Heute vor einem Jahr starb Pierre Boulez
Als das Magazin DER SPIEGEL 1967 mit Pierre Boulez ein Interview führte und dabei den Inhalt eines Halbsatzes von Boulez - »Sprengt die Opernhäuser in die Luft« - als Headline verwendete, war das fortan so eine Art Markenzeichen für den Komponisten und Dirigenten geworden. Im Original las sich das so:
»Die neuen deutschen Opernhäuser sehen zwar sehr modern aus -- von außen; innen sind sie äußerst altmodisch geblieben. In einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird, da kann man doch nur mit größten Schwierigkeiten moderne Opern bringen -- das ist unglaubwürdig. Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, dass dies die eleganteste wäre?«
Groteskerweise hatte dieses Interview noch Jahrzehnte später Folgen. Morgens um halb sieben stürmten Schweizer Beamten in das 5-Sterne-Hotel, in dem der damals75-jährige Dirigent residierte. Anscheinend war Pierre Boulez' Ankündigung, man solle alle Opernhäuser sprengen, den Behörden Anlass genug, ihn in eine Liste von verdächtigen Personen aufzunehmen. Dass diese Äußerung schon ein paar Jahre alt und nur symbolisch gemeint war, nahm ihr offensichtlich nichts von ihrer Bedrohlichkeit. Nach ein paar Stunden bekam der Dirigent aber seinen Pass wieder zurück und die Behörden entschuldigten sich.
Boulez wurde am 26. März 1925 in Montbrison, westlich von Lyon gelegen, als Sohn eines wohlhabenden und sehr katholischen Stahlindustriellen geboren. Er verbrachte seine Kindheit in der Jesuitenschule am Ort. Der peinlich genaue Zeitplan der Erziehungsanstalt gewöhnte den Jungen an eine eiserne Disziplin, die er auch in seiner musikalischen Arbeit ein Leben lang beibehielt. Bereits als Junge entwickelte er nicht nur eine Leidenschaft für die Musik, sondern auch für die Wissenschaften. Nach seinem Schulabschluss begann er zunächst ein Studium der Mathematik in Lyon, bevor er sich Mitte der 1940er Jahre schließlich doch am Pariser Konservatorium für Komposition einschrieb.
1943 wurde er Schüler von Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium, studierte dann bei der Pianistin Andrée Vaurabourg, Arthur Honeggers Frau, und dem Dirigenten René Leibowitz. Zunehmend stellte Boulez die bürgerliche Klassik mit ihren festgefahrenen Formen infrage und erklärte sogar Schönberg für »tot«.
Boulez wollte einen radikalen Gegenentwurf entwickeln und brach das Studium schließlich ab. Anfang der fünfziger Jahre entdeckte der reformfreudige Komponist, dass sich in Deutschland ganz moderne Strömungen entwickelten. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt und die Donaueschinger Musiktage waren ganz nach Boulez´ Geschmack ausgerichtet. Boulez schloss sich seinen Kollegen Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Luigi Nono und dem Philosophen Theodor W. Adorno an und sog begierig neue Strömungen und Ideen auf. Ähnlich wie Stockhausen, wurde auch Berlioz in Darmstadt Dozent. 1955 gelang ihm mit der Kantate »Le marteau sans maître« (Der Hammer ohne Meister) ein anerkanntes Werk. Schwierigkeiten hatte er mit der Kulturpolitik seines Heimatlandes, was sogar dazu führte, dass er die Aufführung seiner Werke in Frankreich verbot und sich seine neue Heimat in Baden-Baden suchte.
Mitte der 1950er Jahre vollzog sich für Boulez ein Wechsel, der ihn vom Komponieren zum Dirigieren führte. Da sich die Dirigenten dieser Zeit nicht gerade um das Dirigieren neuer Musik rissen, nahm er die Sache selbst in die Hand, auch seine Dirigentenausbildung. So dirigierte er auch ohne Dirigentenstab und mit sparsamen Bewegungen ohne große Geste.
Das wohl spektakulärste Ereignis seiner Dirigententätigkeit dürfte der sogenannte »Jahrhundertring« in Bayreuth gewesen sein. Bereits 1966 dirigierte er dort »Parsifal« und in den folgenden Jahren auch andere Wagner-Werke; Boulez war also 1976 auf dem Hügel kein Unbekannter Neuankömmling.
Patrice Chéreau inszenierte das Werk 1976 zum hundertjährigen Jubiläum der Uraufführung in Bayreuth. Das war ein Affront gegen die gewachsenen Traditionen in Bayreuth, die Figuren in einen theatralischen, handlungsreichen Kontext zu stellen, der noch dazu durch Bühnenbild und Kostüme sich dem zeithistorischen Hintergrund Richard Wagners näherte. Da außerdem Pierre Boulez detailversessen an der Transparenz des Orchesterklangs arbeitete und den Pomp früherer Aufführungen nicht übernehmen wollte, gingen die Emotionen hoch.
Boulez reduzierte den Klang stellenweise auf kammermusikalische Zartheit. Das störte die Musiker des Bayreuther Orchesters, die zunächst mit einer Initiative an den Festspielleiter Wolfgang Wagner herantraten, der es ihnen erlauben sollte, laut zu spielen. Im Laufe der fortschreitenden Arbeit mit Boulez, zeigten sich auch die zunächst negativ eingestellten Musiker versöhnlich und wurden sukzessive von Boulez´ ernsthafter und minutiöser Arbeit überzeugt.
Schließlich war auch das Publikum von diesem Konzept voll begeistert, denn nur so lässt sich ein Applaus von 90 Minuten Dauer bei der letzten Aufführung erklären.
Heute steht fest, dass Pierre Boulez einer der wichtigsten Dirigenten seiner Generation war. Zahlreiche Orchester von Weltrang, wie das BBC Symphony Orchestra in London oder die New Yorker Philharmoniker, machten ihn zu ihrem Leiter. Bei anderen Orchestern, in Wien und Berlin, gastierte er regelmäßig.
Längst hatte er sich mit Frankreich wieder versöhnt und gründete Ende der siebziger Jahre in Paris das »Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique«, kurz IRCAM, das sich der Erforschung der musikalischen Elektronik und Elektroakustik widmet; es gilt heute als kreatives Zentrum der Neuen Musik. 1976 gründete Boulez in Paris mit Ensemble Intercontemporain eines der wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik.
Anlässlich des 90. Geburtstags des Komponisten - er verstand sich in erster Linie als Komponist -wurde ihm bei einem seiner Konzerte im Festspielhaus Baden-Baden die Urkunde der Ehrenbürgerschaft überreicht.
Bei der für die Öffentlichkeit zugänglichen Trauerfeier in der Stiftskirche, sagte Baden-Badens Oberbürgermeisterin Margret Mergen in ihrem Nachruf unter anderem:»Er nahm kein Blatt vor den Mund, er vermied jegliche Routine, er hat die Musikwelt aufgemischt und neue Maßstäbe gesetzt. Er zeigte uns allen immer wieder: Musik kann auch anders sein.«
Die offizielle Trauerfeier fand in Paris in Saint Sulpice statt. Saint-Sulpice ist eine katholische Kirche im 6. Arrondissement im Pariser Saint-Germain-des-Prés.
Praktischer Hinweis:
Friedhofstraße 46
76530 Baden-Baden
Die Grablage ist auf dem Friedhofsplan mit der Nr. 7 gekennzeichnet, man geht vom Verwaltungsgebäude aus - sich etwas links am Feld 15 orientierend - nach oben zu einem querlaufenden breiten Weg.
Anmerkung: Bei YouTube sind zurzeit zwei Filme von Trauerfeier und Begräbnis eingestellt, der Filmautor ist Volker Hoffmann.