Im Widerspruch zur Partitur - Erlaubt ist, was gefällt ? ! ?

  • Dieser Thread hier wurde angeregt durch einige Statements von Wolfram im vorzüglichen Thread


    Interpretations-Ideale – am Beispiel der 2. Sinfonie von Beethoven



    wo Wolfram gelegentlich Dirigenten zubilligt eine beeindruckende Wirkung zu erzielen - aber auf Kosten der Partitur.


    Man hätte über diesen Aspekt auch im oben zitierten Thread schreiben können - aber das wollte ich bewusst nicht - denn dieser Thread - beinahe im Alleingang bestritten (ein weiteres Mitglied hat seine Mitwirkung angekündigt) ist eine der Sternstunden des Tamino Klassikforums und knüpft nahtlos an die "große Vergangenheit" unseres Forums an. Sternstunden möchte ich jedoch keineswegs unterbrechen, daher hier dieser Thread der ein Seitenthema behandelt - und ich weiß genau auf welch dünnes Eis ich mich mit dieser Thematik begebe, und welche Möglichkeiten ich meinen "Kontrahenden " hier eröffne.... :D


    Vorerst möchte ich aber noch anregen das Thema: Interpretations Ideale am Beispiel von.... gelegentlich fortzusetzen - und so allmählich eine Serie daraus zu Schaffen. Mir ist bewusst welche Arbeit hinter diesem Thread steckt - daher wären schon 2-3 Folgen pro Jahr ein tolles Geschenk ans Forum....


    Zurück zu unserem Thema


    Die Frage sollte eigentlich lauten inwieweit das Anpassen der Partitur an den jeweiligen Publikumsgeschmack zulässig ist, bzw ob auch Anpassungen gegen den Publikumsgeschmack zulässig sind. Ferner ergibt sich daraus die Frage wo denn - wenn man die Frage bejaht - hier die Grenzen seien, bzw, wenn man die Frage verneint, was denn dann die Konsequenzen wären. Eine "Einheitsinterpretation" - abgesegnet durch eine wissenschaftliche Komission oder ein Experten-Computerprogramm ?


    Wir müssen uns schon vor Augen halten, daß URSPRÜNGLICH das Abweichen von der Partitur ein "Betriebsunfall" war, hervorgerufen durch die ungenügende Eindeutigkeit der Notenschrift, bzw die Tatsache, daß manches gar nicht aufgeschrieben wurde, weil es als "allgemein bekannt" vorausgesetzt wurde. Im Laufe der Zeit - kaum jemand hatte diese Beständigkeit der "klassischen" Musik vorhergesehen ist aber dieses Wissen - so es überhaupt je existierte - verlorengegangen und maches musste eben "interpretiert" werden - woraus sich im Laufe der Zeit eine eigene Kunstform entwickelte. Gelegentlich wird auf Konzertprogrammen und CD-Covern der Name des Interpreten bereits grösser gedruckt, als jener des Komponisten....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    Auch in diesem Thread lauert wieder die Gefahr der Verallgemeinerung.


    Eine Anpassung an einen Publikumsgeschmack hat wohl nie stattgefunden. Aber ein untrügliches Gespür für diesen muss man einigen Interpreten zugestehen.

  • Ich zitiere einmal den Dirigenten Douglas Bostock (im Beiheft zu den Schumann-Sinfonien):

    Zitat

    Es wurde angestrebt, Schumanns durchaus nicht unklare Intentionen ohne instrumentatorische Retuschen und in strikter, aber nicht sklavischer Befolgung seiner musikalischen Weisungen, was Dynamik, Phrasierung, Tempo (Metronomangaben) und Wiederholungen betrifft, musikalisch überzeugend umzusetzen.


    Hervorzuheben sind die Aussagen "strikt, aber nicht sklavisch" und "musikalisch überzeugend".


    Dieser Spagat sollte, in Anlehung an das, was Thomas schrieb, das "Credo" eines jeden Interpreten sein und ihm genügend Spielraum für die eigene Individualität liefern.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Lieber Alfred,


    vielen Dank für Deine Worte!


    Die Frage sollte eigentlich lauten inwieweit das Anpassen der Partitur an den jeweiligen Publikumsgeschmack zulässig ist, bzw ob auch Anpassungen gegen den Publikumsgeschmack zulässig sind. Ferner ergibt sich daraus die Frage wo denn - wenn man die Frage bejaht - hier die Grenzen seien, bzw, wenn man die Frage verneint, was denn dann die Konsequenzen wären. Eine "Einheitsinterpretation" - abgesegnet durch eine wissenschaftliche Komission oder ein Experten-Computerprogramm ?


    Im Laufe der Zeit - kaum jemand hatte diese Beständigkeit der "klassischen" Musik vorhergesehen ist aber dieses Wissen - so es überhaupt je existierte - verlorengegangen und maches musste eben "interpretiert" werden - woraus sich im Laufe der Zeit eine eigene Kunstform entwickelte.


    Egal, in welche Richtung man hier argumentieren wird - vermutlich wird es keine völlige Einigung geben -: Würde für Regisseure dann dasselbe gelten wie für Dirigenten?


    Also entweder partiturtreu mit der von Dir beschriebenen Gefahr der Einheitsinterpretation, die formal beschreibbar wäre und von einem "dummen" Computerprogramm auf Richtigkeit geprüft werden könnte oder aber mit der Lizenz für "Anpassungen" des Partiturtextes - für Dirigenten wie für Regisseure?

  • Selbstvertändlich muss dem Dirigenten ein Grad an Interpretationsfreiheit zugestanden, ja sogar angeraten werden. Er ist ja kein Metronom, der ein Werk mechanisch herunternudelt, sondern ein kreativer Künstler, der die Partitur durchdenkt, auslegt u. U. neu deutet, zumindest sollte er dies tun. Ein solches Erlebnis hatte ich bei einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie. Üblicher Weise wird die Komposition in einem dramaturgischen Spannungsbogen hin zum letzten Satz als grandioser Höhepunkt mit Einsatz des Chores aufgebaut. Der Dirigent dieser Auführung arbeitete jedoch bereits im ersten Satz unübliche musikalische Steigerungen heraus. Alle Sätze bekamen in dieser Interpretation eigenes, glleichwertiges Gewicht. Dies nahm dem Schlusssatz etwas von seiner dominierenden Wucht. Zunächst war ich etwas irritiert. Da es aber einen Mitschnitt von diesem Konzert gibt hörte ich die Aufführung mehrmals an. Dadurch bin ich zu der Meinung gelangt, diese Auffassung ist schlüssig und erschließt die Bedeutung aller Sätze besser, als eine zu starke Konzentration auf den Schlusssatz. Ein Beispiel überaus gelungenener, legitimer Interpretation weg vom Gewohnten hin zu "eigenschöpferischem " Gestalten.


    Diese Praxis muss auch Regisseuren zugestanden werden. Das Problem ist nur, dass diese sich oft mit eigener Deutung des Werkes im Rahmen der Handlung und seiner zeitlichen Einordnung nicht benügen. Es geht so weit, dass sie das Werk verändern, die Handlung auf den Kopf stellen und sogar weiter- oder umdichten. Genau hier beginnnen die Probleme, die wir in unserer Dauerdiskussion "traditionelle Inzenierungen versus Regietheater" so leidenschaftlich debattieren. Kreative Auslegungen die eine Chance einer neuen Werksicht bieten ja. Eingriffe in die Substanz des Werkes, die dieses im Kern und Grundsatz verändern nein.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Eingriffe in die Substanz des Werkes, die dieses im Kern und Grundsatz verändern: nein.


    Lieber Operus,


    wie meistens, schätze ich Deine wohlüberlegte und ausgewogene Argumentation!


    Was aber sind Kern und Grundsatz des jeweiligen Werkes - darüber gehen die Meinungen doch auseinander. Sind es beim Siegfried wirklich Schmiede, Höhle, Drache und Walkürenfelsen? Oder sind Kern und Grundsatz eigentlich ganz andere Dinge?


    Ich tippe eher auf:


    - Mime: Machtwahn, Minderwertigkeitsgefühle und Debilität
    - Siegfried: die ewigen Fragen "Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?" und die Initiationsriten
    - Wotan: der endgültige Zusammenbruch seiner Macht (sein Speer wird zerschlagen)
    - Brünnhildes: Ihr Schritt von Wotans kriegerischer Tochter zur Frau


    Was sind Kern und Grundsatz des Stückes? Wer sich nur an Schmiede, Höhle, Drache und Felsen klammert, geht m. E. irre. Ich jedenfalls finde diese äußeren Requisiten viel weniger interessant als die o. g. Grundfragen des Stücks.

  • Lieber Wolfram,


    kein Widerspruch. Die Requisiten sind höchstens Zeichen eventuell Symbole. Der tiefere Kern liegt tatsächlich im philosophischen Sinn in der ideologischen Idee. Da bist Du mit Deinen Beispielen sicher nahe dran, auch wenn Generationen von Wissenschaftlern sich den Kopf zerbrechen, was denn letzt endlich der Sinn Wagnerscher-Dramen sei. Ich hörte in Bayreuth einmal einen Vortrag Wagner und seine Affinitäten zum Zen-Buddhismus. Ernsthaftes Nachdenken oder gewagte Spekulation?
    Ich will versuchen, mit einem Beispiel zu belegen, was ich meine. Wenn in einer von mir erlebten Götterdämmerung am Schluss der Ring nicht den Rheintöchtern zurückgegeben wird, sondern in überdimensionaler Größe hellstrahlend bei den Göttern in Walhall erstrahlt, dann ist Wagners Werk auf den Kopf gestellt und m. E. in unzulässiger Weise gegen den Willlen des Dichter-Komponisten verändert worden.
    Herzlichst
    Operus

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  • Wenn in einer von mir erlebten Götterdämmerung am Schluss der Ring nicht den Rheintöchtern zurückgegeben wird, sondern in überdimensionaler Größe hellstrahlend bei den Göttern in Walhall erstrahlt, dann ist Wagners Werk auf den Kopf gestellt und m. E. in unzulässiger Weise gegen den Willlen des Dichter-Komponisten verändert worden.


    Lieber Operus,


    volle Zustimmung beim ersten Lesen! Beim zweiten Lesen überlege ich, ob das Rheingold nicht eventuell in einem höheren Sinne doch "zurückgekehrt" sein mag. Wotan hat es den Rheintöchtern ja zur Bewachung anvertraut, es kommt also eventuell von ihm, auch, wenn er auf den Liebesfluch aus bekannten Gründen (Walküre 2. Aufzug) verzichtete.


    Aber das ist Haarspalterei. Ich meine, ich habe verstanden, was Du meinst, und gebe Dir Recht.


    Viele Grüße
    Wolfram

  • Zitat

    Zitat von operus: Natürlich muss dem Dirigenten ein Grad an Interpretationsfreiheit zugestanden, ja sogar angeraten werden. Er ist ja kein Metronom, der ein Werk mechanisch herunternudelt, sondern, ein kreativer Künstler, der die Partitur durchdenkt, auslegt und u. U. neu deutet, zumindest sollte er dies tun. Ein solches Erlebnis hatte ich bei einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie.

    Auch das weiter von dir Gesagte ist für mich so interessant, dass ich dich bitten möchte, lieber operus, mitzuteilen, um welche Aufführung es sich handelte und wo man den Mischnitt erhält.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber William B. A,
    es handelte sich um ein Aufnahme des Heilbronner Sinfonie Orchesters unter seinem künstlerischen Leiter Prof. Peter Braschkat. Der Chor waren die Stuttgarter Choristen, ein semiprofessioneller Chor. Nur und jetzt wird schwieriger. Meinen Mitschnitt gab ich vor langem dem Chordirigenten, der Kopien für seine Sänger machen wollte. Danke, durch Deine Nachfrage fiel mir ein, dass ich diesen noch nicht zurück bekommen habe. Wenn ich ihn wieder ausgraben kann, bekommst Du gerne eine Aufnahme des Live-Mitschnitts, trotz aller technischen Unzulänglichkeiten, die eine solche Aufnahme natürgemäß hat.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Zitat

    Würde für Regisseure dann dasselbe gelten wie für Dirigenten?


    Darauf habe ich ja gewartet - und die Antwort ist : Ja


    Aber: Zu früh gefreut - Das was man nun von Seite der Regietheaterbefürworter hineininterpretieren will, das würde ich nicht akzeptieren. Daher meine Definition.


    Selbstverständlich gab es immer wieder unterschiedliche Auslegungen von Partituren und auch von Operninhalten, ob nun einer als "potentieller Bösewicht" oder als "durch die Umstände seines Lebens " "böse geworden" ist.
    Aber essentielle Dinge, wie Zeit und Gesellschaftsschicht, Land, etc halte ich für sacrosanct.


    Ähnlich verhält es sich bei sinfonischen Werken und Instrumentalkonzerten. Man darf selbstverständlich ein wenig vom kapellmeisterlichen Weg abweichen - muß aber damit rechnen, daß das Publikum einem die Gefolgschaft verweigert.
    Karajan als Beispiel (ich möchte hier ausnahmsweise nicht in einen Regietheaterthread hinübergleiten - so interessant das auch wäre) hat den Weg der "polierten Eleganz" gewählt - und ist gut damit gefahren - wenngleich aus heutiger Sicht nicht alle Werke diese Lesart vertrugen. Ich würde hier beispielsweise Karajans "Sinfonie fantastique" nenne - wobei man nicht genau sagen kann ob die meiner Meinung nach eingeschränkte Dynamik auf Karajan oder die Tontechnik zurückzuführen sei.
    Ich fand auch DS Nr 10 als zu zahm - vor allem wenn man die DS Aufnahmen von Mrawinsky im Ohr hat.
    Karajans Mozart - verglichen mit Böhm - war eigenartig unbeteiligt - aber ich könnte nicht wirklich sagen was mich an ihnen störte. Sie waren jedenfalls besser als jene von Solti.
    Klemperer ist einen völlig anderen Weg gegangen. Legge war entsetzt als er die Ergebnisse der ersten Proben hörte. Er machte Klemperer auf die seiner Meinung nach zu breiten Tempi aufmerksam. "Sie werden sich schon noch daran gewöhnen", war Klemperers lakonische Antwort... - Er sollte recht behalten.


    Schwierig wird es, wenn ein Dirigent "gegen das Publikum " dirigiert.
    Das werden dann jene "verkannten" Aufnahmen, die schon zu Lebzeiten des betreffenden Maestro keiner hören wollte - und die man uns 30 Jahre später als "revolutionär" verkaufen will (Vielleicht waren sie das sogar wirklich)


    Aber eines Hatten viele Dirigenten der Vergangenheit gemeinsam- so unterschiedlich sie auch ansonsten waren: Sie waren der Meinung, daß Komponisten oft "problematische Stellen" in ihren Werken unkorrigiert stehen hatten lassen - vermutlich aus partiellem Unvermögen - und daß sie - die Dirigenten geradezu verpflichtet wären, diese Stellen zu retouchieren.
    Beecham, Klemperer, Mahler, Weingartner und natürlich auch Karajan , bogen die Werke mundgerecht zurecht...


    Der Erfolg gab ihnen (zumeist) recht - aber eine "Korrektur" - so man derlei überhaupt akzeptiert (viele tun das prinzipiell nicht !!) -ist in der Regel nur für jene Zeit anhörbar für die sie gemacht wurde. Schon die nächste Degeneration (SCNR) findet sie schrecklich und verwirft sie (von Ausnahmen mal abgesehen)


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sie waren jedenfalls besser als jene von Solti.

    Ich hoffe, es geht hier nur um Mozarts Instrumentalmusik. Soweit es sich um seine Opern handelt, egal ob live oder auf CD, möchte ich energisch widersprechen.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Alfred,


    Aber essentielle Dinge, wie Zeit und Gesellschaftsschicht, Land, etc halte ich für sacrosanct.


    diese Dinge halte ich für sekundär. Der Maskenball wurde von Komponist und Librettist auch nachträglich von Schweden nach Boston verschoben. - Die eigentlichen Konflikte und Themen einer Oper sind manchmal doch recht unabhängig von Zeit, Ort und Gesellschaftsschicht. Ob es nun Cosi fan tutte, Troubadour oder Walküre sind - sie funktionieren auch ohne den buchstäblichen Kontext der Partitur. Ein Figaro, ein Barbiere brauchen einen gewissen gesellschaftlichen Kontext, ebenso eine Aida, eine Salome, ein Rosenkavalier. Das muss vielleicht aber nicht unbedingt der originale Kontext sein.


    Aber eines Hatten viele Dirigenten der Vergangenheit gemeinsam- so unterschiedlich sie auch ansonsten waren: Sie waren der Meinung, daß Komponisten oft "problematische Stellen" in ihren Werken unkorrigiert stehen hatten lassen - vermutlich aus partiellem Unvermögen - und daß sie - die Dirigenten geradezu verpflichtet wären, diese Stellen zu retouchieren.
    Beecham, Klemperer, Mahler, Weingartner und natürlich auch Karajan , bogen die Werke mundgerecht zurecht...


    Bei Mahler und Weingartner weiß ich das. Bei Beecham - hm, der machte das nur bei Händel, nicht wahr? Bei Klemperer fällt mir nichts ein, dito Karajan - jedenfalls keine Retuschen an den Noten, höchstens an Aufführungsvorschriften wie Dynamik, Akzente usw. Szell hat in Schumanns Sinfonien an der Instrumentation retuschiert, und zwar für die berühmte CBS-Aufnahme.


    Mahler hat übrigens nicht aus Willkür oder um einer mundgerechten Zurechtbiegung willen retuschiert. Er hat sorgsam argumentiert, warum er zu diesem letzten Mittel griff. Zum einen, weil Blechbläser zur Zeit der Komposition noch nicht die volle chromatische Skala rein spielen konnten und darum die Komponisten häufig zu Kompromissen gezwungen waren - die man heute lösen könnte. Oder weil die Raumakustik bei Beethoven eben eine andere war als diejenige heute im Musikverein. Darum hat er Korrekturen am Notentext vorgenommen. Aber nicht, um seine Ideen über das Werk zu stellen, sondern um das Werk (bzw. die Ideen darin) besser darstellen zu können. - Das ist schon ein Unterschied zu Willkür und "mundgerechter Präsentation".


    Zu früh gefreut - Das was man nun von Seite der Regietheaterbefürworter hineininterpretieren will, das würde ich nicht akzeptieren.


    Das habe ich so auch nicht erwartet! Ich wollte nur gleiches Recht für alle. - Den Stempel "Regietheaterbefürworter" finde ich auch zu pauschal. Es gibt kranke Inszenierungen im sogenannten Regietheater und es gibt unglaublich fantasieloses und langweiliges im konventionellen Umfeld. Und es gibt Gutes in beiden Lagern.

  • Lieber Wolfram,
    Beecham machte dies nicht nur bei Händel. Bei seiner legendären Gesamtaufnahme der "Entführung aus dem Serail" 1956 in London änderte er den Ablauf der Oper durch Umstellung von Arien. Trotz dieser Eingriffe, die oft angekreidet wurden, gelang eine fabelhaft geschlossene Interpretation. Für mich boten Leopold Simoneau als Belmonte, Gerhard Unger als Pedrillo und Gottlob Frick, m. E. sein bester Osmin auf Tonträgern, herausragende, maßstabsetzende, ja unerreichte Leistungen. Die Superlative seien hier bitte einmal erlaubt und verziehen, da sie zutreffen. :jubel:
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Nach einem kurzen aber unvermeidlichen Abstecher zum Thema Regietheater ;) Seid Ihr wieder am Ball.


    Vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir zunächst ein paar Tage lang in der Vergangenheit verweilen.
    Abweichungen von der Partitur und Aufführungsmodernismen waren auch in der Vergangenheit nicht unbedingt ein Tabu - Werktreue ist ein Begriff der erst später wieder aktuell - und auch oft mißbraucht - wurde.


    Es ist nun keine Kunst willkürlich Aufnahmen zu benennen, welche nach persönlicher Ansicht eine Partiturverletzung darstellten - oder aber eher noch - dem Geist des Werkes - oder das was wir uns darunter vorstellen - widersprachen.


    Daher sollen hier vorzugsweise solche Aufnahmen der vergangenen 80 Jahre nominiert werden, welche heute nach allgemeiner Ansicht eher verfälschend waren - DIE ABER DENNOCH - oder aber GERADE DESHALB - Berühmtheit erlangten.


    Sozusagen Aushängeschilder mit dem Motto "Kampf der Werktreue"
    Diese Interpretationen entstanden ja in der Regel nicht - um das Publikum zu verschrecken - sondern man wollte der eigenen Emotionalität im Umgang mit dem Werk freien Lauf lassen.


    Es gab aber auch Fälle -und sie waren gar nicht mal so selten - wo ein Dirigent Partituren "verbesserte" in der Meinung, der Komponist habe hier versagt - oder zumindest nicht die optimale Lösung gefunden....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich halte es für falsch davon auszugehen, dass die meisten Eingriffe in den Notentext aus geschmäcklerischen Gründen vorgenommen werden.


    Viele Musikfreunde sind sich kaum bewusst, dass bei sehr vielen (bis vor 30 Jahren vermutlich fast allen) Interpretationen der Beethoven-Sinfonien die Instrumentationsretuschen von Weingartner und anderen verwendet werden. Diese sind aber, verglichen mit Stokowskis oder Mahlers Bach-Bearbeitungen oder gewissen Bearbeitungen des Messiah, sehr behutsam und durchaus nicht unbegründet. (Auch über Stokowski u.a. könnte man differenzierter diskutieren, man muss immer bedenken, dass die Alternative seinerzeit oft gewesen wäre, das Stück überhaupt nicht aufzuführen!)
    So ging Weingartner in etlichen Fällen davon aus, dass Beethovens Instrumentation ein Kompromiss aufgrund der seinerzeitigen Möglichkeiten (Naturtrompeten und -hörner) gewesen sei, in anderen sind Balancen mit modernen (d.h. ab spätem 19. Jhd.), stark besetzten Orchestern schwierig zu machen. Das am leichtesten hörbare Beispiel für den ersten Fall ist das 2. Thema in der Reprise des Kopfsatzes der 5. von Beethoven. Wie schon in einem anderen thread ausführlicher diskutiert, übernehmen hier die Fagotte das Motiv, das in der Durchführung als Hornfanfare gespielt wurde. Die meisten vor-HIP-Aufnahmen lassen hier stattdessen ebenfalls die Hörner spielen (oder sowohl Hörner als auch Fagotte, so meiner Erinnerung nach Toscanini und E. Kleiber, eine der ersten prominenten Aufnahmen, die der Partitur folgt, ist C. Kleibers).
    Als Bsp. für den zweiten Fall gibt es z.B. eine Verstärkung der Holzbläser durch Hörner bei einem "hüpfenden" Motiv im Scherzo von Beethovens 9., weil hier die Gefahr besteht, dass die Passage der Bläser bei moderner Streicherbesetzung ganz zugedeckt wird. Sicher gibt es dutzende von kleineren, weniger auffallenden Retuschen in Tutti-Stellen.


    Man sollte jedenfalls hier, ebenso wie bei den aus heutiger Sicht mitunter grotesken Tempoverzerrungen bei Interpreten wie Furtwängler, erst einmal davon ausgehen, dass diese Musiker meinten, so dem "Geist" der Musik näher zu kommen als bei buchstäblicher Befolgung des Notentexts. Dass der "Geist" bzw. die Klang- und Interpretationsideale etwa bei Furtwängler eher einer Wagnerschen Romantik als Beethovens aufklärerischem Feuergeist entsprechen, ist ein ganz anderer Punkt.


    Wenn auch weniger offensichtlich, gilt ähnliches für manche Karajansche Klangsoße, bei der sforzati kaum mehr erkennbar sind, Attacken unhörbar bleiben sollen (schlimm in einigen seiner Aufnahmen beim 2. Satz der 7. Beethoven; der durchaus simple Schreit-Rhythmus ist kaum erkennbar, weil alles so legato wie möglich gespielt wird) und mehr auf Verschmelzung und Wohlklang als auf Deutlichkeit, Kontrast und Transparenz geachtet wird (Ich behaupte NB nicht, dass alle Karajan-Interpretationen durch diese Merkmale gekennzeichnet sind, ganz und gar nicht.) Wieder scheint ein Klangideal, dass vielleicht auf Spätromantik wie Strauss passt, bei Beethoven (oder Haydn und Mozart) fehl am Platze.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wieder scheint ein Klangideal, dass vielleicht auf Spätromantik wie Strauss passt, bei Beethoven (oder Haydn und Mozart) fehl am Platze.


    Eben.


    Behutsamkeit ist doch gefragt. Immer und überall wird die Einzigartigkeit Beethoven`s Symphonik gerühmt. Wie kann ich sie denn erkennen, wenn wichtige Details in dem vom Dirigenten bevorzugten Klangideal untergehen?


    ich habe in Münster einen unseeligen Abend erlebt. Da wurden Stücke verschiedener Komponisten aufgeführt, zum Schluss Beethoven`s Neunte, kastriert, ohne den ersten Satz !!!, aber dafür wurde man mit dem Auftreten des Chores vor dem Vokalsatz belohnt, das mindestens fünf Minuten dauerte und in einem Brüllorkan desselbigen gipfelte.Ohne Nuancen, die unterschiedlichen, sehr sensiblen Feinheiten wurden dem Schreigesang des Chores geopfert.


    Als dann im Anschluss noch der Musikdirektor verabschiedet wurde bin ich gegangen. Auch meine Sitznachbarn standen auf, auch sie waren sichtbar über dieses Spektakel verärgert.


    Das hatte nichts mit Beethoven zu tun, der Mißbrauch dieser Neunten als "akkustischen" Höhepunkt einer Huldigung eines Musikfunktionärs.


    Zuhause habe ich mir dann Karajan`s Aufnahme der Neunten angehört, das blaue Cover mit der schwarzen Neun der deutschen Grammophon, und siehe da, auch der Chor brüllte.


    Konnte ich kleiner Depp noch die Aufführung in Münster anzweifeln? Erst die Anschaffung anderer Aufnahmen öffnete mir die Augen, das man auch den Chor mit Gefühl einsetzen kann und Details hört, die sonst totgeschrien wurden.


    Mein Fazit lautet: Erstmal bin ich skeptisch, wenn ein Klangideal gefeiert wird. Ist es nicht gerade dann auf den Publikumsgeschmack abgestellt? Und wie weit entfernt sich die Interpretation vom Ursprung, verkürzt, verschluckt, wird untergeordnet?


    Viele Grüße Thomas