblingskomponisten fehlen mir zwar die GA von Celi, Fricsay, Furtwängler, Jochum, Masur und Leppard, aber dafür stehen Goodman, Leibowitz, Kempe, Gielen, Haitink, Solti (2 mal) und Herreweghe im Regal.


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Danke, lieber Bernward.


    Goodman und Leibowitz stehen auch noch auf meiner Warteliste, um die anderen müsste man sich vielleicht auch noch kümmern.

    Hast du übrigens auch die Schubert-GA von Goodman? Aus meiner Sicht ist sie auch empfehlenswert.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo Willi,


    habe neben Beethoven und Schubert von Goodman noch Haydn 93,94, 95: Weber Ouvertüren; Mozart Nr. 40, Kleine Nachtmusik u. Basset-clarinet Concerto und Mendelssohn Violinkonzert und Sinfonie 4.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Hallo


    Ohne "herumzustreiten" (wenngleich das vielleicht gerade das ist, was ein Forum interessant macht) möchte ich auch ein paar Worte zu Karl Böhm sagen.
    Zum einen, daß diese letzte Tonaufzeichnung von Karl Böhm völlig atypisch ist - und nicht als Beispiel herangezogen werden sollte. Als ich sie kurz nach ihrem erscheinen erstmals hörte war ich eigentlich entsetzt. Aber als ich sie vor einigen Monaten (sie wurde im Forum gelobt) wiederhörte, da hatte ich einen völlig anderen - positiveren Eindruck. Dennoch -kein typischer Karl-Böhm.


    Zum anderen. Man kann über Karl Böhm verschiedenes sagen, Zutreffendes- und weniger Zutreffendes - aber "Eigenwilligkeiten" - das kann man ihm eigentlich nicht nachsagen, schon gar nicht an die Grenze des Erträglichen. Im Gegenteil - Böhm pflegte einen sehr ausgewogenen Dirigierstil , oft wurde ihm (und auch das stimmt nicht) Mangel an Dynamik vorgeworfen. Sollte ich Böhms Dirigat mit drei wesentlichen Attributen beschreiben, so kämen hier "Elégance", "Swing" und "strahlender Klang" zum Einsatz. - "Eigenwilligkeiten" hat er sich keine geleistet.


    Auch ich sehe - im Zusammenhand dieser Erörterung - den Begriff "Eigenheiten" wertneutral . (die "Grenze des Erträglichen" jedoch weniger) Karl Böhm war die Mozartikone seiner Zeit - Das wird man nicht durch "Eigenwiliigkeiten" sondern durch feines Polieren des gängigen Mozartbildes. Natürlich könnte man auch sagen, dieses wäre durch Karl Böhm vorgegeben worden. Aber auch das stimmt nicht. Bruno Walter, Sir Thomas Beechham - und einge andere propagierten in jenen Tagen eine ähnliche Mozartauffassung.....


    mit freundlichen Grüßen
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zum anderen. Man kann über Karl Böhm verschiedenes sagen, Zutreffendes- und weniger Zutreffendes - aber "Eigenwilligkeiten" - das kann man ihm eigentlich nicht nachsagen, schon gar nicht an die Grenze des Erträglichen.


    Sei es, wie es sei.


    Lasst uns zum Ausgangspunkt zurückkehren. Ich gehe davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass sich die Interpretationen von Furtwängler, Klemperer und Böhm stark unterscheiden - sei es nun der Don Giovanni, die Zauberflöte, Beethovens 3. oder 9., Bruckners 4., Strauss' Don Juan und was wir noch von allen dreien im Regal stehen haben mögen.


    Ich gehe weiter davon aus, dass wir die Unterschiede zwischen Furtwängler, Klemperer und Böhm als stärker wahrnehmen denn die Unterschiede zwischen - sagen wir - Norrington, Hogwood und Goodman in ihren ersten Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien.


    Falls Ihr darin übereinstimmt: Auf welcher Seite wäre dann die Wahrscheinlichkeit von Eigenwilligkeiten größer - Furtwängler/Klemperer/Böhm oder Norrington/Goodman/Hogwood?


    Es sei noch einmal betont: Es genügt, wenn zwei von den dreien (Fu, Klemp, Böhm) eigenwillig interpretieren, um die These zu stützen.

  • Ich nenne es mal nicht Eigenwilligkeiten, sondern Unterschiede. Und die gibt es zwischen Kleiber Vater und Sohn und Harnoncourt.
    Hier die Vergleichsbeispiele:


    Und da sage noch einer, alles klingt gleich. Dieselben Stücke von drei unterschiedlichen Dirigenten und Orchestern mit starken Interpretationsunterschieden aber dennoch jede auf ihre Weise stimmig.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Aus gegebenem Anlass grabe ich diesen Thread nach 4 Jahren Pause wieder aus:


    Joe Doe schrieb in einem anderen Thread:


    Zitat

    Jedoch sind mir im Laufe der Jahre in Sachen HIP einige Widersprüche aufgefallen, die je energischer, je absoluter HIP propagiert wird umso deutlicher werden:
    einer liegt im schon fast krampfhaftem Festhalten an der kleinen Besetzung, ein anderer an der Ausdehnung von HIP aufs 20. Jahrhundert, wo sie den Komponisten als Interpreten ignoriert und der letzte am Originalinstrument als solchem.


    Ich habe dort versprochen, das Thema wieder aufzugreifen - allerdings im richtigen Thread: Voilá......


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ..zugegeben, ich las nur einen Teil der Beiträge.
    Der Hut ging mir aber hoch als ich las, dass HIP mit Einschränkung des Ausdrucks einherginge.
    Das Gegenteil ist doch der Fall!
    Wird hier denn noch immer verwechselt, dass Instrument und Aussage zwar Hand in Hand geht, aber dass Ausdruck eigentlich gar nicht beschränkbar sein kann?
    Weder für Befürworter des HIP noch für die, die sich anmaßen, dass allein Plastiksaiten Maß aller Dinge sein können.
    Um den Ausdruck geht es doch!
    Um den, der mit spezifischen Mitteln erzeugt wird.
    Mit denen, die ein Komponist zur Verfügung hatte. Für die er dachte, für die er hörte.
    Egal für die Wahl der Mittel: der Ausdruck zählt.


    Und was zählt für den Ausdruckl? Der Eindruck- also wir als Zuhörer.
    Und wir sind heute anders als die von vor ein paar hundert Jahren- so gleich wir uns auch sein mögen.
    "Uulen un Oopen komm vom Barch jekropen"- was unterscheidet uns von Eulen und Affen?
    Scheinbar die Fähigkeit, Vorurteile zu entwickeln und uns nicht darauf einzulassen, was andere wollten, hörten, genossen und gut fanden.
    Mozart fand seine Instrumente gut! Passend und perfekt. Haydn das Cembalo sogar mehr als das Hammerklavier. Beethoven litt immer an unzureichendem Klang- wäre das heute anders? Brahms bevorzugte Farben statt Perfektion- der im Sinne des ausgeglichenen Eineitsbreis, der hier so präferiert wird.


    Jetzt soll's mal wieder gut sein! Bitte!
    Manche Musiker bevorzugen Instrumente, die den Klangvorstellungen des Komponisten nahekommen, andre versuchen es anders.
    Interpreten bevorzugen Mittel, Komponisten vor allem. Immer die, die vorhanden sind.
    Besser oder schlechter ...das zu beurteilen sagt nur etwas über unsere Unfähigkeit, flexibel zu sein und das zu achten, was uns geboten wird.


    Ich würde gern vor allem eins bleiben und vor allen Dingen, ich kann nichts anderes: ZUHÖRER.


    Mike

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  • Um etwaige Missverständnisse von vorne herein aus dem Weg zu räumen, sämtliche orchestrale und konzertante Musik bis ungefähr 1850 höre ich bevorzugt in HIP. Zum einen ist das Angebot übersichtlicher, zum anderen kann ich auch bis dahin der HIP-Argumentation uneingeschränkt folgen. Nichtsdestotrotz begann mich die letzten Jahre eine gewisse ideologisch - dogmatische Verbissenheit, der fast schon krampfhafte Zwang, auf Teufel komm heraus anders zu sein, als die anderen und das Herumreiten auf Petitessen, die letztendlich für das musikalische Geschehen belanglos sind, zu irritieren.



    Und je verbissener nun die dogmatische Trommel gerührt wird, desto deutlicher offenbaren sich auch gewisse Widersprüche in der HIP, deren erster in der Frage nach der Besetzungsstärke liegt.
    Soweit ich verstanden habe, möchte HIP die Musik so zum erklingen bringen, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung geklungen hat, möchte also gleichsam wieder die Uraufführungssituation darstellen. (Schoonderwoerd begründet seine kammermusikalische Fassung der Beethovenschen Klavierkonzerte mit einer Vorab-Premiere eines solchen im Salon eines Gönners, die in dieser Orchesterstärke gegeben wurde.)
    Warum wird dann gerade von den dogmatischsten HIP-Vertretern die Uraufführungsbesetzung gewisser Werke hartnäckigst ignoriert?


    So sind beispielsweise Beethovens 7., 8. und 9. Sinfonie in großer Besetzung uraufgeführt worden. Bei den ersten beiden waren ca 80 Musiker beteiligt, bei der 9. ca. 100 ohne Solisten und Chor.
    Oder Haydns Schöpfung und Jahreszeiten und seine Pariser Sinfonien, oder die Oratorien Händels, die schon zu seinen Lebzeiten deutlich größer besetzt aufgeführt worden sind.


    Einzig Hogwood hat dies zumindest bei seinen Beethoven und Haydn-Aufnahmen berücksichtigt und Pinnock bei einer Aufnahme der Feuerwerksmusik von Händel.


    Für mich jedenfalls wird die Sache dann fragwürdig, wenn die Realität der Ideologie, dem Dogma angepasst werden soll. Und eine historische Tatsache ist für mich Realität.


    John Doe
    :)

  • Der angebliche Dogmatismus ist m.E. größtenteils eine Sache der 70er (und frühen 80er) Jahre gewesen, als HIP wirklich noch eine Außenseiterposition gewesen ist. In den letzten 25 Jahren haben fast alle bekannteren HIP-Dirigenten auch Orchester mit modernen Instrumenten dirigiert und zumindest ein Teil dessen, was man vor 30 Jahren vielleicht noch HIP-Manierismen genannt hätte, wird inzwischen verbreitet auch von Musikern, die mit alten Instrumenten nie etwas zu tun hatten, umgesetzt.


    Warum sind die Uraufführungsbesetzungen nicht besonders relevant? Weil sie oft eher zufällig sind. Weder waren Minimalbesetzungen, auf die sich Schoonderwoerd bezieht, die Norm (sondern das gab es nur bei halbprivaten Gelegenheiten, wenn nicht mehr Platz oder Musiker zur Verfügung standen), noch Monumentalbesetzungen wie bei Händel-Festaufführungen oder auch die luxuriöse Besetzung des Pariser Orchesters. Es ist doch eine falsche Pedanterie, die Besetzung einer Uraufführung als Maßstab zu nehmen, wenn man genau weiß, dass die Besetzungen für Aufführungen der Werke nur wenig später, *sehr* unterschiedlich sein konnten.


    Das gilt auch für die meiste Barockmusik. Concerti grossi wurden sowohl als Kammermusik in solistischer Besetzung gespielt, als auch bei repräsentativen Gelegenheiten mit dutzenden oder hunderten von Musikern. Es wäre einfach pseudo-historisch zu behaupten, die Urauführungsbesetzung sei die (einzige) korrekte. Oder nehmen wir die Feuerwerksmusik. Dem Vernehmen nach bevorzugte Händel selbst von vornherein die Fassung mit Streichern und Bläsern, aber der König wollte eine bombastische Besetzung mit "warlike instruments" und für die Freilufaufführung waren die sicher auch besser geeignet.


    Weitere Gründe sind folgende: Kleine Besetzungen sind billiger (das gilt heute genauso wie damals). Kleine Besetzungen zeigen sehr deutlich den Unterschied zu traditionellen großbesetzten Interpretationen. Und man kann wohl kaum bestreiten, dass "Leichtigkeit", "Schlankheit" und Beweglichkeit nach wie vor der Kern sehr vieler historisierender Lesarten sind. Auch wenn es vielleicht nicht mehr so herausgestellt wird, fallen Schlagworte wie "entschlackt", "ohne Patina", "unromantisch" usw. immer noch in beinahe jeder Rezension...
    Die rasanten Tempi, die Transparenz, auch das Herausarbeiten von Details sind natürlich mit einem hochprofessionellen Chor mit zwei bis drei Sängern pro Stimme sehr viel leichter umzusetzen (bzw. mit einem großen Chor praktisch unmöglich).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Johannes Roehl schrieb:

    Zitat

    ....und zumindest ein Teil dessen, was man vor 30 Jahren vielleicht noch HIP-Manierismen genannt hätte, wird inzwischen verbreitet auch von Musikern, die mit alten Instrumenten nie etwas zu tun hatten, umgesetzt.


    GANAU DAS ist es, was ich in diesem Thread anprangere !!!!
    Das einzig interessante an "HIP" waren die alten Instrumente. Deshalb habe ich einst (ca 1975 +-) auch zahlreiche Schallplatten von Harmonia mundi gekauft, mit dem Collegium aureum, aufgenommen im Zedernsaal des Schlosses Kirchheim und ähnlich beschaffenen Räumen. Alles war edel und erlesen - sogar die Prospekte.
    Irgendwann haben dann andere Musikergenerationen die Instrumente so traktiert, daß es einem in den Ohren weh tat.
    Jegliche Schönklang wurde vermieden - das war dann angeblich der Originalklang vergangener Jahrhunderte.
    Irgendwann meinte man dann, die originale Instrumente seien eigentlich nicht so wichtig, sonderen die Spielart. Man begann die rabiaten, unschön klingenden Spieltechniken auf moderne Instrumente zu übertragen. und da sind wir heute angelangt.
    Alles was oft von HIP geblieben ist, ist die ANGEBLICHE Spieltechnik, welche alles andere als betörend klingt.
    Eine Verfälschung a la Regietheater: Hauptsache anders: Romeo und Julia in Wolfsburg (igitt igitt) statt in Verona.......mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Vor 30 Jahren hatten die damaligen HIP-Musiker genau so wenig Ahnung von historischen Instrumenten und deren Spielweise gehabt wie die, die heute damit beginnen - sie wuchsen hinein. Warum sollte man nicht mit modernen Instrumenten historisch informiert spielen?


    Mich plagen eher die Musiker und Ensembles, die nur noch alles munter und flott herunterspulen ohne innere Beteiligung und ohne Seele, Hauptsache es klingt drahtig und knallig. Bestes Beispiel ist hier wieder die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi.


    Ein weiterer schlimmer Fall: Nikolaus Harnoncourt. Bei den diversen Tempoverrückungen und Verzerrungen seit Mitte der 2000er Jahre frag ich mich, wie viele theoretische Äußerungen und Beschäftigungen mit den Originalpartituren so gar nicht konform sind mit den Interpretationen des Dirigenten.



    :hello: LT

  • Der angebliche Dogmatismus ist m.E. größtenteils eine Sache der 70er (und frühen 80er) Jahre gewesen, als HIP wirklich noch eine Außenseiterposition gewesen ist

    Das Dogmatische ist durchaus noch da, bei manchem HIPen Dirigenten so stark, dass er nicht nur die mit traditionellem Orchester arbeitenden Interpreten durch die Blume des Falschspiels bezichtigt, sondern auch seine Kollegen in der HIP.

    Weitere Gründe sind folgende: Kleine Besetzungen sind billiger (das gilt heute genauso wie damals). Kleine Besetzungen zeigen sehr deutlich den Unterschied zu traditionellen großbesetzten Interpretationen. Und man kann wohl kaum bestreiten, dass "Leichtigkeit", "Schlankheit" und Beweglichkeit nach wie vor der Kern sehr vieler historisierender Lesarten sind. Auch wenn es vielleicht nicht mehr so herausgestellt wird, fallen Schlagworte wie "entschlackt", "ohne Patina", "unromantisch" usw. immer noch in beinahe jeder Rezension...

    Die Kostenfrage ist meines Erachtens überschätz, wäre sie nämlich wirklich so von Belang, dann hätten wir ja die großen Orchester gar nicht. Und entschlackte, hoch bewegliche unromantische Interpretationen funktionieren auch mit großer Besetzung und das schon sehr lange. Man braucht sich doch nur Toscanini, Scherchen oder Leibowitz anhören oder um in der reinen HIP zu bleiben eben Hogwood.


    So begrüßenswert es war, dass HIP die Besetzungsfrage gestellt hat, so fragwürdig ist meiner Meinung nach aber auch das sture Festhalten an kleinen und kleinsten Besetzungen. Meiner Meinung nach sind das alles nämlich nur Minimalbesetzungen, denen gegenüber eine Maximal- und eine Idealbesetzung steht, wobei letztere weder die Traditionalisten noch die HIPen interessiert, regelt das doch eh meist der Toningeneur.


    John Doe
    :)


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  • Das Dogmatische ist durchaus noch da, bei manchem HIPen Dirigenten so stark, dass er nicht nur die mit traditionellem Orchester arbeitenden Interpreten durch die Blume des Falschspiels bezichtigt, sondern auch seine Kollegen in der HIP.


    Ja, und Celibidache meinte, Karajan hätte nie in seinem Leben eine Note Musik gemacht. Klappern gehört zum Handwerk. Harnoncourt, Hogwood, Norrington, Gardiner... nahezu alle bekannten HIP-Dirigenten dieser Generationen haben auch mit großen Orchestern auf modernen Instrumenten zusammengearbeitet.


    Zitat


    So begrüßenswert es war, dass HIP die Besetzungsfrage gestellt hat, so fragwürdig ist meiner Meinung nach aber auch das sture Festhalten an kleinen und kleinsten Besetzungen. Meiner Meinung nach sind das alles nämlich nur Minimalbesetzungen, denen gegenüber eine Maximal- und eine Idealbesetzung steht, wobei letztere weder die Traditionalisten noch die HIPen interessiert, regelt das doch eh meist der Toningeneur.


    Die Kostenfrage ist keinewegs irrelevant. Die großen Orchester gab es ja eh schon und die meisten HIP-Ensembles sind nach wie vor nicht permanent (das war in den 60ern- 80ern noch weit stärker der Fall), sondern die Musiker sind freiberuflich in mehreren Ensembles tätig bzw. hatten früher die meisten noch eine traditionelle Festanstellung in einem herkömmlichen Orchester. Um eine HIP-Aufführung oder -Aufnahme der Feuerwerksmusik mit 24 Oboen und 12 Hörnern zusammenzubringen, musste man vor 20 Jahren einen größeren Teil der HIP-Oboisten der ganzen Welt zusammentrommeln, vermute ich mal...


    Zwar ist es in vielen Fällen immer noch umstritten (etwa in der Streitfrage um Bachs "Chor"), aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Argumente dafür, dass bis in die 70er und 80er auch im HIP-Lager noch falsche Ideen über Besetzungen einfach mitgeschleppt wurden. Es würde heute niemand mehr auf die Idee kommen, Madrigale aus dem 16. oder frühen 17. Jhds. chorisch statt solistisch zu besetzen. Und während, wie oben gesagt, barocke Concerti sehr unterschiedlich besetzt sein konnten, scheinen kammermusikalisch/solistische Besetzungen eher der Normalfall gewesen zu sein.
    Schließlich war selbst vor der HIP-Bewegung eine Kammerorchesterbesetzung für barocke Konzerte oder frühe Haydn-Sinfonien verbreitet üblich (selbst wenn das oft immer noch dreimal so viele Musiker waren wie bei einer heute oft üblichen (nahezu) solistischen Besetzung).


    Wenn nun historische Belege, ästhetische Präferenzen und ökonomische Zwänge zusammenkommen, ist es kein Wunder, dass sich solche kleinen Besetzungen etablieren.


    Was nun symphonische Werke des 19. Jhds. betrifft, ist es m.E. nahezu ausschließlich eine ästhetische Vorliebe. Es soll alles "entschlackt", "transparent" usw sein. Und während man kaum bestreiten kann, dass z.B. die angeblich problematische Instrumentation Schumanns sich durch solche Interpretationen als weitgehend haltloser Vorwurf erwiesen hat, ist es in anderen Fällen eine ästhetische Präferenz, die den Werken aufgedrückt wird, ohne dass man gute Anhaltspunkte hat, ob sie der Entstehungszeit und der Musik gerecht werden.

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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    (von John Doe) Einzig Hogwood hat dies zumindest bei seinen Beethoven und Haydn-Aufnahmen berücksichtigt und Pinnock bei einer Aufnahme der Feuerwerksmusik von Händel.


    Was ist mit Niquets Wassermusik, mit Kings Feuerwerksmusik, mit McCreeshs Creation, mit....?
    Wenn an dieser Stelle selbst Besetzungen in der Größenordnung von 200 Musikern als unzureichend angesehen werden, wird sich wohl keine zufriedenstellende Aufnahme finden.



    Zitat

    (von Johannes Roehl) die Musiker sind freiberuflich in mehreren Ensembles tätig


    ...und stünde für den Einzelnen nicht die Freude an der Sache, sondern ökonomische Überlegungen im Vordergrund, gäbe es diese gar nicht so seltenen Monsteraufführungen nicht. Da besteht ein gravierender Unterschied etwa zur Situation der subventionierten deutschen A- und B-Orchester.



    Zitat

    (von Johannes Roehl) dass bis in die 70er und 80er auch im HIP-Lager noch falsche Ideen über Besetzungen einfach mitgeschleppt wurden. Es würde heute niemand mehr auf die Idee kommen, Madrigale aus dem 16. oder frühen 17. Jhds. chorisch statt solistisch zu besetzen.


    Wobei zugleich zunehmendes laissez-faire zu beobachten ist. Wurden zu einem bestimmten Ort & Zeitpunkt Theorben als Continuoinstrumente eingesetzt? Egal!
    Wurde das Werk für die Hofmusiker in Versailles, Bonn oder Rudolstadt verfasst? Who cares?
    Darüber hinaus genehmigt man sich i.A. mittlerweile wesentlich mehr improvisatorische Freiheiten als noch in den 80ern, dies durchaus auf die Quellenlage gestützt. Insofern dämpfen sowohl die Forschungsentwicklung als auch die allgemeine "Arrivierung" / Etablierung von HIP möglichen Dogmatismus (der nach meinen Eindruck ohnehin nie so ausgeprägt war, wie von Freunden der Konfrontation gerne behauptet wurde).

  • Eigentlich sind wir ein wenig vom eigentlichen Thema abgekommen, nämlich von der Frage, ob HIP nur als Deckmantel benutzt wurde. um eigene, rhythmisch am ehesten der Moderne verpflichteten Klangbilder der Musik einzuführen, was ansonsten nie gelungen wäre. Der Deckmantel hat seine Schuldigkeit getan - die "modernen" Orchjester spielen nun genau diese Richtung.
    Aber natürlich ist das "Nebenthema" ebenfalls interessant. Ich glaub, daß man es in früheren Zeitaltern (Barock, Rokoko) mit Besetzungsfragen nicht allzu genau genommen hat. Man musste sich nach den gegebenen Umständen und Möglichkeiten richten. Die Interpreten der späteren Zeitalter nahmen es ebenfalls nicht so genau. Sie spielten die Stücke mit dem jeweils der neuesten Zeit entsprechendem Instumentarium. Historisches Bewusstsein war im Großen und Ganzen eher nicht die Stärke des 19. Jahrhunderts. Davon zeugen auch die oft unsensiblen Restaurierungen alter Gemälde.
    Mich persönlich interessieren historische instrumente - nicht aber VORGEBLICHE alte Spieltechniken, die so gar nicht nach Barock und Rokoko klingen wollen. Allerdings, ab den späten Mozart Klavierkonzerten bevorzuge ich heutige Instrumente.
    Und hier gibt es wieder eine Einschränkung (oder vermutlich mehrere): Wer noch nie eine Schubert-Klaviersonate auf einem alten Füge (z.B. Graf oder Broadwood) gehört hat, der kennt nur den halben Schubert.....
    Im Falle von Beethoven, der mit den Klavieren seiner Zeit stets unzufrieden war, würde ich das nicht sagen....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Historisches Bewusstsein war im Großen und Ganzen eher nicht die Stärke des 19. Jahrhunderts.

    Das 19. Jahrhundert war geradezu durchdrungen vom "historischen Bewußtseins". Warum hätte sonst Freidrich Nietzsche 1874 eine Schrift verfaßt, wo er ein "Zuviel" an historischem Bewußtsein beklagt: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben - die zweite der "Unzeitgemäßen Betrachtungen". Das historische Bewußtsein war so fest verankert, dass Reflexionen darüber "unzeitgemäß" waren. Nietzsche unterscheidet dort drei Formen des historischen Bewußtseins: die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie. Mir scheint, dass die Romantik eher die Form der "monumentalischen" Historie bevorzugte (die Darstellung des Erhabenen und Großen als Wiederholbarem), wogegen die HIP-Bewegung des 20. Jhd. mit Nietzsche eine Form der "antiquarischen" Historie ist - d.h. der Wertschätzung des Alten, ganz so wie es einst faktisch gewesen ist (dazu gehört das Sammeln von Briefmarken, alten Autos, besonders im alten England beliebt, wo es sogar ein Festival für die Liebhaber von historischen Landmaschinen gibt :D ). Jeder dieser Formen ist einseitig praktiziert lebenszerstörend. Wenn die HIP-Bewegung meint, es müsse die kleine Uraufführungsbesetzung sein, dann mißachtet sie eben das Monumentalische, was so verloren geht und die kritische Historie, die einen Neuanfang macht, um sich vom Ballast der Vergangenheit zu befreien.


    Aktuell bei jpc zu haben diese HIP-Aufnahme des Schumann-Klavierkonzerts. Schon der mechanistisch gespielte Anfang ist einfach zum Weglaufen. Das Orchester ist so affektiert rhetorisch, dass es sich mit rhetorikkritischer Romantik nur so beißt. Diese Schrulligkeit geht an Schumann komplett vorbei. Da reichen mir die Hörschnipsel, dass ich mir so etwas nicht weiter anhöre.



    https://www.jpc.de/jpcng/class…dio-cd-1-dvd/hnum/8130663


    Schöne Grüße
    Holger

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