Gesucht: Sinfonik mit "bedrohlichem" Unterton (Beispiel: Nielsens Fünfte)

  • Hallo zusammen,


    da dies mein erster Betrag in diesem Forum ist, ganz kurz ein paar Daten zu mir selbst: Ich komme aus der Nähe von Hamburg, bin etwas über 40 Jahre alt und in einem technischen Beruf tätig.


    Klassische Musik höre ich seit 25 Jahren, mein Schwerpunkt liegt auf der sinfonischen Musik der Romantik, wobei ich "Romantik" nicht so eng sehe (ich höre durchaus auch mal Barockmusik, Wiener Klassik oder Musik des 20. Jahrhunderts), aber "Sinfonik" schon ein wenig - Oper ist nicht wirklich mein Ding, Kammermusik gar nicht.


    Nun aber zu meinem "Anliegen": Ich zeichne mir regelmäßig das "Nachtkonzert" der ARD auf, und auf einer der letzten Aufzeichnungen befand sich auch die fünfte Sinfonie op. 50 von Carl Nielsen (Gewandhausorchester Leipzig unter Blomstedt). Nachdem ich zuerst nicht viel mit dieser Musik habe anfangen können, hat mich dieses Werk dann ab dem zweiten Hören mehr und mehr in seinen Bann gezogen. Die Sinfonie verbreitet eine unglaublich düstere Atmosphäre, und sie tut dies nicht, wie so viele andere Werke, mit einem depressiven Unterton, sondern sie wirkt vielmehr latent "bedrohlich", wobei sie diese Stimmung nicht etwa aus (plötzlicher) Lautstärke bezieht, sondern aus ihren Themen und deren Instrumentierung.


    Davon hätte ich gern mehr! Ich habe hin und her überlegt, welche Stücke, die ich kenne, noch in diese Richtung gehen, aber außer der "Unvollendeten" von Schubert, den Sinfonischen Tänzen von Rachmaninoff und "Mars" aus den Planeten von Holst ist mir nicht viel eingefallen. Vielleicht noch "Eine Nacht auf dem Kahlen Berge" von Mussorgski, aber das geht mir schon zu sehr in die Richtung "Bedrohlichkeit durch Krach" - mich fasziniert aber an der Fünften von Nielsen gerade die Subtilität der Mittel, mit denen diese Sinfonie bei mir eine Gänsehaut erzeugt. Vielleich hilft folgender Vergleich: Ich suche nicht "Star Wars" oder "Independence Day", sondern eher "The Fog" oder "Rosemary's Baby". Bedrohung also im Sinne von "beklemmend", nicht im Sinne von "aufschreckend".


    Ach ja, komplett schräg (=atonal) sollte das Ganze auch nicht sein, Musik völlig ohne tonalen Bezug ist nicht mein Fall.


    Empfohlen wurden mir in diesem Sinne u. a. bislang


    Schostakowitsch (Sinfonien 5, 7, 8, 10, 11)
    Martinu (Sinfonie 6)
    Walton (Sinfonie 1)
    Vaughan Williams (Sinfonie 4)
    Sibelius (Sinfonie 4)
    Prokofiew (Klavierkonzert 2, Sinfonien 3, 6)
    Mahler (Sinfonien 2, 9)
    Hartmann (Sinfonie 1)
    Karlowicz (Ewige Lieder; sinf. Dichtung op. 10)
    Miaskowsky (Sinfonien 3, 6)
    Lili Boulanger (Psalmen)
    Steinberg (Sinfonie 2)
    Revueltas (Sensemaya)
    Ljatoschynskyj (Sinfonien 2-4)


    Das ist schon mal eine ordentliche Liste, aber trotzdem wäre ich für weitere Empfehlungen für "bedrohlich" daherkommende sinfonische Werke (Sinfonie, sinf. Dichtung, Rhapsodie, Instrumentalkonzert etc.) sehr dankbar. Vielleicht kennt auch jemand eines der obengenannten Werke und kann bestätigen oder dementieren, daß es in die von mir gesuchte Kategorie hineinpaßt.


    Gruß aus dem Norden und vielen Dank -


    Ralf

  • Hallo,


    als Ebenfalls-Neuling (und Ex-Hamburger, grüß mir mein Hamburch!) kann ich Dir da allerwärmstens die Sinfonische Dichtung "Die Waldtaube" (Originaltitel "Holoubek", so viel ich weiß) von Antonìn Dvorák empfehlen - es beschreibt - ja, hier, das habe ich als kurze proghrammatische Beschreibung im Internet dazu gefunden:


    "Die Waldtaube gurrt. Leise, sachte singt sie der Gattenmörderin ins Gewissen. Sie sitzt über dem Grab im Garten, in dem die Frau mit ihrem neuen Geliebten Hochzeit feiert. Eindringlich weckt der Vogel Schuldgefühle, die unerträglich werden und die Frau in den Wahnsinn treiben."


    In Musik gesetzte Psychologie pur! Ein Krimi! Wenn Du eine wirklich gute Interpretation davon erwischst, :untertauch: treibt es Dir die Haare durch den Hut. Ich denke, das ist genau das, was Du suchst. Außerden würde ich Dir nich das 1. Violinkonzert von Sergej Prokofjev empfehlen. Das geht m. E. in die gleiche Richtung, ein bisschen Anders vielleicht noch "Tod und Verklärung" sowie die Alpensinfonie (beides nur stellenweise) von Richard Strauss sowie das Klavierkonzert Nr. 24 KV 491 (Finalsatz) von Mozart.


    Schreib mir gelegentlich mal von Deinen Erfahrungem ich finde, das ist ein sehr interessantes Thema! Wenn mir noch was Einfällt, poste ich's Dir.


    Liebe Grüße

    Jeanquirit


    Unterhaltungsmusik ist, wenn man sich dabei unterhalten kann.
    Hanns Eisler

  • Hallo Ralf,


    die von Dir gennanten Werke kenne ich (außer Boulanger und Ljasch...).
    Ok, da gibt es bedrohliche Stellen.
    :D Ich werde vor lauter Berohlichkeit aber nicht unter dem Tisch verschwinden.


    ?( Aber was findest Du bei Revueltas - Sensemaya bedrohlich ???
    Das ist doch ein schönes, energisches und zugleich rhythmisches Werk der Extraklasse. Musik, die IMO richtigen Hörspaß macht.
    Unter anderen südamerikanischen Werkenauf meiner damaligen CBS-CD mit Leonard Bernstein hat dieses Werk dazu geführt, mich weiter mit den lateinamerikanischen Werken auseinanderzusetzen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Ralf,


    herzlich willkommen im Taminoforum!
    Bedrohliche Untertöne gibt es natürlich spätestens ab der Romantik fast überall, aber ich denke deine Beispiele zeigen ganz gut, in welcher Richtung du suchst. Vielleicht helfen dir diese Vorschläge weiter:


    Schubert: Sinfonie 8 (Unvollendete), Klaviersonate B-Dur D 960
    Tschaikowsky: fast alles (vielleicht etwas zu laut für deine Zwecke?): Sinfonien 5-6, Francesca da Rimini, Romeo und Julia, sogar die Ballette.
    Mahler: mehr noch als die 2. würde ich die Sinfonien 6 und 7 nennen.
    Schostakowitsch: in der Aufzählung fehlt unbedingt die Sinfonie 4.


    Mein wichtigster Vorschlag wäre:
    Josef Suk, Asrael-Sinfonie (Suk hat sich hier den Schmerz über den Verlust seiner Frau und des Schwiegervaters Antonin Dvorak von der Seele geschrieben).


    Gruß,
    Khampan

  • Hallo Ralf,



    das Problem ist, was mancher als bedrohlich empfindet und der andere als primär melancholisch, muß sich nicht immer decken.


    Aber höre mal hier rein. Ich empfinde diese Sinfonie streckenweise als zutiefst bedrohlich, wenn sich diese Bedrohlichkeit auch aus einem Grundton von Schmerz, Einsamkeit und Verzweiflung entwickelt.
    Darüberhinaus kann der Schwede Petterson eine gewisse, skandinawische Klangsignatur nicht verleugnen, was vielleicht auch ganz gut an den Sibelius anknüpft. Bewegt sich auch alles noch im tonalen Rahmen. Hör halt einfach mal rein, zudem sehr günstig zu haben.


    :hello:
    Sascha

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  • Wenn ich zwar auch nicht ganz genau weiß, was an Nielsens 5. so besonders bedrohlich ist (kennst Du seine 4. schon?) , würde ich ebenfalls eher Mahlers 6. und 7. und auch die ersten beiden Sätze der 5. nennen. Vielleicht auch einige der Lieder (Revelge) und "Das Klagende Lied".


    Außerdem Bartok: Der wunderbare Mandarin, Teile von Musik f. Saiteninstrumente usw. und die "Elegie" aus dem Konzert f. Orchester


    Und, im parallelen thread gerade diskutiert, sinfonisch mit Klavier: Prokofieffs 2. Klavierkonzert.


    Eines der unheimlichsten mir bekannten Stücke (es wird auch eine Art Horrortrip dargestellt) ist allerdings nicht tonal: Schönbergs "Erwartung"


    Die jeweils ersten Sätze von Beethovens und Bruckners 9. muß man wohl nicht extra nennen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wenn ich zwar auch nicht ganz genau weiß, was an Nielsens 5. so besonders bedrohlich ist (kennst Du seine 4. schon?) , würde ich ebenfalls eher Mahlers 6. und 7. und auch die ersten beiden Sätze der 5. nennen.


    Moin, Johannes,


    wenn ich genau wüßte, worin das Bedrohliche an Nielsens Fünfter für mich liegt, könnte ich präziser beschreiben, was ich suche ;) Ja, ich kenne inzwischen auch die Vierte von Nielsen, finde dort auch bedrohliche "Versatzstücke", aber bei weitem nicht so konzentriert und intensiv wie es sich durch die Fünfte zieht. Soweit ich weiß, ist die Vierte eine Reflexion über den Ersten Weltkrieg (mit dem programmatischen Titel "Das Unauslöschliche"), die Fünfte hat kein entsprechendes Programm; nun habe ich kürzlich eine Aussage von Simon Rattle gelesen, derzufolge die Fünfte die "eigentliche" Kriegssinfonie Nielsens sei - einen ähnlichen Eindruck hatte ich auch, nachdem ich beide Sinfonien gehört hatte, ohne bis dahin diese Aussage Rattles zu kennen.


    Die Fünfte von Mahler höre ich gern, aber sie löst nicht dieselben Empfindungen bei mir aus wie Nielsens Fünfte. Aber seine sechste und siebte Sinfonie kenne ich bisher kaum; da werde ich demnächst mal hineinhören.


    Gruß - Ralf

  • Moinmoin!


    Ich darf vielleicht noch die 7. von Ralph Vauhan-Williams anfügen.
    Die kommt wohl auch Deiner Filmmusik-Vorstellung recht nahe, da sie aus erweiterten und durchkomponierten Score-Sequenzen für den Streifen "Scott of the Antarctic" von 1947 gefügt wurde.


    Freunde Deines britischen Namensvetters fanden den Soundtrack so chillig, im wahrsten Sinne des Wortes, dass sie den Komponisten ermutigten, gleich eine ganze Symphonie daraus zu basteln.


    So trägt sie denn auch den Beinamen "Sinfonia Antartica", und etwas bedrohlicheres als die musikalische Illustration der lebensfeindlichen Welt des Ewigen Eises kenne ich kaum in der Literatur.


    Gruß vom Südpol in den Norden,



    audiamus



    .

  • Hallo, miteinander!


    mein Vorschlag erscheint mir so banal, dass ich mich wundere, warum er noch nicht genannt wurde: Strawinskys "Frühlingsweihe" --- da ist das Bedrohliche schlechthin programmatisch gemeint!


    Als nächstes würde mir auch Bartoks "Der wunderbare Mandarin" einfallen.


    Auf subtile Art unheimlich ist wohl nicht nur die vierte Schostakowitsch, die bereits genannt wurde, sondern auch die letzte, die Nummer 15, mit ihrem rätselhaften Finalsatz, in dem die musikalische Substanz gegen Ende wahrlich zum Skelett abmagert.


    Haben wir nicht bereits einen ähnlichen Thread anderweitig laufen, unter dem Titel "Grusel" oder so ähnlich?


    Besten Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Hallo Ralf,


    auch wenn Deine Vorlieben eher zu Instrumentalwerken tendieren, möchte ich den bislang genannten Vorschlägen dennoch einige Vokalkompositionen sowie ein paar Orchesterstücke mit unheimlich-bedrohlicher Atmosphäre hinzufügen:


    Béla Bartók (1881-1945):
    A Kékszakállú Herceg Vára (Herzog Blaubarts Burg) -
    Oper in 1 Akt, opus 11; Sz 48 1911


    Lili Boulanger (1893-1918):
    D' un Soir Triste
    für Orchester 1917/18
    Psaume 130 (Psalm 130) - Du Fond de l' Abîme für Alt, Tenor, gemischten Chor, Orgel und Orchester 1915-17


    Gustav Holst (1874-1934):
    The Planets -
    Suite in 7 Sätzen, opus 32; H 125 1914-17
    5. Saturn, the Bringer of Old Age - 7. Neptune, the Mystic


    Aarre Merikanto (1893-1958):
    Fantasia (Fantasie) -
    Symphonische Dichtung für Orchester 1923
    Genesis für Sopran, gemischten Chor und Orchester 1955/56


    Erwin Schulhoff (1894-1942):
    Flammen -
    Eine musikalische Tragikomödie in 2 Akten, opus 68 1927-29: I. Akt, Szene 4: Chimäre (sowie viele weitere Stellen)


    Karol Szymanowski (1882-1937):
    Symphonie Nr. 3 B-dur "Das Lied von der Nacht"
    für Tenor, gemischten Chor, Orgel und Orchester, opus 27 1914-16


    :hello:
    Johannes



    Zitat

    Original von WolfgangZ
    Haben wir nicht bereits einen ähnlichen Thread anderweitig laufen, unter dem Titel "Grusel" oder so ähnlich?


    Jawoll, haben wir:


    Schaurig schön - Musik mit dem gewissen Gruselfaktor


    Schöne Grüße
    Johannes

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