Schostakowitsch: 2. Sinfonie H-Dur op. 14 "An den Oktober" für gemischten Chor und Orchester (1927)

  • Schostakowitschs Zweite Symphonie "An den Oktober" entstand zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Das Werk ist einsätzig und mündet in einen Chor auf Worte von Alexander Bezimenskij (ein Pseudonym? - übersetzt würde der Nachname "der Namenlose" bedeuten; russische Dichter liebten es, sich Pseudonyme zuzulegen, siehe auch Gorkij - der Bittere). Bezimenskijs Verse preisen die Errungenschaften des Kommunismus nebst der Sowjetunion und ihren wundervollen Menschen.
    Und welche Musik würde man zu einem solchen Anlaß und einem solchen Text erwarten?
    Einen Moment Geduld...!


    Was wir heute gemeinhin unter der Kultur der Sowjetunion verstehen, ist die von Stalin verordnete Primitivkultur, die ihre übelriechende Hochblüte in den Machwerken Tichon Chrennikows findet.
    In der jungen Sowjetunion war die erwünschte Kultur jedoch primär antibürgerlich. Überlegung: Was den Bürger abstößt, muß zwangsläufig die Kultur des Antibürgerlichen sein.
    Damit ist die Ästhetik der jungen Sowjetkunst sehr nahe dran an der mitteleuropäischen Avantgarde. Erst um 1935 verlieh Stalin der Sowjetkunst eine neue Richtung: Heroismus, Erbaulichkeit, Optimismus.


    Mit Schostakowitschs Zweiter Symphonie sind wir aber erst im Jahr 1927 - und der 21-jährige Komponist begeistert sich für den Expressionismus und den Neoklassizismus. Es ist die Zeit, in der er auch die Oper "Die Nase" komponiert, und zwar in einem scharf dissonanten, praktisch atonalen Idiom.
    Das ist auch die Sprache der Zweiten Symphonie: Das Werk ist ein Höhepunkt des sowjetischen Futurismus. Der Klang ist brutal dissonant, die Rhythmik exzessiv. Die Themen bestehen aus wenigen Tönen, die immer wieder den "tonalen" Zielton verfehlen. Auch das Chorfinale entbehrt des hymnischen Anstrichs. Eher ist es ein stilisiertes Abbild einer Menschenmenge, die die Vorteile des Kommunismus in wilder Begeisterung herausbrüllt. Nicht die musikalische Ordnung dominiert, sondern die Inszenierung einer chaotischen jubelnden, johlenden, kreischenden, durcheinander sprechenden Menschenmenge.


    Schostakowitsch verleugnete später das Werk - ich bin aber der Überzeugung, daß das nichts mit dem Thema zu tun hatte (er hätte sonst auch das "Lied der Wälder" verleugnen müssen), sondern mit dem in der neuen Sowjetästhetik geradezu verbrecherischen ästhetischen Ansatz.


    Schostakowitschs Zweite Symphonie ist das sehr wilde Werk eines sehr wilden jungen Mannes.


    Viele Aufnahmen des Werkes gibt es naturgemäß nicht, es wird meistens
    im Rahmen einer Symphonien-Gesamtaufnahme als unwillkommene Pflichtübung eingespielt (völlig indiskutabel: Haitink). Und wenn dann einmal ein Dirigent doch darüber hinaus etwas zum Werk sagen will, macht das Orchester nicht so recht mit und bleibt in der Bläserattacke einiges schuldig (Barschai, Kitaenko).
    Wie immer, so ist auch hier Kyrill Kondraschin eine ausgezeichnete Wahl. Aber es geht in diesem Fall noch besser: Gennadij Roschdestwenskij hat für das Werk ein großes Faible. Und das merkt man seiner Einspielung mit dem Orchester des Kulturministeriums der UdSSR auch an: Exzessiv, aggressiv, mit ungeheurer fast gewalttätiger Energie aufgeladen, dokumentiert seine Einspielung den einzigartigen Feueratem des jungen Schostakowitsch.
    Problem: Sowohl Kondraschin als auch Roschdestwenskij sind nur als extrem hochpreisige Gesamtausgaben über Internet-Versand zu bekommen.
    (Ich empfehle dennoch jedem, der sich einen wirklich guten Schostakowitsch-Zyklus zulegen will, sich Kondraschin zu leisten oder, wenn man eher von den Werken richtiggehend niedergeprügelt werden will, Roschdestwenskij. Die derzeit erhältlichen West-Aufnahmen kommen da, meistens orchesterbedingt, einfach nicht mit.)

    Dennoch gibt es auch eine verhältnismäßig erschwingliche Aufnahme, die sehr gut ist: Mariss Jansons dirigiert das Werk detailfreudig, aber man spürt doch die ungestüme Bewegung, den Sog, den diese Musik entwickelt. Eine exzellente Aufnahme, in das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch die nötige Schärfe beisteuert, wenngleich man merkt, dass diese Symphonie nicht zum Kernrepertoire des Orchesters gehört.

    ...

  • Guten Morgen:mein Vorredner hat recht: Dieses Werk ist am wirkungsvollsten, wenn so richtig "Attacke" geritten werden kann und dieses vollbringen für mcih am überzeugendsten Kondraschin und noch explosiver Roschdestwenski...Die Kondraschin-Aufnahmen mit dem Moskauer Philharmonischen Orchester gab es vor Jahren auch als Einzel-CDs über BMG vertrieben. Hier in Berlin findet man diese Scheiben hin und wieder noch auf Flohmärkten. Von da hatte ich auch meine CD der 2ten, hier gekoppelt mit Sinf. 14 unter Kondraschin.
    Zum Werk selber: Also mit Genuss kann ich es nicht hören, mit Interesse schon. Ich halte es für ein wichtiges (und kennenswürdiges) Werk jener kurzen
    "futuristischen" Tauwetter-Periode; es ist ein tönendes Zeugnis zu den Gedichten Wladimir Majakowskis und den Bildern eines Malewitsch und für Schostakowitsch selber ein wichtiger Schritt auf seine 4. Sinfonie zu, deren eruptive Ausbrüche ohne die "Vorarbeit" in der 2ten undenkbar sind.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo Edwin,


    wieder ein TOP-Beitrag zu Schostakowitsch Sinfonie Nr.2.


    Was Du zu den Aufnahmen der Sinfonie schreibst trifft den Nagel auf den Kopf.


    Die Sinfonie Nr.2 (und 3) gehören zu den Werken, die ich von Schostakowitsch nicht so oft höre. Vitali Klitschko würde wie in der Werbung sagen : "Schwäääre Kost" :D.
    Als ich dann später, nach Kondraschin auf LP, die Roshdestwensky - Aufnahme der Sinfonie Nr.2 auf CD erwarb, hat mir diese Musik wirklich "die Socken ausgezogen".

    Schade das diese Eurodisc-CD´s die ich von allen Sinfonien als Einzel-CD´s gekauft habe nur schwer zu haben sind - und dann richtig teuer - 18,-€ pro CD - damals hatte ich noch unter 10,-DM pro CD bezahlt - das sind ja aus jeutiger Sicht richtige Schätze !



    Hier die Abb einer CD, aus der Eurodisc-Melodia-Serie der Roshdestwensky-Aufnahmen von 1988 DDD, die ich bei amazon noch finden konnte.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo,


    aus genau der von teleton abgebildeten Serie habe auch ich meine DSCH-Orchesteraufnahmen (Roshdestwenskij).


    Die zweite Sinfonie von DSCH weiß ich leider überhaupt nicht zu schätzen. Sie besteht für mich aus 5 oder 6 Teilen, die gefühlsmäßig nicht zwanghaft zusammengehören. Die Teile für sich sind teilweise schön. So mag ich am Anfang die Bassbewegung bei langgezogenen Melodielinien der hohen Instrumente, auch die Art des Chorgesanges ist was für mich; allerdings nicht mehr den ekzessiv ausgeprägt heroischen Ton. Ich mag generell nicht dieses "seht her" in der Kunst. Interessant finde ich auch, das wird DSCH in späteren Werken noch häufig und ausgedehnter anwenden, die Sprünge und pizzicati von hohen Streichern und Oboe gegeneinander u.s.w. Aber für mich sind das nur einzelne, unterschiedliche Teile, die zusammen keinen Fluss ergeben; ich empfinde nichts, was das Stück zusammenhält.


    Wie Big Berlin Bear habe ich den Eindruck, dass sich der noch junge Komponist ausgetobt und vieles ausprobiert. Das ist ja auch gut so, wie wir in einigen späteren Orchesterwerken bestaunen können.


    Der Orchesterklang ist klasse, und das von Edwin erwähnte "Niederprügeln" ist auch meiner Phantasie nach die einzig richtige Weise, wie die Zweite angepackt werden muss.


    Sehr schön finde ich, dass die Werke Schostakowitschs hier in diesem Forum zunehmend mehr an die Oberfläche kommen.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Plangemäß habe ich heute die 2. Sinfonie von Schostakowitsch gehört. Über Entstehung und Umfeld hat Edwin Baumgartner in seinem damaligen Eröffnungsbeitrag alles nötige geschrieben. Allerdings kann ich neun Jahre nach Threadbeginn doch ein Detail korrigieren: Herrn Baumgartners Vermutung, es könne sich beim Textautor des Schlisschores, A. I. Besymenski um ein Pseudonym handeln, ist nicht zutreffend - in der Zwischenzeit gibt es einen WIKIPEDIA-Artikel über ihn.
    Alexander Iljitsch Besymenski 1898-1973) war ein russischer Dichter, der schon in seiner Jugend politisch aktiv war.


    Die Sinfonie wirde heut aus verschiedene Gründen kaum gespielt, zum einen wegen ihrer Kürze, zum anderen wird sie (zu Recht) als politisches Propagandawerk gesehen. Mit letzterem habe ich keine Probleme, weil ich der Meinung bin, daß Aussagen von Musik, so es überhaupt welche gibt, nur über einen gewissen Zeitraum Gültigkeit haben. Schostakowitsch hat den Auftrag bestens erfüllt und ein Werk geschaffen, wie es verlangt war. Unter diesen Rahmenbedingungen ist ein interessantes, sehr dynamisches Werk entstanden, mit interessanten Effekten zwischen den Attacken, ich erwähne lediglich den fast unhörbaren dunklen oder das Violinsole etwa bei Minute 6. Die Kondraschin-Aufnahme war zum Zeitpunkt meines Kaufes bei jpc nicht mehr im Programm - und so habe ich mich für Barschai entschieden.
    Mir persönlich ist sie "exzessiv und agressiv" genug.


    Politische Auftrags- oder Propagandmusik geniesst heute in der Regel keinen guten Ruf. Indes darf diese Musik ja keineswegs "schlecht" sein, denn sie soll ja von einer gewissen politischen Richtung überzeugen. So hat sie ein "Programm" und muß "gefallen", was bei "freien" Komponisten des 20. Jahrhunderts ja oft nicht gegeben ist. Sie wollen sich selbst verwirklichen, ohne Rücksicht auf Auftraggeber und Hörer......
    Die 2.Sinfonie sollte die Oktoberrevoution verherrlichen und mit einem optimistisch - heroischen Schlussgesang enden. Dieses Ziel wurde erreicht. Im Westen wurde dies verurteilt, da hat man sowas ja nicht gemacht, sondern (später) einfach Beethovens Musik annektiert und zur "Europahymne" umfunktioniert, bzw mißbraucht....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Im Rahme der !aufenden "Aufarbeitung" meine bislang ungehörten CDs kam heute die Sinfonie Nr 2 "An den Oktober" von D.S. in der Naxos Einspielung unter Vasily Petrenko an die Reihe.
    Ich habe seinerzeit in Beitrag Nr 5 nicht geschrieben, welche Aufnahme ich damals gehört habe. Aber mit Sicherheit war es eine der "etablierten", und nicht diese mit einem "nicht russischen Orchester und ebensolchem Chor.
    Indes - beide machen ihre Sache vorzüglich. Die Dynamik der CD ist atemberaugebend. Das Werk beginnt derart leise, daß ich zuerst an einen Totalausfall meines 45 Jahre alten Verstärkers dachte (der klanglich bislang von keinem geschlagen werden konnte)
    Als ich dann die Lautstärke nachreguliert war die Welt wieder in Ordnung. Plötzlich brach sich eine ohrenbetäubende Klangattacke die Bahn, mit geradezu ultragrellem Schlagzeug und abgrundtiefen und zugleich voluminösen Bässen. Eigentlich eine Aufnahme für Teleton gemacht.
    Der Chor sang mit hörbarer Begeisterung. Vasiky Petrenko hat hier IMO eine sehr beeindruckende Aufnahme abgeliefert.


    Und Schostakowitch, der sich später vom Werk distanziert hat - und als "Regimegegener" bezeichnet hat - straft sich mit diesem Werk auf ewige Zeiten der Lüge,
    zu sehr ist die Besgeisterung des damals jungen Mannes zu hören und - durch den Bass - beinahe zu spüren.


    Das hat allerdings für mich keine Relevanz.
    DAs Werk bleibt in jedem Fall das Gleiche
    Man bestätigt ihm heute einen Mangel an Schönheit - daß es eindrucksvoll ist, wir indes kaum zu bestreiten sein


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Schostakowitsch hat den Auftrag bestens erfüllt und ein Werk geschaffen, wie es verlangt war.

    Zitat von Alfred Schmidt

    Schostakowitch, der sich später vom Werk distanziert hat - und als "Regimegegener" bezeichnet hat - straft sich mit diesem Werk auf ewige Zeiten der Lüge, zu sehr ist die Besgeisterung des damals jungen Mannes zu hören und - durch den Bass - beinahe zu spüren.


    Der zweite Satz steht eigentlich im Widerspruch zum ersten. Schostakowitschs Todfeind war Stalin, unter ihm hat er sehr gelitten, das ist ja hinreichend dokumentiert. Schostakowitsch geriet zweimal in Verdammnis (1936 und 1948) und war am Rande der moralischen Vernichtung. Sein Gesamtwerk ist systembedingt widersprüchlich, um seine künstlerische Freiheit einigermaßen zu erhalten, hat er immer wieder mal systemtreue Werke geschrieben, daneben stehen aber auch zahlreiche Kompositionen, in denen er sein wahres Seelenleben offenbarte. Im übrigen war 1927 vom späteren Stalinschen Terrorregime noch wenig zu erahnen. Wer das alles immer noch nicht begreift, dem empfehle ich zum weiteren Verständnis das Buch von Krzystof Meyer.
    Von Vasily Petrenko kenne ich einige Schostakowitsch-Aufnahmen, diese noch nicht, aber ich denke, sie ist sicher gut gemacht.
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP


  • Auf ein besonderes Detail der 2. Sinfonie möchte ich noch hinweisen. Gleich nach dem krachenden Auftakt des Chorsatzes lässt Schostakowitsch eine Fabriksirene ertönen. Nicht sehr laut, aber unverkennbar. Fast ängstlich wirkt auf mich ihr Ruf. Gar nicht heulend. Sie ist auch nach gut fünf Minuten wieder zu hören, nun schon deutlicher. Ich kenne nur die bereits im Eröffnungsbeitrag von Edwin erwähnte Aufnahme unter Jansons, in der sie zum Einsatz kommt. Deshalb habe ich sie mir auch zugelegt, wenngleich mir dieser Dirigent mit Schostakowitsch nicht so liegt. Kennt jemand noch andere Einspielungen mit der Sirene, die meist durch Blech ersetzt wird.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Auf ein besonderes Detail der 2. Sinfonie möchte ich noch hinweisen. Gleich nach dem krachenden Auftakt des Chorsatzes lässt Schostakowitsch eine Fabriksirene ertönen. Nicht sehr laut, aber unverkennbar. Fast ängstlich wirkt auf mich ihr Ruf. Gar nicht heulend. Sie ist auch nach gut fünf Minuten wieder zu hören, nun schon deutlicher. Ich kenne nur die bereits im Eröffnungsbeitrag von Edwin erwähnte Aufnahme unter Jansons, in der sie zum Einsatz kommt. Deshalb habe ich sie mir auch zugelegt, wenngleich mir dieser Dirigent mit Schostakowitsch nicht so liegt. Kennt jemand noch andere Einspielungen mit der Sirene, die meist durch Blech ersetzt wird.


    Lieber Rheingold,


    soweit ich weis ist tatsächlich nur die Jansons-Aufnahme mit der Fabriksirene ausgestattet.
    Da ich, genau wie Du weniger von den Jansons-Schostakowitsch-Aufnahmen begeistert bin (die 4t ist gut! ), wird es dabei bleiben auf den autentischen Sireneneffekt zu verzichten, der den Chorteil eröffnet ... denn ich glaube die 2te habe ich mind seit 10Jahren nihct meht auf dem Hörprogramm gehabt .. und wenn dann werde ich diese nur mit Roshdestwensky (Melodiya/Eirodisc, 1988) hören, der unsagbar begeistert und das Werk zum Schmelzpunkt aufläd. Ich habe die 2te mind. 10mal in meinen GA ... aber alls nix gegen Roshdestwensky !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang